Schule des Rades
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit
I. Ursprünge und Entfaltungen
X. Mütter - Niveauunterschied
Mein Vater war als junger Mensch ein Melancholiker, von seinem eigenen Vater unverstanden, unbeholfen, schwierig, von Kind auf sehr viel krank; unerträgliche Kopfschmerzen hinderten ihn daran, seine bedeutende Historikerbegabung auszubilden. Seine Mutter verwöhnte ihn nach Art haltloser russischer Mütter grenzenlos — auch wir Großkinder profitierten von dieser ihrer Schwäche: sie erlaubte uns schlechthin alles, sogar dermaßen Unmögliches, dass es die ganze Gutswirtschaft außer Rand und Band brachte —, dank dem er mit seinem schweren Körper zeitlebens kindlich hilflos blieb und von anderen erwartete, dass sie ihm alles nächstliegend-Praktische abnahmen, was auch überall gern geschah. Mein Großvater behandelte ihn, nachdem alle anfangs gefassten Pläne für ihn fehlgeschlagen waren, und als er sah, dass er zu seiner Erfüllung unbedingt ein eigenes selbständiges Leben führen müsse, mit vorbildlicher Großzügigkeit: freiwillig trat er ihm zwei seiner drei Güter nicht allein zur Bewirtschaftung, sondern als Besitz ab, so dass er schon gegen Ende seiner Zwanzigerjahre als selbständiger Herr schalten und walten durfte. Trotzdem fühlte sich mein Vater von Jahr zu Jahr unbefriedigter, obgleich er dank seiner freundlichen Art, seiner ungewöhnlichen Gabe für Menschenbehandlung und seinem echt-Keyserlingschen milde-boshaften Witz überall beliebt war, besonders am Kneiptisch, denn er war ein gewaltiger Zecher. Er war eben nicht für die Einsamkeit und das Junggesellenleben geschaffen; was letzteres betrifft, so war er ein primitiv, eigentlich frauenhaft-reiner Mensch, nach Art der Tolstoi-Figuren Besuchow und Ljewin (worüber im Tolstoi-Kapitel mehr erzählt werden wird); nie hat er eine Frauengeschichte gehabt, die über Kurmacherei hinausging, nur einmal als Student hatte er Bismarcks Tochter Marie, die spätere Gräfin Rantzau, heiraten wollen, die jedoch seine pädagogische Art, mit ihr umzugehen, nicht aushielt und ihn vor allem darum abwies — sehr feinfühlig übrigens: sie brach plötzlich die Korrespondenz ab, bevor es zum offenbar unmittelbar bevorstehenden Antrag kam. Da begegnete er als junger Ordnungsrichter in Pernau auf dem benachbarten Gute Audern Johanna Pilar von Pilchau. Die Pilars waren einfache, gerade, sehr praktische, sehr charaktervolle, ungeistige, aber durchaus nicht unbegabte und trotz einer merkwürdigen, auch in der Seele zum Teil zum Ausdruck kommenden Häßlichkeit, sehr vornehme Menschen. Johannas Mutter Bertha Pilar war sogar eine mächtige Herrscherinnen-Natur, als Anlage der Majorin in Selma Lagerlöfs Gösta Berling
nicht unähnlich, jedoch ganz als europäische grande dame gebildet, weit gereist, von vielen bedeutenden Persönlichkeiten Europas gern gesehen; ihre Brüder — die Ungern-Sternbergs von Grossenhof — waren nicht nur Grandseigneurs im besten Sinne traditionell-europäischer Vornehmheit, sie hatten etwas ausgesprochen Genialisches; viel von diesen Ungerns lebte in allen Pilars fort, und der älteste Bruder meiner Mutter, der letzte Landmarschall von Livland, war gegen Ende seines Lebens gar ein königlicher Mann. Die Schwiegertöchter hießen meine Großmutter, die wahrhaft fürstlich das zahllose Gesinde des reichen Audern regierte, die Ahnin
, und besser konnte sie in ihrer distanzierten, alles bemerkenden und weise ordnenden Fürsorge für alle ihr Zugehörigen nicht bezeichnet werden. Johanna nun spielte daheim in gewisser Hinsicht die Rolle des Aschenbrödels — wenig, ja möglicherweise gar nicht in Wirklichkeit, desto mehr jedoch für ihr persönliches Bewusstsein; ihr aus der Art geschlagener Charakter bedingte es, dass sie leicht Missgunst und Zurücksetzung dort witterte, wo nichts dergleichen vorlag, und im stillen desto mehr, je weniger sie es zeigte, nach Machtstellung, ja nach Alleinherrschaft strebte. Wahrscheinlich bedeutete ihr Gefühl der Zurückgesetztheit überhaupt nur eine Maskierung ihres Allmachtwillens. Jedenfalls war sie zu nichts mehr bereit, als sich richtiggehend erlösen zu lassen.
Diese Bereitschaft, zusammen mit ihrer Einfachheit, ihrer schlichten Herzenswärme, problemlosen Selbstverständlichkeit und last not least immensen praktischen Begabung und unermüdlichen Tatkraft zog meinen seelisch komplizierten, unbeholfenen, trägen und über den Sinn seines Lebens unklaren Vater mächtig an. Bald heirateten sie und wurden eins der allerglücklichsten Paare des Landes. Allgemein hieß es, dass mein Vater seine Frau auf Händen trüge
und sie über alle vernünftigen Maße hinaus bewunderte. Er überließ nicht nur seinen Hausstand, sondern seinen ganzen Menschen vollkommen ihr, ließ sich als Kind betreuen und in allem beraten. Meine Mutter schenkte ihm ihrerseits ihr ganzes Herz und hatte darüber hinaus Gelegenheit, ihren wahren, ungeheuer starken und mächtigen Charakter und ihre bis zur Härte gehende Exklusivität voll auszuleben — und das war es, was sie brauchte. Sie herrschte absolut, indem sie scheinbar diente. So selbständig und selbstherrlich war sie, dass sie noch am Tage ihrer letzten, sehr schweren Niederkunft bis kurz vor dem kritischen Augenblick für alles Erforderliche, nichts vergessend, persönlich Sorge trug — mein Vater erwies sich in solchen Situationen ebenso unfähig wie Tolstois Ljewin. So ausschließlich ging sie in ihrem Manne und ihren Kindern auf, dass sie sich wie selbstverständlich gleich nach ihrer Heirat ihrer Familie entfremdete und dieser gegenüber sogar eine sehr kritische Fremde wurde, die als épouse und mère tigresse andere Menschen ausschließlich nach dem beurteilte, was sie für ihr eigenes Haus taten und sie insofern auch ausnutzte. Aus ihrem von meinem Vater immer wieder bestärkten Selbstbewusstsein heraus hielt sie allen Nachbarsfrauen pädagogische Vorträge, suchte sie, wohin sie immer kam — entgegen ihrem ursprünglichen Aschenbrödeltum — eine tonangebende Rolle zu spielen. Aber für ihren Mann und ihre Kinder tat sie unermüdlich alles, Tag und Nacht, denn ihre Tatkraft war unermeßlich, wie denn meine jüngste Schwester später von ihr sagte:
Sie tat nicht, was sie dachte, sondern sie dachte, was sie tat.
Dementsprechend war mein Vater, der ihr sein ganzes Herz geschenkt hatte und ihr blind vertraute, vollkommen glücklich, und meine Mutter glaubte es jedenfalls zu sein. Übrigens darf ich auch die letztere Einschränkung eigentlich nicht machen: meine Mutter war ein ganz primitiver Mensch, und unter Primitiven, welche in traditioneller Arbeitsteilung zusammenwirken, gibt es kaum unglückliche Ehen, weil keiner Zeit hat, über die Frage vollkommenen Glückes nachzudenken. Und beide waren voll beschäftigt. Mein Vater mit seiner Pionierarbeit als Landwirt, Viehzüchter und vor allem Forstmann — er war sein eigener Forstmeister und unterhielt zuletzt eine eigene Försterschule, auf welcher er als Hauptlehrer wirkte —, überdies zeitweilig als Mitglied der Landesverwaltung, als Richter und Präsident des estländischen landwirtschaftlichen Vereins und andauernd durch das Frönen seiner Jagdpassion. Auf Haus und Hof aber leitete und leistete meine Mutter so gut wie alles. Sie war eine ausgezeichnete Hausfrau, ein hervorragender Landarzt, vortreffliche Verwalterin, überdies in der Kunst des Bäumepflanzens und der Anlage von Parks und Gärten groß, wobei sie sogar bedeutenden ästhetischen Sinn bewies, welcher ihr sonst in einem für eine Frau ungewöhnlichen Grade fehlte. Überdies beschäftigte sie sich aufs Intensivste mit ihren Kindern, denen sie, solange sie klein waren und die Instinkte des Muttertieres sie leiten konnten, eine nahezu vollkommene Mutter war, mit ihrem Sinn für das physisch Notwendige, ihrem common sense, ihrer Ausrichtung auf das augenblicklich Erforderliche und ihrer Problemlosigkeit — welche Eigenschaften jedoch ein seltenes Verständnis für die Phantasiewelt spielender Kinder ergänzte; ihr Instinkt sagte ihr eben, wie er es den meisten so unproblematischen Engländern sagt, dass Kinder zunächst echte Kinder zu sein haben. Zwar waren die Charaktere beider Eltern für sich nicht leicht. Meiner Mutter fehlte jede Schmiegsamkeit, sie war leidenschaftlich und jähzornig mit einem Hang zur Brutalität und Roheit im Ausdruck, herrisch und eigenmächtig; aber da sie unausgesetzt zu tun hatte und die Leute ihr selbstverständlich gehorchten, so wirkten sich ihre Energien im ganzen wohltätig aus. Mein Vater war als Hausherr ein richtiger Pascha und als solcher äußerst anspruchsvoll, obgleich er ein sanfter, weicher Mensch war; er fühlte sich mit einer Selbstverständlichkeit als Herr, im Sinn des Herrschens sowohl als dem des Besitzens, wie ich es später selten irgendwo gesehen habe; auch seine Frau betrachtete er als seinen Besitz und war so eifersüchtig von Natur, dass er in unserer Kindheit einmal tagelang verstimmt war, weil meine Mutter sich intensiv jungen, schwarzen Störchen widmete, die für uns Kinder auf den Hof gebracht worden waren, und später, als sie ihre recht schöne Stimme auszubilden versuchte und einige Stunden am Tage Schubertschen und Schumannschen Liedern widmete. Aber gerade dieses Paschatum und dieses Besitzgefühl genoß meine Mutter augenscheinlich als primitive Frau. Sie war überdies selber äußerst eifersüchtig, betrachtete ihre Kinder zum Beispiel als ihren ausschließlichen Besitz, weswegen sie es ungern sah, wenn andere diese auch gern hatten, so dass ihr schon darum meines Vaters Eifersucht eher angenehm als unangenehm war. Da nun wir Kinder unsere Eltern mit normaler, selbstverständlicher Kindesliebe liebten, alle unsere vernünftigen Wünsche erfüllt wurden und das immer etwas lästige, bei uns meist recht zahlreiche Lehrkräfte-Personal bei der streng hierarchischen Ordnung unseres Hauses in unser eigentliches Familienleben nicht übergriff, so war dieses denkbar harmonisch.
Da starb mein Vater 1895 ganz unerwartet an einer Trombose, die als Folgeerscheinung einer geglückten Bruchoperation auftrat. Meine Mutter war monatelang nicht nur untröstlich, sondern buchstäblich von Sinnen. So ganz und gar hatte sie für meinen Vater gelebt, dass dessen Tod ihr die gesamte Grundlage ihrer Existenz raubte. Wohl umgaben sie die Pilars und sonstigen Verwandten mit aller nur möglichen Rücksicht, doch da sie sich von ihrer eigenen Familie innerlich ganz losgelöst hatte, so fühlte sie sich nur desto einsamer, je mehr diese sich um sie bemühte. Ich konnte ihr damals überhaupt nicht helfen, so sehr sie mich in ihr Leid mit hineinzog, denn dieses konnte ich damals nicht realisieren und wurde aus Selbsterhaltungstrieb meiner überzarten Seele desto lebensfroher, je mehr meine Mutter sich in ihren Schmerz verbohrte. Doch schon im selben Jahr — um genau zu sein, schon zwei Monate nach dem Tode meines Vaters — setzte eine Verwandlung bei ihr ein, mit der die Tragödie meines späteren Lebens anhub. Wir hatten immer russische Sommerlehrer. Seit 1893 engagierte mein Vater für mehrere Male im Jahr einen Schüler der Petersburger Malerakademie, welcher zwar einen deutschen Namen trug und seinem physischen Typus nach der finnisch-ugrischen Rasse angehörte, aber seiner Einstellung, Mentalität und seinem allgemeinen Gebaren nach vollkommener Russe war. Diesen hatte mein Vater persönlich sehr gern, weil er ihm ein guter Partner war in den endlosen prinzipiellen Gesprächen
(wie man bei uns sagte), mit welchen alle Dostojewskischen Figuren den größten Teil ihrer Zeit verbrachten, welche Gespräche für meinen Vater einem inneren Bedürfnis entsprachen, das zu befriedigen er im baltischen Milieu keine Gelegenheit fand. Andererseits schätzte mein Vater als ausgesprochener Pädagoge, der er war, jenes jungen Mannes Erzieheranlage, seine Gabe, mit Kindern und Adoleszenten umzugehen, und seine angeborene Sittenstrenge, von welcher er als ausgesprochener Moralist den besten Einfluss auf mich erwartete. Seine menschliche Subalternität störte ihn so wenig wie nur je die Subalternität anderer — man gedenke der boutade Oscar Wildes: vulgarity is the behaviour of — others — einen echten Herrn gestört hat, welchem sich die Frage der Gleichberechtigung der unter ihm Stehenden überhaupt nicht stellt. Das war ja das Schöne an der alten aristokratischen Ordnung, dass jeder an seinem richtig erkannten Platz in seiner Eigenart voll geachtet wurde, jeder sich aufrichtig bei ihm beschied und darum keine neid- oder eifersuchtsgeborenen Konflikte aufkommen konnten.
So sehr nun mein junger Lehrer meinem Vater zugetan war — meine Mutter mochte er ob ihrer Heftigkeit, Herrschsucht und ihrer Freude am Belehren von oben herab nicht sonderlich. Wie meine Mutter nun nach dem Tode meines Vaters völlig verloren war und dabei ganz sich selbst überlassen, denn ihre Schwestern und Schwägerinnen konnten nur die ersten Wochen bei ihr bleiben, nachher riefen sie eigene Pflichten in ihre eigenen Heime zurück, und die Entfernungen von Gut zu Gut waren damals, wo es keine Kraftwagen und in unserer Nähe auch keine Eisenbahnen gab, so groß, dass plötzliche und häufige Besuche nicht in Frage kamen, da ließ sie den Fünfundzwanzigjährigen nach Rayküll kommen. Und haltlos geworden, wie sie war, öffnete sie sich ganz dem, welchen mein Vater sichtbarlich so gern gehabt hatte, und machte ihn bald zu ihrem Vertrauten. Er hatte von Anlage die familiäre Art des russischen Djadjka, das heißt des männlichen Kinderwärters, welche mein Vater durch seine bloße mächtige Gegenwart im Schach gehalten hatte, die aber nun dominant wurde; und meine Mutter in ihrer vollkommenen Vereinsamung ließ sich die auf andere läppisch wirkende Familiarität nicht nur gefallen, sie züchtete sie groß. Immer intimer wurde sie mit ihm, und bald erwachte in ihr leidenschaftliche Liebe zum bisher kaum Beachteten. Aus ihrem völlig leer-geworden-Sein heraus sehnte sie sich nach neuer Erfüllung, und die bot ihr der gerade Anwesende; in einem ähnlichen Verstande wurden in primordialen Zeiten oft die Frauen erschlagener Männer bald zu liebenden Gattinnen derer, welche jene mit eigener Hand getötet hatten. Wir Kinder merkten natürlich gar nichts von dem, was vorging und was sich anbahnte, obgleich schon die einzige Schwester meines Vaters, die uns schmerzerfüllt im Mai 1895 besuchte (mein Vater war im März gestorben), befremdete Bemerkungen darüber machte, wie merkwürdig zutraulich der Lehrer geworden war und wie fröhlich meine Mutter in seiner Gesellschaft schien. Wir konnten auch gar nicht darauf kommen, irgend etwas zu ahnen, nicht allein wegen der Kürze der seit dem Tode meines Vaters verstrichenen Zeit und der offenbaren Verzweiflung meiner Mutter über diesen Tod, sondern weil für unser Gefühl die Niveauverschiedenheit zwischen dem Lehrer und unserer Familie jede nahe Beziehung ausschloss. Heute fehlt leider den meisten Jungen der primäre Sinn für Niveau; für ihre Begriffe genügt Nettsein und Sympathie in allen Hinsichten; sämtliche anderen möglichen Erwägungen werden als aristokratische oder bürgerliche Vorurteile abgelehnt. In Wahrheit nahm unsere Generation noch selbstverständlich primäre geistige Realitäten wahr, die ein viel Wesentlicheres sind als die empirischen Umstände, die allein für die meisten Heutigen zählen. Es gibt überhaupt nichts Wesenhafteres als Niveauunterschiede, sie scheiden substantiellen Geist von substantiellem Geist und schaffen auf dessen Ebene ebenso unüberschreitbare Grenzen, wie solche eine Tierart von einer anderen abscheiden. Im Tolstoi-Kapitel wird das Niveau-Problem ausführlich behandelt werden, darum kann ich mich hier damit begnügen, alles Nähere und Weitere betreffend, auf dieses zu verweisen. Hier nur noch soviel. Je nach der Existenzebene, auf welcher ein Mensch unwillkürlich und selbstverständlich lebt, gelten für ihn primär andere spirituelle, moralische und ästhetische Werte. Diese Werte bestehen völlig unabhängig von der Herkunft und äußeren Stellung, wenn auch in richtig geordneten Zeiten auf die Dauer fast immer ein Entsprechungsverhältnis besteht zwischen jenen Werten und diesen Tatsachen. Der geborene Herr ist so wesentlich geborener Herr, wie der geborene Diener geborener Diener ist. Wo dies nicht klar erfasst wird, liegt immer geistig-seelische Entartung vor, wie denn in dieser Zeit der Weltrevolution die wenigsten Abkömmlinge hochgeborener Geschlechter mehr wesentlich anders geartet sind als Proletarier, was denn die zeitweilige Nivellierung rechtfertigt. Der betreffende junge Mann nun war bei allen unleugbaren menschlichen und moralischen Vorzügen ein Mensch allerniedrigsten Niveaus, von Anlage, wie gesagt, ein Kinderwärter; im übrigen eine Vorwegnahme des später herrschenden Chauffeurtyps einerseits und andererseits einer, der bei der Stellung eines Zeichenlehrers in einer Dorfschule zweifellos seine Erfüllung gefunden hätte. Und eben darum, weil ihm seinem eigenen Niveau entsprechend jeder Sinn für höheres Niveau fehlte, merkte er gar nicht, dass sich dadurch, dass er sich in die Stellung meines Vaters, seines Wohltäters, hineinschmeichelte, Ungeheuerliches anbahnte. Meine Mutter gab in dieser Zeit, wie jede von einem Gefühl überwältigte Frau, einfach ihrer Gana nach; er aber ließ sich mitreißen, wie denn sicherlich die ganze Initiative von ihr ausging. Behauptete meine Mutter später, er hätte sich erschossen, wenn sie ihn nicht geheiratet hätte, so sprach daraus ganz sicher ein archetypisches Wunschbild jeder geliebt-sein-wollenden Frau. Er selbst war gar keiner starken Gefühle fähig. Beide — meine Mutter wie er — waren nun viel zu moralistisch, um ihre Neigung in einer liaison auszuleben, und viel zu primitiv, um einzusehen, dass solches Unmoralische
millionenmal moralischer gewesen wäre als das, was sie tatsächlich taten. Obgleich alle unsere Leute, die natürlich plus royalistes que le roi waren, nicht selten Bemerkungen darüber fallen ließen, dass meine Mutter in der Intimität zu weit gehe, fanden wir Kinder in unserem festen Vertrauen auf ihre Treue nichts Schlimmes dabei. Selbstverständlich mochte unsere Mutter verkehren mit wem sie wollte und wie sie wollte, wenn es ihr in ihrem Schmerze guttat. So vergingen nach dem Tode meines Vaters ungefähr anderthalb Jahre, und unser Leben schien genau so fortzugehen, wie es früher war. Da, eines Abends, als ich besonders fröhlich zur Elchjagd aus Pernau nach Könno heimgekommen war, eröffnete meine Mutter mir, sie könne nicht umhin, den ehemaligen Hauslehrer, welcher, seine Studien vernachlässigend, wieder einmal da war, zu heiraten, um meines Vaters willen, der ihn ja so gern gehabt hätte; und ich solle entscheiden, ob sie nun glücklich oder unglücklich werden solle. Damals war ich wenig über fünfzehn Jahre alt, als Mensch ganz unentwickelt, überhaupt noch kein Mann zu nennen, über die Maßen labil, ohne psychische Widerstandskraft, vollkommen weltfremd, und die früh entwickelte Gabe, alle Seiten jedes Problems auf einmal zu sehen, machte mich vollends entscheidungsunfähig. Die Eröffnung meiner Mutter kam mir überdies so ungeheuerlich, so völlig unglaubhaft vor, dass ich sie gar nicht richtig in mich aufnehmen konnte. Tags darauf setzten mir die beiden Liebenden geradezu erpresserisch zu. Ich war nun nie durchsetzerisch gewesen, da mich praktische Ziele nicht wirklich interessieren konnten. Hier aber setzte, für mich selber überraschend, aber desto stärker jene mythische, dem Bewusstsein unzugängliche, ganz tiefe Bindung ein, die es einen als Frevel empfinden lässt, gegen die Mutter Front zu machen, und auf Grund derer ich mich von vorneherein schuldig fühlte, bloß weil ich meiner Mutter innerlich nicht zustimmen konnte. Meinen Vater realisierte ich damals gar nicht, da das Vaterprinzip ein rein Geistiges für mich bedeutete und darum allen irdischen Konflikten entrückt erschien; damit hängen wohl Träume meines späteren Lebens zusammen, wonach mein Vater als Schattengestalt auf einmal entweder zu meiner wiederverheirateten Mutter oder zu mir wiederkehrte, und ich absolut nicht wusste, wie ich ihn unterbringen sollte; er verlangte auch nichts, war zu einer Art unfassbaren Vagabunden geworden. Unter diesem Drucke, dem ich keinen inneren Widerstand bieten konnte, und in dieser Situation, für welche mir jede Bereitschaft fehlte, verlor ich allen inneren Halt. Später behauptete Georg Groddeck (ganz oder genau so lagen die Dinge schwerlich, aber etwas Wahres ist an dieser auf Assoziationsexperimenten beruhenden Behauptung), dass mein tiefster und quälendster Minderwertigkeitskomplex darauf beruhte, dass ich den usurpierten Nachfolger meines Vaters nicht am nächsten Tage auf der Jagd erschossen hatte, wie ich’s in jener ersten, schrecklichen, durchwachten, durchweinten und durchtobten Nacht unter vielem anderen plante; offen stellen konnte ich ihn nicht, denn ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte; ich war damals so suggestibel, dass mir, wenn ich angegriffen wurde, Gegenargumente nie einfielen. An einer Stellungnahme gegen meine Mutter hinderte mich aus zwingender Tiefe, wie schon bemerkt, meine mythische Bindung an sie. Vor allem aber empfand ich den Bruch mit geheiligter Tradition als dermaßen ruchlos, dass sich einerseits die Frage wirklichen Akzeptierens nie stellte, dass mir andererseits auch kein Gedanke kam, wie ich mit der Situation anders als durch ein Verbrechen fertig werden sollte. Überdies war ich damals viel zu sehr Kind, um mich als Familienoberhaupt zu fühlen, auch konnte meine vertrauende Liebe zu meiner Mutter nicht von einem Tag zum anderen zu sein aufhören. So suchte ich die Wirklichkeit, so wie sie wirklich war, nicht wahrzunehmen, Zeit zu gewinnen, mein Kinderglück, so lang es irgend ging, um jeden Preis zu retten. Oder aber ich schauspielerte vor mir wie vor anderen und lebte im Rahmen einer Dichtung, welche der Wirklichkeit ihr für mich Entsetzliches nahm. Schließlich wurde die Frage akut. Meine Mutter konnte ihren Geschwistern ihre neuen Pläne, über die unter Leuten schon viel geredet wurde, auf die Dauer nicht vorenthalten. Und wie mir meine Oheime die Ungeheuerlichkeit ihres Planes ganz klar und mich auf die Pflichten des Erben meines Vaters aufmerksam machten, da trat ich freilich auf deren Seite. Nie jedoch auf so entschiedene Weise, dass dies meine suprem willensstarke und unbeugsame Mutter von ihren Absichten hätte abbringen können, weil sie sich ernstlich hätte die Frage stellen müssen, ob sie es darauf ankommen lassen wolle, den Sohn zu verlieren. Da wurden in meiner Mutter, jetzt auf der Stufe eines ganz anders gefestigten Seins und überhöhten Selbstbewusstseins, dieselbe Exklusivität und dieselbe Härte dominant, welche sie seinerzeit bei ihrer Heirat von heute auf morgen ihrer Familie entfremdeten und sie zur ausschließlichen und rücksichtslosen Gattin und Mutter machten; Charaktereigenschaften, die sie, wo es ihren Willen und Vorteil durchzusetzen galt, vor nichts zurückschrecken ließen, zumal sie von Natur eng war und das, was nicht unmittelbar ihr Interesse bannte, schwer überhaupt sah. Ohne irgend jemand etwas davon zu sagen — sie war zeitlebens in merkwürdigem Grade cachottière —, bereitete sie in unglaublich schnellem Tempo und dabei nach allen Richtungen wohlüberlegt Auswanderung für immer vor. Im Herbst des gleichen Jahres (1897) zog sie mit uns Kindern fort, kaufte gleich darauf in Frankreich ein Grundstück und baute sich darauf eine schöne Villa auf. Ohne innere Schwierigkeit für sich schnitt sie alle Beziehungen zu ihrer Familie ab, forderte sie gleiches von ihren Töchtern, welche Forderung sie grundsätzlich bis zu ihrem Tode aufrecht erhielt, und lebte fortan ein völlig neues Leben, als wäre sie nie die Gattin meines Vaters und die Herrin von Rayküll und Könno gewesen. Bevor sie fortzog und längere Zeit nachher versicherte sie, wiederheiraten würde sie nicht, und allzu erleichtert nahm ich sie beim Wort. Doch ihr Erwählter reiste ihr natürlich nach, und zweieinhalb Jahre später heiratete sie ihn.
Selbstverständlich hätte ich wissen müssen, dass es dazu kommen würde, zumal der Mann nicht von ihrer Seite wich und sie fortan alle Rücksicht, deren sie fähig war, ihm zuwandte. Und selbstverständlich hätte ich, wo ich einmal unbedingt gegen diese Heirat war, alles tun müssen, um sie zu verhindern, was ich möglicherweise, da meine Mutter damals noch sehr an mir hing, auch erreicht hätte, wenn ich mich überzeugt als Vertreter meines Vaters und der Tradition aufgespielt hätte, denn wie alle sehr ausfahrenden Naturen gab meine Mutter, wenn ihr starker Widerstand entgegentrat, verhältnismäßig leicht klein bei. Aber ich konnte mich damals nicht in diesem Sinne als Sohn meines Vaters fühlen und als der eigentliche Besitzer von Rayküll und Könno; gerade damals begann ich, mir meiner von meiner Herkunft ganz unabhängigen Lebenslinie und meines rein individuellen Schicksals bewusst zu werden, und so scheute ich davor zurück, irgendwelche Entscheidungen zu treffen oder Bindungen einzugehen, welche den Schwebezustand, in welchem ich mich damals befand, in eine Festlegung, die mir vielleicht nicht gemäß war, übergeführt hätte. Gerade damals begann jener jahrelang währende Zustand des Wartens auf die Offenbarung meines mir noch unbekannten Selbstes, und so unklar ich mir über meine späteren Ziele war — mein Instinkt sagte mir sehr genau, was ich nicht tun dürfe. In diesem Sinne durfte ich mich nicht wirklich in die Angelegenheiten meiner Mutter einmischen, weil sie letztlich nicht meine Angelegenheiten waren. So verdrängte ich meine Einsicht, raffte mich aber ebensowenig zu irgendeinem Willensentschluss auf, und so hatte meine Mutter Ursache zu glauben, ich würde mich zum mindesten neutral verhalten. Dies aber tat ich auch nicht, und daraus ergaben sich häßliche Situationen und unerfreuliche Aussprachen, aus denen ich aber wieder nicht die Konsequenz des Abbruchs zog und dies nicht nur, um meine Mutter daran zu hindern, zwischen meinen Schwestern und mir jeden Kontakt unmöglich zu machen, was sie im Falle eines Bruchs sofort versucht hätte. Ich wollte auch um keinen Preis mit praktischen Dingen zu tun haben und wünschte darum, dass meine Mutter das Familienvermögen weiter verwaltete, ganz einerlei, wie ich dabei fuhr.
Einerseits wegen dieser meiner Unentschiedenheit, andererseits im Gefühl ihrer Isoliertheit allen Menschen gegenüber, die sie als Tochter ihrer Mutter und Frau meines Vaters gekannt hatte, wurde meine Mutter nun unaufhaltsam anders, oder genauer wohl zum ersten Male ganz sie selbst. Um das Konstruktive ihrer neuen Seelen- und Lebensform zuerst zu schildern: sie begann ein ganz neues Leben, in welchem sie, nachdem sie neue Wurzeln geschlagen hatte, vor allem Gutes tat. Sie kümmerte sich leidenschaftlich um alles, was mit Frauenemanzipation und sozialer Gerechtigkeit zusammenhing, allerdings als fanatische Demokratin und Vertreterin nivellierenden Gleichheitsglaubens — damit kompensierte sie das Bewusstsein ihrer Treulosigkeit gegenüber der Tradition; allezeit war sie opferfreudig gegenüber Armen und Schlechtweggekommenen, die in ihren Augen Hilfe verdienten. Während des Weltkrieges rieb sie sich in der Fürsorge für die Kriegsgefangenen auf, und auch nachdem sie als Folge der estnischen Agrarreform vollkommen ruiniert war — unser aller Schicksal —, half sie nach Kräften allen kleinen Leuten, die sie kannte, weiter, die ihr auch bis zuletzt so dankbar verbunden blieben, dass Hunderte ihr bei ihrem letzten Gange das Geleit gaben. Ihr angeborenes Herrinnentum lebte sie fortan so aus. So viel galt nach außen zu, in bezug auf ihren neuen Lebenskreis, den sie bewusst und absichtlich auf sozial niederem Niveau begründet hatte; alles, was an ihre frühere Stellung erinnerte, verleugnete sie. An sich und in bezug auf die ihr Nächststehenden offenbarte und verhärtete sie sich aber immer mehr als Machtnatur, welche rücksichtslos ihre eigenen Pläne durchführte, ihren Vorteil wahrte, ihr eigenes Leben lebte und in jedem Menschen einen Feind sah, der ihre Absichten durchkreuzte. Von ihrer Vergangenheit hatte sie sich amputationsartig losgelöst. Ihre Töchter betrachtete sie als ihren rechtmäßigen Besitz, diese hatten ihr blind zu gehorchen und für sie zu leben; im Falle der ältesten, einer tiefreligiösen Natur, die in wunderbarer Treue und Selbstlosigkeit ganz bei ihr blieb und auf ein Eigenleben ganz verzichtete, fand sie es selbstverständlich, dass sie in bescheidenster Lebensstellung verdienend zum Haushalt beisteuerte; jede Verbindung mit dem angestammten Kreise, jede Möglichkeit, in diesen zurückzukehren, unterband sie für sie, soweit sie dazu in der Lage war. Bei allem, was sie tat oder unterließ, hatte sie dabei bestes Gewissen, denn sie gehörte zu jenen so häufigen Frauennaturen, die sich grundsätzlich immer im Recht fühlen. Ich zählte für sie als Familienmitglied nicht mehr mit. Ich wurde als völlig Außenstehender betrachtet und behandelt, durfte überhaupt nicht mitreden in Fragen des väterlichen Erbes, das sie als beerbte Witwe
nach Gutdünken zu verwalten und auszunutzen formal-juristisch wirklich berechtigt war. Dank ihrem wunderbaren praktischen Sinn richtete sie sich in ihrer neuen Heimat breiter ein, als es mit den gleichen Mitteln den meisten gelungen wäre, und so hatte sie auf neuer Basis ein ebenso erfülltes Leben, wie als Herrin von Könno, nur dass sie jetzt die Alleinherrscherin war. Kurioserweise war der neue Mann, für den sie das alles getan zu haben und zu tun behauptete, wohl der am meisten Geopferte dabei. Dieser mächtigen Frau war er in keiner Weise noch Hinsicht gewachsen. Mit seiner Heirat gab er jegliches Streben auf, auf der Basis seines erlernten Malertums oder seiner Erzieherbegabung seine Selbständigkeit zu behaupten, nie dachte er daran, seinerseits sein Leben zu verdienen, auch wo dies bitter notwendig geworden war, er betätigte sich bloß wie ein geschickter und ehrlicher Hausangestellter. Gesellschaftlich völlig ungebildet und unfähig, während meine Mutter auch jetzt noch die grande dame blieb, als welche sie geboren und erzogen war, wurde er auch möglichst wenig gezeigt, und ihn verlangte auch nicht danach. Je älter er wurde, desto schrullenhafter erschien er, nicht unähnlich einem Dorforiginal aus altväterischer Zeit oder wie einer jener sogenannten Tausendkünstler, wie es deren unter unseren Bauern nicht selten welche gab in einer Zeit, wo wenig Lebenswichtiges in der Stadt zu kaufen und Geld rar war. Für alles Mechanische ungewöhnlich begabt, aber wesentlich ein esprit faux, arbeitete er jahrzehntelang, keinerlei Kosten scheuend, an einem Perpetuum mobile; später, nach dem ersten Weltkriege, druckte er auf eigene Kosten Traktätchen zum besten christlicher Verständigung, die er den jeweils mächtigen Persönlichkeiten zusandte. Meine Mutter ließ das alles geschehen, brachte für seine Liebhabereien jedes Opfer; auf die Zukunft ihrer Töchter nahm sie überhaupt keine Rücksicht. Mit größter Schwierigkeit und unter schweren Kämpfen gelang es mir schließlich, wenigstens meine jüngste Schwester loszueisen, so dass sie später die Rolle in der Welt spielen konnte, zu welcher sie berufen war.
Wo nun aber meine Mutter selber Renegatin war, wenn es je eine Renegatin gab, so kehrte sie für ihr Bewusstsein die Verhältnisse dahin um, dass ich der Renegat war. Indem ich in ihrem neuen Leben nicht zu ihr stand, war ich in ihren Augen der Verräter; insofern ich die Beziehungen zu unserer Verwandtschaft aufrechterhielt, war ich durch meinen Einfluss Zersetzer unseres Familienlebens; insofern ich in allen Hinsichten hoch hinaufstrebte, war ich als Negation ihres Abwärtsstrebens und Absinkens sowie der Unfähigkeit und Passivität ihres neuen Mannes ihr Feind. Daraus, dass ich augenscheinlich begabter war als dieser und dank dem Anerkennung fand, schloss sie, dass ich zu Unrecht privilegiert war. Zunächst vom Aristokratismus zum Kleinbürgertum bekehrt, war sie zuletzt für radikale Nivellierung. Nicht die Begabten seien zu fördern, sondern die Talentlosen. Ich nun blieb ihr das Bindeglied mit ihrer Vergangenheit, das sie als ursprünglich gute Mutter nicht abschneiden konnte. So behauptete sie ihr inneres Gleichgewicht dadurch, dass sie mich in den Jahren, in welchen der junge Mensch am meisten verständnis- und ermutigungsbedürftig ist, als willenlosen Schwächling oder Streber über das ihm Gebührende hinaus hinstellte, unentwegt meine Leistungsfähigkeit anzweifelte und, was immer ich tat, schlecht zu machen suchte. Nie freute sie sich meiner Erfolge, jeden Rückschlag begrüßte sie wenigstens mir gegenüber; wo immer es anging, suchte sie mich zu demütigen, zu erniedrigen, mich vor Geschwistern und Freunden lächerlich zu machen; sogar vor denunziationsartigen, an ältere Freunde gerichteten Warnungen scheute sie nicht zurück. Nicht einen Brief schrieb sie mir seither, der nicht darauf bedacht gewesen wäre, mich tief zu kränken. An meinem ersten Morgen als verheirateter Mann erhielt ich ein Schreiben von ihr, wie ich es meinem schlimmsten Feind nicht wünsche.
Nun hatte meine Mutter von ihrem Standpunkt, obgleich sie mich vollkommen verkannte, nicht ganz unrecht. Ich hatte mich, bevor die Entscheidung der Wiederheirat fiel, nicht so benommen, wie es ihr primitiver und moralistischer Geist und ihr starrer und simplistischer Charakter als einzig richtig empfanden. Später verstand sie mein Verhalten schon gar nicht. Erstens blieb ich, trotz allen Zwists und Streits, und zwar bis zuletzt, das Kind, das eine behütende, vergebende, entlastende, durch Liebe heilende Mutter braucht; so suchte ich nach allen Großkämpfen immer wieder die normale Urbeziehung von Mutter und Sohn neu herzustellen. Und dies zwar, obgleich meine Mutter nie das geringste Verständnis für feinere und zartere Seelenregungen bewiesen, nie versucht hatte, sich in ihre Kinder seelisch einzufühlen, nie Wärme gezeigt hatte in irgendeinem differenzierteren Sinn; nur als Mutter kleiner Kinder, für die nur das Körperliche zählt, war sie je eine gute Mutter gewesen. Sonst war ihr eigenes Ich von jeher suprem, und fühlte sie sich, seitdem der Konflikt wegen ihrer Wiederheirat begann, überhaupt nicht als selbstverständlich Beteiligte und mit den Ihren Identifizierte, sondern auf besonderen Dank Anspruch erhebende Wohltäterin, wenn sie für uns sorgte. Bei mir war aber das Ur-Tiefe, über welches ich anfangs schrieb und das ich das Mythologische nannte, so erst- und letztentscheidend, dass ich die gegebenen empirischen Verhältnisse immer wieder ignorierte und Unmögliches forderte. Andererseits aber konstellierte die Einstellung meiner Mutter zu mir auf der Ebene des Praktischen und Empirischen, auf welcher ich von jeher ein vom Geistesmenschen unabhängiges Sonderleben führte, eine entsprechende Einstellung ihr gegenüber. Auch ich bekämpfte sie, wo immer sie mein Schicksal hemmen oder brechen wollte, als Feind, und aus der Maßlosigkeit meiner Verwundetheit erfolgten als Reaktionen entsprechende Gegenschläge, oder aber ich verfolgte meine eigene Lebenslinie meinerseits rücksichtslos und verhärtete mein Herz gegen sie. So war ich die Jugendjahre über, wo mich die Welt nur als weltoffenen, zarten, allverstehenden Menschen kannte, meiner Mutter gegenüber zeitweilig und bei jedem neuen Anlass das Gegenteil dessen, hart, rücksichtslos, gelegentlich wirklich böse im Sinne des Vernichtenwollens. Aus dieser Beziehung erwuchs dann mein späteres Verhältnis zur Welt der Erwachsenen, soweit es nicht rein theoretisch war. Sobald ich praktisch angesprochen wurde, traten die Bereitschaften in Erscheinung, die mein Mutterkonflikt in mir herangezüchtet hatte. Unwillkürlich erlebte ich alles der Erde Zugehörige als Mutter-haft, und zwar im Sinn der bösen Mutter, und misstraute ihm von vornherein. Bei jeder Verhandlung rechnete ich mit der Absicht, mich zu übervorteilen. Meine innerlich-geistige Welt und die Welt, in der ich nach außen zu um meine Existenz kämpfen musste, spalteten sich dergestalt immer mehr und konsolidierten sich immer mehr auf völlig verschiedenen, mit einander unvereinbaren Ebenen; als Geist und Seele wurde ich immer ätherischer und weltfremder, als Praktiker hingegen in schroffem Widerspruche dazu positivistisch bis zur Grenze des terre à terre. So befand ich mich ab 1900 etwa — die ersten unvergesslich bösen Briefe empfing ich in Dorpat — in einem schauerlichen Spannungszustand. Auch das Bewusstsein dessen, dass ich vom Standpunkt eigentlich aller Menschen, mit denen ich darüber reden konnte, das bessere Recht für mich hatte, konnte mich innerlich nicht retten: denn erstens hat mir die Rechtslage
nie auch das allermindeste bedeutet, zweitens liegt im Fall solcher intimer Konflikte auf keiner Seite je das ausschließliche Recht, und ich war ja ursprünglich so veranlagt, dass ich immer alle Seiten eines Problems auf einmal sah und mein persönliches Interesse für den Erlebenden und Denkenden in mir niemals den Ausschlag gab. Drittens und vor allem aber erlebte ich den Konflikt nicht nur ursprünglich, sondern immer bewusster und deutlicher, je mehr mein Geist sich vertiefte und meine Seele sich artikulierte, als einen mythischen, damals vor allem im Geiste dessen, was die Orestie bedeutet. Später fand ich in jenen afrikanischen Felsenbildern, auf denen die Nabelschnur noch den in der Ferne kämpfenden Krieger festhält, das mir am tiefsten einleuchtende Symbol. Das Schlimmste für mich aber war, dass das schlecht-Denken meiner Mutter von mir mich wirklich schlecht machte, ihre Geringschätzung reale Minderwertigkeitsgefühle in mir weckte, so dass ich nun fortlaufend um meinen Glauben an mich wie um mein Leben ringen musste. Alles selbstverständliche Selbstbewusstsein des Wohlgeborenen und in einer bestimmten guten und schönen Ordnung Geborgenen, des unzweifelhaft Begabten, der deshalb von der Zukunft viel erwarten durfte, wie es mich als Kind in Form sonnigster Naivität ausgezeichnet hatte, war in mir erschüttert. Was ich ererbt hatte, musste ich alles in schweren seelischen Kämpfen neu erobern, um es zu besitzen, und zu wirklicher Selbstverständlichkeit habe ich nie zurückgefunden. Vor allem aber quälte mich in meiner Jugend der Gedanke, ob ich am Ende wirklich schlecht wäre. Hier lag für mich ein schweres Problem, denn als Kind war ich überschwenglich gut- und warmherzig und wohlwollend gewesen, und meinen Instinkten nach stand ich gar nicht jenseits von Gut und Böse; im Gegenteil, in dieser Region war ich primitiver puritanischer Moralist, wie dies mein Vater war, und erst durch bewusste Selbstkultur bin ich zu meiner später behaupteten Freiheit gelangt. Dieses Schlechtwerden am Kontakt mit meiner Mutter, zusammen mit ihrem Bösewerden an mir, war mein bitterstes Erlebnis, denn nicht nur zerstörte es mir immer wieder jede Möglichkeit, ein neues befriedigendes Verhältnis mit ihr auf neuer Basis aufzubauen — dadurch, dass ich die ganze Erd-Welt als Mutter-haft empfand, übertrug sich mir das, was ich an meiner Mutter erlebte, auf jene überhaupt; damit wurde es mir physiologisch unmöglich, unbefangen und unbelastet durch schlechtes Gewissen und Minderwertigkeitsgefühl mein Positives anders als in vollkommener Abgeschiedenheit auszuleben. Jahrzehntelang wähnte ich, das fragliche, mich unsäglich quälende Schlechtwerden beruhe auf bloßer Suggestibilität. Heute weiß ich, dass die Beziehung zwischen Mutter und Sohn eine dermaßen tiefe ist, dass jede Orestes-Klytämnestra-Situation, oder auch schon jede Hamlet-artige, nicht allein Schuld schafft, die dann die Erinyen auf den Plan ruft, sondern das real Böse in Mutter und Sohn konstelliert und evoziert. Aus dieser seelischen Situation bin ich für mein Bewusstsein niemals ganz erlöst worden. Im Gegenteil, je mehr ich mich realisierte, je mehr mein Bewusstsein die Tiefe des Geistes und der Natur zu spiegeln begann, desto lebendiger wurde mir als Gegenwart der Konflikt meiner frühesten Jugendjahre, so dass ich in mehreren Hinsichten dank dem, dass es für die Erinnerung nichts ein für allemal Entschiedenes gibt, ein halbes Jahrhundert später mehr noch an dem leide, was ich damals akut als schuldhaft empfand, wie als Jüngling.
Jeder, der von den Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens die geringste Ahnung hat, wird aus dieser kurzen Darstellung ermessen, ein wie Ungeheures, ja Ungeheuerliches mein Muttererlebnis mir bedeutet hat. Die Prinzipien der Intimität und des Erdhaften wurden meinem Bewusstsein dank ihm in allen ihren Manifestationen auf Jahrzehnte hinaus inakzeptabel. Daher — von der Triebsphäre aus geurteilt — meine Unzulänglichkeit für Freundschaft, ja jede Beziehung überhaupt, welche Gemeinschaft auf der Basis des Alltäglichen schuf oder forderte; daher mein später so leicht aufflammendes Misstrauen beim leisesten Anlass — wo ich als Kind extrem leichtgläubig und vertrauensvoll gewesen war —, mein Bestreben, mein Leben möglichst ganz unabhängig von allen persönlichen Beziehungen aufzubauen. Daher meine Vorliebe für ein möglichst distanziertes Verhältnis von Mensch zu Mensch und meine innere Unsicherheit, sobald die Gefahr des einander Näherkommens drohte — mit Ausnahme natürlich von Liebesbeziehungen, denn deren ideeller Ort ist ein ganz anderer als der zwischen Mutter und Kind. Der Eros, im Zeichen der Sehnsucht geboren und immerdar in ihm stehend, ist letztlich immer Eros der Ferne, die Bande, die er schafft, gehören der Sphäre der Delicadeza an und so hängt es gerade mit meiner sonstigen Distanziertheit und Unpersönlichkeit zusammen, dass Liebe und Geliebtwerden mir in meinem ganzen späteren Leben so unverhältnismäßig viel bedeutet haben. Weil ich die Sicherheit, welche das Geliebtwerden durch die Mutter normalerweise jedem schafft, seit meiner Kindheit nie mehr gekannt habe — denn die sehr große Liebe meiner Mutter zu mir in meiner frühesten Kindheit war die des Muttertiers und befriedigte meine schon damals fein differenzierte Seele nie — und weil ich sonst nur letztlich unpersönliche Beziehungen vom Geist her pflegte, war ich desto heißhungriger nach Liebe in der Form, in welcher sie mir reine Wohltat bedeutete. Von den Normen aus, die eigentlich nur für Liebesverhältnisse gelten, habe ich später allein menschliche Beziehungen überhaupt gepflegt, es kam mir nur auf Delicadeza dabei an, auf zarte Einfühlung, Freude-machen-Wollen, die Kunst des Zeigens dessen, was wohltun kann. Oft habe ich gern in äußerst primitiven Verhältnissen gelebt, nur weil Freundlichkeit und unverkennbare Zuneigung der Hausbewohner oder Nachbarn zu mir mir mehr wert war als jeder Komfort; im gleichen Sinne hat ein gutes Wort mir zeitlebens viel mehr bedeutet als die beste Tat, und habe ich es keinem je verzeihen können, wenn er im Zeichen der leider allverbreitet gewordenen rohen amerikanischen Aufrichtigkeitskultur mir entweder (so wie der Ausdruck meist verstanden wird) die Wahrheit sagte
oder aber unterließ, mir das Erfreuliche mitzuteilen, welches auszusprechen gegeben war und das mir wohltun konnte. Ein einziges liebes Wort hat manchmal Tage der Schöpferstimmung in mir ausgelöst, ein einziger Ausdruck trockener Sachlichkeit mir einen Menschen für immer verleidet.
Doch zurück zu den unabsehbaren seelischen Konsequenzen meines Muttererlebnisses. Seit 1900 erwachte in mir eine unüberwindliche Abneigung gegen Blutsverwandtschaft überhaupt, versteifte ich mich sofort, sobald irgendeine ältere Frau ihren Gefühlen für mich die Nuance der Mütterlichkeit gab. Daher meine wachsende Erdferne, mein jahrzehntelanges Bestreben, auf Kosten der Ganzheit meiner Seele reiner Geist zu sein. Alles Naturhafte empfand ich als mutterhaft in dessen feindlichem oder furchtbarem Aspekt und es ist nicht unmöglich, dass meine physische Unersättlichkeit, besonders in bezug auf Fleisch, auch etwas damit zu tun hat. Um der Mutter in mir zu entrinnen, lebte ich überhaupt außer mir. Jahrzehntelang lehnte ich ab, an Familienfeiern teilzunehmen oder solche zu veranstalten, die mich an meine glückliche Kindheit mahnten. Weihnachten hat mir von jeher besonders viel bedeutet: trotzdem habe ich dieses Fest noch als Besitzer von Rayküll grundsätzlich nicht gefeiert und an den Festtagen besonders viel gearbeitet oder sonst Unfestliches getan. Und wie mich meine Frau verhältnismäßig spät im Leben in neues Familienglück eingewöhnte, fiel es mir dennoch jahrelang sehr schwer, gerade die Weihnachtsstimmung auszuhalten; unwillkürlich brach ich, wenn ich im dunklen Zimmer vor der Bescherung die Choräle am Klavier begleitete, in haltloses Weinen aus. Jahrelang war ich jeder echten Gefühlsäußerung unfähig — ein italienischer Onkel, der Philosoph Raffaele Mariano, welcher erst die älteste und nach deren Tode die zweitälteste Schwester meiner Mutter geheiratet hatte, verstand das am frühesten, was er mit den Worten zum Ausdruck brachte: Li hanno bruciato il cuore. Mehrfach habe ich erzählt, dass meine Wendung vom Natur- zum Geistesmenschen ihre auslösende Ursache in der Duellverwundung des Jahres 1899 hatte, die meine Vitalität herabdrückte: die tiefste Ursache — bei welcher die erwähnte gemäß dem Prinzip der Synchronizität nur helfend mitwirkte — war die, dass genau damals mein Mutterkonflikt mir eingestandenermaßen bewusst und zugleich praktisch akut wurde. Nachdem ich aber meine ursprüngliche Vitalkraft wiedergewann, fürchtete ich auf oft komische Weise, ich möchte zum rohen Erdmenschen auskristallisieren und damit des Geists, der mein Erlöser war, verlustig gehen. Wie ich nun aber in Argentinien plötzlich vollkommenen Kontakt mit der Erde gewann, da erlebte ich in bezug auf meine Mutter wiederum Schauerliches oder vielmehr noch Schrecklicheres. Dort wurde mir, wie aus den Südamerikanischen Meditationen
ersichtlich, das Dämonische der Unterwelt vollständig bewusst, und von dort an akzeptierte ich diese auch als mir zugehörig und suchte jenem nicht mehr auszuweichen. Als ich nun soweit war, da erschien rein Teuflisches immer wieder in Form von Bildern der eigenen Mutter in widerwärtiger Verknüpfung und Verzerrung. Und das tat es nicht allein in immer wiederkehrenden Träumen, auch im Wachzustand schreckten mich entsprechende innere Bilder. Kein Wunder, dass mir das Urbild der Mutter in ihrem schrecklichen Aspekt als Magna Mater, als Kali vertrauter ist und mir mehr einleuchtet als das der Mutter Gottes. Über alles hiermit Zusammenhängende weiß ich aus eigenster Erfahrung so gut Bescheid, dass ich nicht umhin kann, im meisten, was moderne Psychologen darüber schreiben, oberflächliches Geschwätz zu sehen. Das ist es wirklich: denn indem die Tiefenpsychologie die Urnatur durch Erklärung
zu ent-dämonisieren versucht, entwirklicht sie dieselbe und beraubt den Menschen, der sich von dieser Psychologie beeinflussen lässt, unersetzlicher Erlebnismöglichkeiten.