Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

I. Leo Tolstoi - Krieg und Frieden

Als ich mich einstmals, in Russland, mit Standesgenossen über Leo Tolstoi unterhielt, sagte mir einer: schließlich ist es mit ihm wie mit uns allen: um den einen Tolstoi zu verstehen, muss man die Tolstois kennen. — Er hatte recht. Vielleicht weniger hinsichtlich der bestimmten Familie, welcher der große Dichter angehörte, als seiner Kaste. Mochte Leo Tolstoi scheinbar ein aus der Art Geschlagener sein — in Wahrheit galt von ihm wie von jedem Edelmann, der diesen Namen verdient, dass seine Rasse ebenso bedeutsam bei ihm war wie seine Individualität; denn das unterscheidet den Menschen gezüchteten Bluts vom homo novus, dass er persönlich Geschichte verkörpert, dass er typisch nicht nur als Mensch, als Volksangehöriger, als Berufstypus oder Gebildeter ist, sondern als bestimmte fleischgewordene Tradition. Leo Tolstoi war russischer Edelmann durch und durch; gerade weil er es so sehr war, konnte sein Verstand dessen Zustand so bitter kritisieren: man verurteilt in anderen am schärfsten immer das, was man in sich nicht liebt. Der Dichter aber sprengte in Tolstoi den Typus nicht, weil er als solcher wesentlich reproduktiv war und nicht erfinderisch. Jede wichtigere Gestalt, die er schuf, ist ein naturgetreues Porträt (leider erinnere ich mich der meisten Vorbilder, von denen ich einstmals wusste, nicht mehr, und die von ihnen noch wissen, dürften bald ausgestorben sein; nur ein wichtiges Beispiel: Karenin ist Pobjedenoszeff, der berühmte und berüchtigte Prokurör des Heiligen Synods). Jeder Tolstoische Roman ist insofern ein Schlüsselroman. Tolstoi beobachtete, notierte unausgesetzt. Nichterlebtes konnte er sich auch nicht vorstellen. Darum musste er den Versuch aufgeben, das Zeitalter Peters des Großen zu schildern: solche Menschen hatte er nie gesehen. Während sich die Generationen, die er erlebte, von der napoleonischen, dank dem langsamen Lebensrhythmus Russlands, nur unerheblich unterschieden.

Tolstoi ist weit mehr Typus als Persönlichkeit. Dies gilt es an erster Stelle einzusehen, will man ihn richtig einschätzen. Das meiste dessen, was dem nicht-Russen originell erscheint, wirkt auf seinen Landsmann als landes- oder standesüblich. Woher unter diesen Umständen die unvergleichliche Tiefenwirkung seiner Dichtung? Sie beruht eben darauf, dass hier Typisches unbefangen als persönlich in die Erscheinung tritt. Tolstois Tiefe ist nicht die des Geistes und der Seele. Es ist schwer zu sagen, ob er intellektuell bedeutend war. Auch darin war er typisch für seine Rasse und Klasse, dass er zwar überhaupt logisch dachte, doch mehr als häufig von unhaltbaren Voraussetzungen aus. Für das Geistige an sich hatte er nicht eben viel Verständnis; die Abneigung des Edelmannes gegen den Federfuchser lag ihm, trotz allen individuellen Talents, im Blut. Deshalb hatte er auch wenig Verständnis für das Geistige in sich: sein Größtes verleugnete er bald, und über die Kunst dachte er geringer als irgendein Barbar. Aber auch an Tolstois seelischer Tiefe in höherem Verstand sind ernste Zweifel möglich. Als Religiöser war er freilich, subjektiv beurteilt, echt; aber objektiv gelangte er nie über einen recht primitiven Moralismus hinaus; absolut tiefe spirituelle Erlebnisse wurden ihm nie zuteil, und manchmal habe ich mich sogar gefragt, ob seine religiös-moralischen Ideen nicht zu einem erheblichen Teil als Kompensationsgebilde zu deuten sind. Wie alle, die ihn wirklich kannten, bezeugen, war er kein guter Mensch; ihm fehlte in sehr hohem Grade die Liebe. Das hätte nun nicht allzuviel bedeutet, denn geistige Persönlichkeit bildet sich meist an der Spannung zur erkannten unzulänglichen Anlage. Aber ihm fehlte auch das Natur-überlegene Ethos: bis zu seiner Todesstunde war er gerade geistig und seelisch inkonsequent. Die Rigidität seiner Begriffe diente allein dazu, sein inneres Chaos notdürftig zu organisieren. Wer bei Tolstoi Tiefe auf den Ebenen von Geist und Seele sucht (letzteres Wort als πνευμα, nicht als ψυχη verstanden), geht fehl. In dieser Hinsicht war er den Bolschewisten näher verwandt, als Heiligen und Weisen, weshalb es kein Zufall ist, dass der Bolschewismus in vielen wesentlichen Hinsichten als Auswirkung Tolstoi’schen Geists erscheint. Dafür eignete Tolstoi die ganze Tiefe der Natur. Deren Tiefe nun gibt nur Typisches angemessen wieder; das rein-Individuelle, das Einzige hat auf anderer Ebene seinen Ursprung und schöpferischen Sinn. Hier denn wurzelt Tolstois ungeheure Größe. Der Natur-Tiefe war er sich bewusst wie kein zweiter Moderner ähnlichen Kalibers. Eine Kulturwelt hat überhaupt keiner je vor ihm auf so tiefe Naturgrundtöne bezogen. Und da Tolstoi die Natur im Bilde wiederzugeben verstand, wie dies gleich konkret sonst nur Naturmenschen vermögen, weil er so bildhaft schildert, als sei das Abstrahieren noch nicht erfunden worden, so kann jeder Tiefe alle Tiefe in ihn hineinlesen, die der Natur zugrunde liegt. Und das ist, der Möglichkeit nach, wohl alle Tiefe überhaupt.

Tolstois Meisterwerk ist Krieg und Frieden. Es ist sein Meisterwerk, weil all sein Positives sich hier in angemessenem Rahmen ausdrückt. Als Mensch großen Formats bedurfte er reichster Ausdrucksmittel. Als Tiefer im Sinne der Natur benötigte er deren ganze menschliche Skala, um alles, was er meinte, herauszustellen. Als persönlich bewusst gewordene typische Erscheinung endlich bedurfte er seines angeborenen Milieus, um sein persönliches Menschentum ganz zu offenbaren und so, dank hoher Kunst, zu allgemein-menschlichem Sinnbild zu verwandeln.

Krieg und Frieden ist, auf seinen Stoff hin betrachtet, das Hohe Lied des russischen Herrentums, des Barstow, so wie Homers Epos das der vor- oder frühgriechischen Ritterzeit. Nicht zufällig nannte ich die zwei Dichtungen auf einmal: Krieg und Frieden ist meiner Überzeugung nach die einzige Dichtung, die mit der Homerischen in wesentlichen Hinsichten vergleichbar wäre. Man abstrahiere einmal von allem Besonderen und versenke sich in die schöpferische Stimmung, aus der das Einzelne hervorgesprossen ist: im Falle beider Epen ist sie nahezu gleich. Im Falle beider bestimmen gleichsinnige Grundmotive. Diese seien hier nur schlagwortartig genannt. Ein selbstsicheres Herrentum, von dem, was unter ihm steht, freudig oder doch willig anerkannt, vom Darüber stehenden geschützt und gepflegt. Die Weltgeschichte ist die Geschichte weniger Familien, nicht aber im Gegensatz zu dem, was namenlos verbleibt, sondern diese wenigen vertreten selbstverständlich alles, was es überhaupt gibt. So gewinnt das Geringste einen unermeßlichen Hintergrund, erlangt intimst-Persönliches kosmische Bedeutung. Und dieses Leben ist wesentlich sonnig, trotz allen Leids. Es ist sonnig, weil darüber kein Zweifel waltet, dass es also gut ist und sich Probleme nicht stellen, welche die Voraussetzungen ins Wanken bringen könnten. Es gibt keine soziale Frage. Es gibt aber auch keinen Gegensatz zur Natur. Denn noch ist das bewusste Leben eins mit ihr. Stirbt einer, so setzen seine Erben ihn fort. Nichts Trauriges wirkt tragisch. Was wir Moderne in Ilias und Krieg und Frieden als tragisch deuten mögen, ist für Tolstoi und Homer episches Motiv: es retardiert den heiteren Geschehensfluss. Wie die Flutwellen bei stillem Wetter freilich wachsen und verfallen und doch kein Ende die Substanz der See betrifft, so widerlegt kein Unheil den schönen Sinn des Menschenschicksals. — Solche Lebensart und -auffassung glauben die meisten im Goldenen Zeitalter suchen zu müssen; im Bilde russischen Herrentums habe ich es persönlich gekannt. Damit gelange ich denn noch einmal zum unpersönlichen Tolstoi zurück. Was an seinen Gestalten und Erlebnissen lebt, ist jedesmal überindividuell. Bei allen ist der Typus wichtiger als die Individualität. Und nur weil auf dem Typischen der Nachdruck ruht, kann das Ganze sonnig wirken. Das Persönliche vergeht nur zu schnell. Hier mag eine Stunde des Wehs alles, sogar vergangenes Glück, zunichtemachen. Doch wenn auf den Tolstois, den Herren von Jassnaja Poljana der Akzent liegt — ich vertausche nur Darsteller und Dargestelltes, weil ich es darf —, dann wird das Werden und Vergehen des Einzelmenschen von Hause aus so empfunden, wie das Werden und Vergehen der Töne im Fluss der Melodie.

Krieg und Frieden ist das Hohe Lied des russischen Barstwo, so wie das Homerische Epos das des vor- oder frühgriechischen Rittertums. Eben darum, nicht trotzdem sind beide Dichtungen menschheitsbedeutsam wie keine zwei anderen der Weltliteratur. Denn nur der Höchstausdruck ist jeweiligen Lebens angemessenes Sinnbild. Neuerdings meinen viele es anders: nur wer auf das Häßliche den Nachdruck legt, sei wahr. Dies erklärt sich aus dem Übergangscharakter dieser Zeit. Alle Embryos sind häßlich. Doch nur die vollendete Gestalt bringt Leben so zum Ausdruck, dass es sich ganz erfüllt. Warum sehen wir alle im Leide, seit dem Sündenfalle doch dem einen gewissen an allem Menschenschicksal, ein Problem und empfinden das erfahrungsgemäß so seltene Glück als Menschenrecht? Warum sind Wohlgeborene in der Regel auch die Bessergebildeten, körperlich wie seelisch? Weil nur Leben auf der Höhe wirklich menschengemäß ist. Hier liegt der unbezweifelbare Rechtsgrund aller sozialen Kämpfe. Die ganze Menschheit erkennt Homers und Tolstois Dichtung als Menschheitssinnbild an, weil der Zustand, den in ihr wenige verkörpern, allen gebührt.

Doch nur eingerahmte Bilder wirken. So hätten Homer und Tolstoi solche Meisterwerke niemals erschaffen, wenn sie das, was sie schilderten, nicht im Abstand gesehen hätten. An den Höfen Agamemnons und Achills hätte Homer kaum viel Erfolg gehabt. Sein Werk wurde erst möglich am Gegensatz der Gegenwart zu großer Vorzeit. Schon durfte Thersites reden… Tolstoi war sein eigener Thersites. Seine Schilderung des russischen Herrentums wirkt deshalb so unvergleichlich sonnig, weil er sich persönlich unsicher fühlte. Hatte er sein Herrentum in die Wiege mitbekommen, bestimmte es von innen heraus sein ganzes Schaffen — sein Bewusstsein glaubte nicht daran. Tolstoi sah das Barstwo zwar nicht aus äußerer, jedoch aus desto größerer innerer Distanz. Er zweifelte persönlich am Rechte alles dessen, was er so herrlich malte. Deshalb verleugnete er am Ende seine eigene Kunst. Er hasste schließlich seine eigene Schönheit. Als Barin wollte er nicht leben, sondern sterben. So hat auch der französische Adel, und nicht etwa der dritte oder vierte Stand, die französische Revolution gemacht: durch das, was er an Ideen vertrat. Dort waren es die Ideen Jean-Jacques Rousseaus. Tolstoi war Rousseau und Adel in einer Person. Daher die monumentale Plastik seiner Schau. Daher seine gigantisch-sinnbildliche Bedeutung. Tolstois Dichtung ist, tief verstanden, der ergreifendste Schwanengesang der Weltliteratur1.

1 Vielleicht interessiert es einige Leser, dass ich diesen ersten Abschnitt schon in den zwanziger Jahren schrieb, das Folgende zuerst 1936 fasste und dass ich an meiner Gesamtschau des Russentums nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges nichts zu ändern fand.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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