Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

I. Leo Tolstoi - Wirklichkeit

Doch jede Medaille hat ihren Revers. So kann sich Weitenmenschentum auch negativ ausprägen und dann wird es zerstörerischer als irgendein engeres Menschentum sich äußern kann. Auch diese Seite des Russentums habe ich äußerlich und innerlich erlebt und auch hier bedeutete Tolstoi mir das verständnisvermittelnde Symbol.

Ich beschloss den ersten Abschnitt dieses Kapitels mit den folgenden Sätzen:

Nur eingerahmte Bilder wirken. So hätten Homer und Tolstoi solche Meisterwerke niemals erschaffen, wenn sie das, was sie schilderten, nicht im Abstand gesehen hätten. An den Höfen Agamemnons und Achills hätte Homer kaum viel Erfolg gehabt. Sein Werk wurde erst möglich am Gegensatz der Gegenwart zu großer Vorzeit. Schon durfte Thersites reden… Tolstoi war sein eigener Thersites. Seine Schilderung des russischen Herrentums wirkt darum so unvergleichlich sonnig, weil er sich persönlich unsicher fühlte. Hatte er sein Herrentum in die Wiege mitbekommen, bestimmte es auch von innen her sein ganzes Schaffen — sein Bewusstsein glaubte nicht daran. Tolstoi sah das Barstwo zwar nicht aus äußerer, jedoch aus desto größerer innerer Distanz. Er zweifelte persönlich am Rechte alles dessen, was er so herrlich malte. Deshalb verleugnete er am Ende seine eigene Kunst. Er hasste seine eigene Schönheit. Als Barin wollte er nicht leben, sondern sterben. So hat auch der französische Adel, und nicht etwa der dritte oder vierte Stand, die französische Revolution gemacht; durch das, was er an Ideen vertrat und förderte. Dort waren es die Ideen Jean-Jacques Rousseaus. Tolstoi war Rousseau und Adel in einer Person. Daher die monumentale Plastik seiner Schau. Daher seine gigantisch sinnbildliche Bedeutung. Tolstois Dichtung ist, tief verstanden, der ergreifendste Schwanengesang der Weltliteratur.

Tolstoi war sein eigener Thersites. Er war Rousseau und Adel in einer Person. Während des Weltkrieges, da ich stiller als je früher oder später lebte — während dieser ganzen vier Jahre bin ich nur wenige Male von Rayküll in die Stadt gefahren — las ich mehr wie je seit meiner ersten Periode frenetischen Lesens im British Museum im Jahre 1904. Damals nahm ich auch den ganzen Tolstoi wieder vor, und dies zwar gerade in den Jahren, wo sich die Revolution schon hörbar vorbereitete und die Bauern und Arbeiter, sich selber meist noch unbewusst, selbstverständlich und unaufhaltsam anders wurden, als sie bisher gewesen waren. Dies merkte ich besonders und besonders erschütternd an den eigenen bis dahin treuesten Leuten, ja gerade an denen, die schon meine Kindheit behütet hatten. Es war ähnlich wie ein plötzliches Erlöschen der Liebe einer weitergeliebten Frau… Immer kühner stellten Bauern und Arbeiter in Frage, was sie vormals als natur- oder gottgewollte Ordnung akzeptiert hatten. Rein zerstörerische, sinnlos zerstörerische Neigungen begannen aus immer zahlreicheren Gesichtern zu blicken. Mein Kutscher, mit dem ich schon als kleines Kind — damals war er gewöhnlicher Landarbeiter — Heu eingefahren hatte, bekannte sich zu an Bolschewismus grenzendem Radikalismus. Dergleichen kam schon unter den besonnenen und nüchternen Esten vor: was ich von Russen hörte, klang tausendmal gefährlicher. Ich erlebte diese Zeit als rein Betrachtender; mir kam gar nicht in den Sinn, durch Eingreifen die Entwicklung aufhalten oder steuern zu wollen. Zum Kriegsdienst war ich untauglich befunden worden, zum Weltkrieg stand ich innerlich so, wie dies der letzte Abschnitt des Reisetagebuchs beschreibt. Am Geschehen beteiligt fühlte ich mich nur insofern, als ich vorfühlte, dass nach dem Kriege meine Zeit endlich kommen würde und dass ich mich bewusst für sie aufzusparen und auf sie vorzubereiten hätte. In dieser Zeit nun las ich Tolstoi im Hinblick auf den Thersites und Rousseau in ihm, und da wurde mir klar, dass ja alles, buchstäblich alles, was später als Bolschewismus Gestalt gewann, in Tolstois Schriften vorgebildet steht. Tolstoi war einer der größten Propheten der Geschichte im tiefsten Verstande möglicher Prophetie: das heißt er sah und sagte nicht allein voraus, was kommen würde — dadurch, dass er es sagte, wurde es wirklich; er verkörperte eines der großen Beispiele für die Wahrheit der Johanneischen Lehre: im Anfang war das Wort. Tolstois Einfluss in allen Volksschichten gegen Ende seines Lebens ist kaum zu überschätzen: er war damals der Bewusstmacher der Wandlung, die sich langsam aber unaufhaltsam im kollektiven Unbewussten Russlands vollzog. Was er aber hier vor allem bewusst machte, lag in der Richtung der Zerstörung im Geist der Häßlichkeit. Hierbei meine ich mehr und anderes, als jene Häßlichkeit, die jedem Übergangs- und gar Embryonalzustand notwendig eignet, und die z. B. die abgründliche Häßlichkeit Gandhis so sinngemäß erscheinen lässt, dass sie trotzdem nicht abstößt; gleiches hat vormals von Sokrates gegolten. Nein, ich meine Häßlichkeit als Wesensausdruck und Ziel, Häßlichkeit als dem Schönen vorgezogen und überlegen gedacht. Und eben dies kam über das von Sokrates und Gandhi Geltende hinaus auch in Tolstois recht besehenem Antlitz zum Ausdruck. Selbstverständlich wusste Leo Tolstoi selber nicht, wie es mit ihm stand, und da er sich bis zu seiner Todesstunde zu keiner wirklichen inneren Entscheidung durchrang, so brauchten es auch die anderen nicht zu wissen, die nicht ähnliche Zustände wie er durchgelebt hatten. Seit 1918 freilich genügt unbefangenes Zusammenschauen beinahe jedes Tolstoischen Theaterstücks mit den Tatsachen der Sowjet-Welt, um zu erkennen, wie sehr beide eines Geistes sind. Mir aber wurde dazumal erschreckend klar, was heute noch die wenigsten einsehen: dass der Zusammenhang in der Richtung auf das Teuflische liegt. Tolstois mönchischer Moralismus war seiner tiefsten Intention nach kein Weg zu höherer Geistigkeit, sondern einfach lebensfeindlich; seine Bevorzugung des Bauern bedeutete primäre Vorliebe für den Geringwertigen — was die Bauernschaft von Jassnaja Poljana seinen Erben unmissverständlich quittieren sollte; eine schlimmere und undankbarere Bauernschaft gab es in ganz Russland kaum. Tolstois nie ganz aufrichtiger materieller Verzicht bedeutete Aufforderung zum Raub, seine spätere Kunstfeindschaft Geistverneinung — man erinnere sich seiner Worte, ein einziges Paar Stiefel sei mehr wert als der ganze Shakespeare; seine Art der Selbstanklage war die erste Skizze dessen, was später als Selbstbeschimpfung der Delinquenten so greulich zur typischen Erscheinung auf sowjet-russischen Schauprozessen geworden ist — sie war zutiefst Schau-Freude an der eigenen Niedrigkeit; die Preisgabe seines Bedeutendsten und Besten bedeutete Willen zur Hinrichtung seines edleren Selbst. Oft sah ich damals, wo mir dies erstmalig einleuchtete, Höllengeister aus Tolstois kleinen grauen Äuglein blicken. Darüber konnte tatsächlich kein Zweifel sein: der gleiche Tolstoi, der mir höchstes und schönstes Herrentum versinnbildlicht hatte, war andererseits der Vater des Bolschewismus; viel mehr so als Marx. Später verstand ich dann, wie sehr, ja wie haargenau das Wesen und Wirken des Bolschewismus die Umkehrung bedeutet der großzügigen russischen Imperialität. Oft ist es in der Geschichte vorgekommen, dass die Nachkommen der schrecklichsten Zerstörer aus ähnlicher Enantiodromie zu den konstruktivsten Aufbauern werden. Schon der Enkel Dschingis Khans war — hier wiederhole ich bereits Gesagtes — der Kaiser Chinas, der dessen Kultur ihren größten Stil gab. Die Mogulkaiser Indiens, die größten Herrschergestalten aller bisherigen Zeiten, waren direkte Nachkommen des schrecklichen Timur, des Aufhäufers der Schädelpyramiden. Gleichsinnig waren die gleichen Normannen, dank deren Vorherrschen im Vererbungsbilde die entweder direkt oder indirekt zukunftsträchtigsten Staatsgebilde des europäischen Mittelalters entstanden — man denke an England und das Sizilien Friedrichs II. — wenige Generationen früher nur grausame Räuber und Mordbrenner gewesen; ihre Zeit sah in ihnen Ähnliches, wie die unsere in den Bolschewisten. In Russland nun ist die Enantiodromie in umgekehrter Richtung verlaufen. Und dass es sich tatsächlich um die Umkehrung der gleichgebliebenen imperialen Anlage handelt, springt in die Augen, sobald man einmal darauf gekommen ist, es zu bemerken. Die Bolschewisten zerstörten zunächst im ganz Großen und im gleichen Sinn, wie ihrerzeit die Mongolen und Tatarenkhans, gleichfalls Kinder imperialen Geists. Dann aber erstrebten und leisteten sie auf das Minderwertige hin beinahe Punkt für Punkt das gleiche, wie das aristokratische Russland in umgekehrter Richtung geleistet hatte. An die Stelle erfüllender Imperialität trat die auf leeren Abstraktionen aufgebaute Internationale. Die gleichgebliebene Weite sollte nun eintönig und leer werden, die schöne Buntheit von einst zu gleichmäßigem grau in grau. Alles Höherstehende sollte fallen, der Kult der Materie denjenigen Gottes ersetzen, Hass die Liebe. Diese schauerliche Inversion bereitete sich in Tolstois eigener Seele vor. Und diese Tatsache übte gerade darum so ungeheuren Einfluss aus, weil der Dichter andererseits die alte Schönheit schöner schilderte als irgendeiner vor ihm: so provozierte er psychologisch meisterhaft den Hass des Häßlichen gegen alles Schöne.

Natürlich ist der tatsächliche psychologische Zusammenhang nicht so einfach und eindeutig gewesen, wie ich ihn hier umrissen habe. Doch als Sinnbild verstanden gilt das hier Ausgeführte für die ganze Beziehung von Sowjetrussland zum alten Zarenreich. Denn so groß des letzteren Gebrechen waren — an sich hätte es über sie alle ohne Unstetigkeitsmomente hinauswachsen können. Man gedenke nur der sehr weisen Stolypinschen Agrarreform. Und so wird denn die nachbolschewistische Zeit ganz bestimmt bei den positiven Grundzügen des alten Russland wieder anknüpfen, die ich vorhin geschildert habe. Desto mehr als alle im Guten weltbedeutsame russische Leistung mehr als in irgendeinem Lande Verdienst der seither gestürzten adeligen Oberschicht war. Alle Dichter vor Gorki waren Aristokraten. In Russland gab es ja keine Bürger, keine Städter im europäischen Verstand. Mir nun verhalf das Sinnbild des anderen Tolstoi mehr als alles andere, die innere Wandlung für mich zu vollziehen, die mit der russischen Revolution als Zeitgeistwende, die schließlich den ganzen Erdenrund ergreifen sollte, begann. Die ersten Kriegsjahre überlebte ich ganz im Zustand des Reisetagebuch-Schreibers, im Verstehen allein zentriert. Und den Verstehenden als solchen berührt kein Leid. Um das Tatsächliche kümmerte ich mich damals gar nicht und so beurteilte ich es auch vielfach völlig falsch. Wie ich meine Briefe an die Marquise de Laguiche aus der Kriegszeit wieder las, war ich erschüttert darüber, wie vielen Illusionen ich mich bis 1916 hingab. In dieses Jahr fällt die Zäsur. Damals wurde mir die Notwendigkeit für mich klar, trotzdem ich reiner Betrachter war und ein solcher bleiben wollte, von der Ebene rein-geistigen Bild-Erlebens, auf der ich bis dahin für mein Bewusstsein ausschließlich gelebt hatte, herunterzusteigen in die Welt der harten Tatsachen. Äußerlich wurde der Erkenntnisentschluss zum Einstellungswechsel durch die mich aufs höchste überraschende Einsicht ausgelöst, dass der Weltkrieg 1916 nicht zu Ende sein würde. Letzteres hatte ich nämlich bis dahin mit Sicherheit erwartet und an die Möglichkeit einer Lösung geglaubt im Sinne Romain Rollands. Da ich nun aus guten Gründen meiner Intuition zu trauen gewohnt war, begann ich über den Sinn meines Irrtums nachzudenken, anstatt mich, auf gut deutsche Art, bloß umzustellen. Mein Endergebnis war, dass mein Glaube zutiefst das folgende bedeutet hatte: nur wenn der Weltkrieg 1916 ausklang, konnte meine traditionelle Welt überhaupt am Leben bleiben; und gegen deren Tod wehrte ich mich mit allen Fasern und Fibern meiner Seele. Daher meine Illusionen. Da ich soweit war, zog ich (zunächst bloß intellektuell natürlich) den Schluss: sintemalen der Weltkrieg 1916 nicht aufhört, wird meine Welt sterben. (Zu dieser Einsicht rang sich Romain Rolland leider nicht durch. Daher die Serie seiner späteren Fehlurteile und -handlungen, bis zu seiner Entscheidung für den Bolschewismus; das nicht-auf-sich-Nehmen seines Grundirrtums verwandelte ihn zu einem esprit faux, den auch sein Gandhi-Buch zum Ausdruck bringt.) Dieser Schluss löste beinahe augenblicklich den Beginn jener Metamorphose vom Sinnversteher zum Sinnverwirklicher aus, deren geistigen Sinn ich in einem seiner Aspekte in Menschen als Sinnbilder zu schildern versucht habe, und von welchem objektiv all’ mein späteres Schicksal und alle spätere Leistung etappenweise Zeugnis ablegt. Im vorliegenden Zusammenhang kommt nur eine Schilderung dessen in Frage, was mit meinem Tolstoi-Erlebnis zusammenhängt. Das war denn eben das vorhin als Herabsteigen von der Ebene des Reisetagebuchs, auf welcher nur Sinnbilder zählen, Bezeichnete auf die der unmittelbaren Wirklichkeit des Erd-geborenen und Erd-verhafteten Menschenlebens. Hier nun bedingte die Ähnlichkeit der Grundsituation zunächst eine ähnliche Wendung und einen ähnlichen inneren Zustand, wie ihm Tolstois theoretische Schriften über Sinn und Recht des Lebens Ausdruck verleihen. Die Bekenntnisse eines anderen, von mir tief verehrten Aristokraten, welcher am Recht seines privilegierten Seins und Soseins irre zu werden begann, friedigten mein erstes mir-Bekennen dessen vorläufig ein, dass dieses Leben nicht gut, sondern wesentlich leidvoll ist, und hinderten mich damit am Ausbrechen zurück in meine schöne Vorfahren- und Geisteswelt. Dieses Ausbrechen war mir noch jahrelang ernste Versuchung und Gefahr, und wäre meine traditionelle Welt nicht ganz zerstört worden, so dass ich auch äußerlich gezwungen ward, von neuer Basis aus ganz neu anzufangen, von Not zu Not mit Tatsachen rechnend, von denen ich, der ich früher nur beinahe unbedingte Unabhängigkeit gekannt hatte, abhing, so weiß ich nicht, ob die übergroße Schmerzempfindlichkeit meiner Seele, aus der heraus mein Organismus in meinen jungen Jahren automatisch innere Dämme und Wehren gegen Unliebsames schuf, für mich zum Fegefeuer geworden wäre, dessen Qual mich als Endergebnis zum Aushalten und auf-mich-Nehmen aller Wirklichkeit, so wie sie wirklich ist, befähigte. Es gibt eine ganze Legende meiner Härte, Schroffheit und Heftigkeit: alle diese Eigenschaften, die ich auch besitze, habe ich von Kind auf nicht bekämpft, sondern gepflegt, weil andererseits meine Weichheit, mein Mitgefühl und meine Phantasie so groß und für mein Bewusstsein so dominant sind, dass jedes Leiden — fremdes wie eigenes — das ich mir überhaupt eingestehe, eine solche Revolte in mir auslöst, dass ich noch heute in vielen Stimmungen gern um der Unvermeidlichkeit der Gefängnisstrafe willen — die Todesstrafe empfinde ich als weniger grausam — die ganze Schöpfung zerschlüge und von meinem persönlichen Empfinden her überhaupt keine Rechtfertigung sehe für Krieg noch Vergewaltigung irgendwelcher Art. 1916 erkannte ich zuerst, dass der Weg des Ignorierens der Erdwirklichkeit überhaupt kein Weg ist. Und den neuen Entwicklungsweg bewussten auf-mich-Nehmens und zu-mir-Rechnens allen Schicksals beschritt ich tatsächlich, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen und unter vielen Rückfällen, sobald ich ihn als solchen richtig erkannt hatte.

Natürlich verlief der hier in Stichworten nachskandierte Prozess des Innewerdens und damit Neuwerdens nicht so einfach und geradlinig, wie ich ihn hier geschildert habe. Aber dem Sinne nach verlief er genau so. Und das wenige Gesagte dürfte genügen, um meine Leser ermessen zu lassen, eine wie furchtbare nicht nur äußere, sondern gerade innere Katastrophe Weltkrieg und Weltrevolution für mich bedeutet haben. Vor 1916 hatte ich für mich tatsächlich, trotz aller soziologischen Bücher, die ich gelesen (während des Weltkrieges studierte ich an Hand der herrlichen großväterlichen Bücherei, die ich laufend ergänzt hatte, unter anderem Volkswirtschaft und Jura nach, und Sombart z. B. hatte ich noch in Heidelberg gelesen) die Frage gar nicht gestellt, ob es ein Unrecht sei, dass ich selbstverständlich als großer Herr lebte, während die Massen, zumal in Russland, darbten und geknechtet wurden. Mir eignete damals die typische scheinbare Hartherzigkeit, die aber in Wahrheit nur eine Kunst des Ignorierens unliebsamer Tatsachen bedeutet und meist mit großem Wohlwollen und Zartgefühl zusammengeht, aller privilegierten Schichten aller Zeiten; und zu meiner Existenzform fühlte ich mich desto berechtigter, als die Muße, welche sie gewährte, mir die Grundlage schuf für ein Leben auf rein geistige Ziele hin. Nun fiel es mir immer mehr und schneller wie Schuppen von den Augen. Ich sah ein, dass die russische Revolution, so viel Schönes sie vernichtete, andererseits berechtigt war. Damit aber reifte ich der Betätigung entgegen, welche nach dem Zusammenbruch meiner ganzen früheren Lebensbasis zur Achse meines Weiterlebens werden sollte. Doch da ich nun einmal nur total erleben konnte, so zeigten sich damals zugleich die Vorboten vieler anderer für mich neuer allgemeiner Erkenntnisse. Ich sah ein: die Welt ist ganz anders, als meine instinktive Weltanschauung sie wahr haben wollte. Durchaus nicht alles führt irgendwie zum Guten, wie es noch im Udaipur-Kapitel des Reisetagebuchs zu lesen stand. Die Einsichten, die erst in den Südamerikanischen Meditationen und dann im Buch vom persönlichen Leben klaren Ausdruck gewannen, keimten damals. Wieder und wieder aber half mir das Bild und Sinnbild Leo Tolstois bei der ersten Visualisierung und Fixierung der Wirklichkeit, so wie sie wirklich ist. Keinen Augenblick entwertete mir der erkannte Bolschewismus des gewaltigen Dichters das, was ich an ihm bewunderte und liebte: die Schau der ungeheuren Widersprüche seiner Natur half mir vielmehr zur Anerkennung dessen, dass jedes Menscheninnere gleichzeitig und in allen großen Fällen gleich stark Himmel wie Hölle in sich birgt, und dass kein Teil preisgegeben werden kann, ohne dass das Ganze verdürftigt und geschädigt würde. Auch in mir lebte ja offenbarer Zerstörungswille; so weit ich neu werden konnte nach diesem großen Zusammenbruch, wollte ich es auch, und insofern musste auch ich die furchtbaren Begleiterscheinungen jeder Geburt bejahen. Auch ich war unter anderem unzweideutig böse, auch in mir war als Möglichkeit all’ das vorgebildet, was mich am anderen Tolstoi abstieß. Ja sogar ich hätte in Augenblicken des Verzagens, sofern ich mich gehen ließ, dem Beispiel Tolstois folgen können: mein Herrendasein verleugnen, ganz die Partei der vormals Unterdrückten nehmen, Niedriges fortan hoch heißen, oder aber die Flucht ergreifen können aus einem unabwendbar bösen Leben. Doch meine Grund-Natur zusammen mit dem Bewusstsein meiner ganz andersartigen Bestimmung behielten die Übermacht. Schon damals erfasste ich unbewusst, dass die positive Lösung aus der Drangsal nur im Geborenwerden eines völlig Neuartigen bestehen kann und dass es nur einen Weg gibt, dieses vorzubereiten und auszulösen: dass der Mensch sämtliche Erfahrung, alle äußere wie alle innere, in sich zur Befruchtung hineinlasse, alle auf Vorurteilen beruhenden Schranken freiwillig preisgäbe, sich ganz so anerkenne wie er ist, und vor allem alle Spannungen aushalte, vor nichts und nach keiner Richtung hin die Flucht vor der Wirklichkeit ergreife: so allein könne und werde ein neuer konkreter Mensch entstehen. In diesem neuen konkret-Lebendigen und keiner Theorie, keiner Weltanschauung und keiner Religion als solcher liegt — so fühlte ich dunkel damals schon — die Endlösung dieser Weltkrise. Deren Seinsgrund und Grundmotiv ist darum auch ein ganz anderes, viel Größeres, Tieferes als alles, was das Bewusstsein der Mehrheiten irgendwo begriffen hat: es ist die Revolte der Erdkräfte, der Wiederaufstieg der Titanen aus dem Tartaros, in welchen sie Zeus hinabgeschleudert hatte, die erste Bedrohung der lichten Götterwelt durch diese.1 Und kein eindeutiger Sieg oder Sieg von Einseitigem wird da Heil bringen: dieses kann einzig und allein von einer neuen Zusammenfassung und gegenseitigen Durchdringung der Geist- und Erdkräfte kommen. Da mein ganzes Sinnen und Trachten seither das hier kurz Skizzierte als meiner Überzeugung nach einzig erstrebenswertes und grundsätzlich erreichbares Ziel verfolgt hat, welches jenseits aller bisher sichtbaren Zeitströmungen mit deren Zielsetzungen liegt, so ist es kein Wunder, dass kaum jemand bisher anderes als Teilaspekte meines Wesens und Wollens und Vollbringens verstanden hat. Nikolai Berdjajew, welcher, insofern er ähnlichen Ursprungs ist wie ich (nicht dem Blute, wohl aber der Grundkonstellation nach, auch mein Vater war griechisch-orthodox und hatte die Mentalität eines Orthodoxen) und Ähnliches erlebt hat, mich eigentlich einigermaßen verstehen müsste, schrieb mir 1936 — und dabei kannte er mich persönlich lange schon:

Ich habe jetzt herausgebracht, warum ich Sie so schwer verstehe. Der Kampf zwischen Erde und Geist tobt nicht nur außer, sondern auch in Ihnen. Sie sind selber sehr erdhaft. Und es ist nicht deutlich, dass Sie überhaupt zum reinen Geist hinwollen. Ich antwortete ihm: Mit Ihrer Feststellung haben Sie nicht unrecht, jedoch Sie verkennen mein Ziel. Sie bekennen sich für sich noch zum Ideal weltflüchtiger Heiligkeit. In dieser Weltphase aber tut ganz anderes not. Gerade weil ich selber Schauplatz des Kampfes zwischen den Erd- und Geisteskräften bin, glaube ich eine Sendung zu haben.

In späteren, zur Zeit, da ich dieses schreibe, noch nicht einmal geplanten Kapiteln dieses Erinnerungsbuches werde ich sicher noch oft von anderen Ausgangspunkten her und auf andere Ziele hin auf die Weltkrise zurückzukommen haben. Diese Studie halte ich aber für besonders wichtig, weil sie deutlicher macht, als ein in Mittel- oder Westeuropa Geborener aus seinem Erleben heraus machen könnte, welcher Abgrund die Nachkriegswelt von der ihr vorausgehenden scheidet. Alle Deutungen, die nicht von dieser Erkenntnis ausgehen, bleiben an der Oberfläche haften. Darum bedeutet auch Nietzsches Prophetentum nicht annähernd so viel, als es im Deutschland der dreißiger Jahre des XX. Jahrhunderts gegolten hat. Nietzsche verkörpert in sich nur den Übergang vom deutschen Bildungszeitalter zur Naivität der mit dem Hochkommen des vierten Standes beginnenden frischen und unverbrauchten, aber dennoch vom alten deutschen Geist innerlich bedingten Kräfte. Die wahre Problematik der Weltrevolution ist apokalyptischen Geistes und Formats. Nur äußerste Spannung zwischen äußersten Gegensätzen kann einer Neugeburt zuführen, mit deren Eintreten alle neue positive Zukunft des Menschengeschlechtes steht oder fällt. Das häufigst gebetete Gebet der Inder beginnt mit dem Vers:

Aus dem Unwirklichen führe mich zur Wirklichkeit.

Die schöne Welt, welche Tolstoi schildert, war, von der heute möglichen Bewusstseinsstufe aus geurteilt, eine Welt der Unwirklichkeit, denn es bedeutet Verblendung, um der eigenen schönen Lebensform willen das Übrige nicht zu sehen und das im Verhältnis ganz Kleine, welches jene verkörpert, wichtiger zu nehmen als das kosmisch Große. Im gleichen Sinne kam auch ich von dieser Welt der Unwirklichkeit her. Weil dem so ist, darum ist mir die Selbstverwirklichung zum kategorischen Imperativ geworden. Doch ich bin dem Schicksal tief dankbar dafür, dass ich in einer einzigen Inkarnation Zeitgenosse der homerischen Ära mit ihrer selbstverständlichen Sicherheit anerkannter Schönheit, der Renaissance und Barockzeit mit ihrer totalen Erfüllung sämtlicher Strebungen der Menschennatur auf den Höhen überschwänglichen und dennoch kunstgeformten Lebens, und endlich des allzerstörenden Kali-Yuga sein durfte2.

1 Genau herausgearbeitet habe ich diesen tiefsten Sinn der Weltrevolution in meinem 1933 geschriebenen französischen Buch La Révolution Mondiale et la Responsabilité de l’Esprit (Paris, Editions Stock).
2 Vollendet Schönhausen, 27. 12. 1939
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME