Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

III. Puritaner - Reinheitsideal

Die zweitwichtigste Komponente alles Puritanismus ist sein Reinheitsideal. Ich sage die zweitwichtigste, weil der Primat des Reinheitsgedankens in ihm wohl erst von dann an, dann aber von Jahr zu Jahr stärker in die Erscheinung getreten ist, nachdem das Wort Puritanismus das Unbewusste ergriffen hatte, womit die Reinheit zu einem Ideal wurde. Das war in der Zeit der Religionskriege und so lange nachher, als das religiöse Motiv in den Seelen vorherrschte, die reine Lehre: später aber dissoziierte sich die Reinheitsidee von diesem bestimmten Inhalt und ging zuletzt die allerseltsamsten Anastomosen ein, wovon später mehr. Nur so viel hier schon: daher vor allem die Tatsache, dass in den Theologien der französischen und deutschen Protestanten, und später auch der englischen, das Wort Reinheit keine vorherrschende Rolle gespielt hat und dass in Europa die für Amerika charakteristischen Grotesken des Reinheitskultes ungeboren geblieben oder jedenfalls nicht zu erheblicher Machtentwicklung gelangt sind.

Mit dem Reinheitsideal überhaupt nun hat es eine, ich möchte sagen bedenkliche Bewandtnis. Absolute Reinheit gibt es hienieden nicht; Reinheit wird, was immer man dagegen sage, so weit meine Geschichts-Geographie- und Seelenkenntnis reicht, beinahe ausnahmslos nicht als Gegensatz zu dem, was normaler Weise da ist, vorgestellt, sondern als dessen Verhüllung. Bezeichnenderweise ist bei Nacktkulturen von körperlicher Reinheit kaum je ausdrücklich die Rede; wahrscheinlich versteht sie sich hier von selbst, da ja in diesem Fall die Haut die Hülle bedeutet. Sogar Göttinnen und Engel tragen ein weißes Gewand; keine mir bekannte Mythologie insistiert auf der Reinheit dessen, was darunter liegt. Und bedenke ich mir’s recht nach allen Seiten hin, so gelange ich zu dem Schluss, dass die Reinheit als Ideal die psychologisch wahrscheinlich unberechtigte, weil dem wahren seelischen Tatbestand nicht Rechnung tragende Versubstanzierung der weiblichen Freude am Reinemachen, zu deutsch besser noch: am Saubermachen bedeutet. Da ich in Benares, der wahrscheinlich schmutzigsten wenn auch heiligsten Stadt der Erde weilte, freute ich mich einer Novelle Rudyard Kiplings, die mir dort zufällig in die Hand geriet: darin beherrschte ein Mädchen, welches der Autor als die Nachkommin von Generationen sauberer englischer Hausmütter schildert, beim Besuche von Benares nur der eine Gedanke, wie herrlich es sein müsste, all den Dreck wegzuscheuern. Gleichsinnig bin ich überzeugt, dass es nirgendwo auf Erden noch Patina gäbe, wenn der Mann dem weiblichen Sauberkeitsfimmel nicht gesteuert hätte: mir allein, der ich sehr wenige Kunstwerke besitze, ist es zwei Male passiert, dass eine Magd mit zusammengebissenen Zähnen, aber leuchtenden Augen die Patina uralter Bronze fortzuscheuern begann. Heute bin ich überzeugt: ginge es nach dem natürlichen Hang des Weibes, aller Staub auf den Flügeln aller Schmetterlinge würde von der Weiblichkeit aller Länder jedes Frühjahr bei einem als Fest empfundenen Großreinemachen fortgefegt. Denn dass das Großreinemachen urweibliches Ideal ist, wird keiner bezweifeln, welcher je die weihevolle Stimmung vor der Wäsche bei den arbeitenden Frauen jedes Hausstandes beobachtete. Damit erweist sich, dass das Ideal der Reinheit, auf seine Triebwurzeln hin beurteilt, zu den spezifisch weiblichen Idealen gehört, womit wir wieder eine merkwürdige prädestinierte Harmonie zwischen Puritanismus und weiblicher Psyche feststellen. Darüber hinaus aber gehört es in die Kategorie der Tierideale. In höchstem Grade kennzeichnet der Reinlichkeitstrieb die Nutria; kaum geboren, beginnt diese sich zu putzen und hört damit bis zu ihrem Tode, von den Mahlzeiten natürlich abgesehen, sozusagen nur in ihren Mußestunden auf. Unter jedermann genau bekannten Tieren steht in dieser Hinsicht die Katze an erster Stelle; ich nenne sie vor den tatsächlich noch reinlicheren Vögeln, weil der letzteren Reinlichkeit (zum mindesten auch) Nützlichkeitsgründe hat — mit verklebten Federn ist Fliegen unmöglich — was vom Reinlichkeitstrieb der Katze, geschweige denn des Menschenweibchens, nur in geringem Grad behauptet werden kann. Hier nun, wie in so vielen Fällen, übersteigert Nordamerika das überall Vorhandene oder Vorkommende bis zur Absurdität; sehr natürlicher Weise, weil Amerika das eine unbedingt vom Geist der Frau beherrschte Land ist. Bei der Hauseinrichtung wird dort so getan, als habe der Mensch keine natürlichen Bedürfnisse; desinfiziert wird, bis keine Stoffaser mehr hält; und die Datteln, welche mein Freund Charles R. Crane in Arabien aufgekauft hatte, um sie in Kalifornien neu anzupflanzen, was gut gelang, und zu Konserven verpackt verkaufte, waren, wie ich schon in Städter und Urnaturen erzählte, bei der Zubereitung von allen Mikroben so gründlich gesäubert worden, dass beinahe aller Dattelgeschmack dadurch ausgemerzt war.

Der Mann hat nun für sich wohl nie besonders viel von Reinlichkeit gehalten, so wie die Frau sie versteht; er liebt, fördert und fordert sie bei ihr gerade als Differenzialkennzeichen des weiblichen Geschlechts; darum soll die Jungfrau rein sein und soll die Frau möglichst wenig vom spezifisch männlichen Leben unter Männern wissen. Beim Mann entspricht der Sinn für Disziplin und Ordnung, für fein säuberliche Unterscheidung, ja für Strenge und Härte psychologisch dem, was der Frau die Reinlichkeit bedeutet. Selbstverständlich mag auch der gebildete Mann Verunreinigung nicht — obgleich hier als sehr gewichtiges Gegenargument der Hang zur Pornographie und Zote anzuführen ist, welcher wohl allen Männern eignet und welcher bei ihm auch natürlich wirkt, während er bei Frauen abstößt. Im Mann scheint der tierische Sinn für Schmutz fortzuleben, dessen bestes Sinnbild unter höheren Tieren die Art des Schlafens des Hundes darstellt, als welcher, obgleich er das feinstorganisierte Nasentier ist, beim Schlafen die Schnauze an den After hält — genau wie bei der Frau der tierische Sinn für Sauberkeit. Spricht ein Mann von seinem Standpunkt von Reinheit, was er freilich selten tut, denn hier wie in so vielen Hinsichten ist er von weiblicher Psychologie infiziert, so meint er ursprünglich anderes mit dem Worte als die Frau. Er meint Kants reiner Vernunft Entsprechendes. Ähnlich verstanden es die ersten Puritaner auch. Sogar das ursprüngliche Ideal der reinen Wahrheit ist hierzu zu rechnen: dies bedeutet unbedingt behauptete, einseitige und damit harte und rücksichtslose Wahrheit. Die Ideale der Reinheit und der Wahrheit, in einer Synthese vereinigt — und meist sind sie das bei ihm zusammen, man denke z. B. an den reinen das heißt aufrichtigen und aufrechten Toren — bedeuten dem Manne klare Abgegrenztheit, Aufrichtigkeit, Befreitheit von Beimengungen, die nicht dazu gehören und damit letztlich Sachlichkeit — was sie der in allen möglichen persönlichen Beziehungen denkenden Frau ursprünglich nie bedeuten. Auf das reine Kleid kommt es an, nicht auf den nackten Leib, der gar nicht gezeigt werden darf; eine Frau, welche nicht selbstverständlich lügt, wenn Unliebsames dadurch verdeckt werden kann, wirkt auf jeden Mann unweiblich. Die heute im Westen vorherrschenden Reinheitsbegriffe und -ideale scheinen mir Kompromisse darzustellen zwischen männlicher und weiblicher Psychologie. Auch der Mann stellt das Reine instinktiv weiß dar, obgleich das Schwarze an sich genau so rein sein kann: das ist sicher eine Reminiszenz an sein frauenbeherrschtes Kinderzimmer. Der Bevorzugung des Weißen als Reinheitssymbol dient auch das Motiv, dass weiß nur dann rein scheint, wenn es unbefleckt ist: an diesem Punkte begegnen sich, von verschiedenen Richtungen her kommend, männliche und weibliche Psychologie. Denn Unbeflecktheit heißt auch: von nicht zugehörigen Beimischungen frei.

Immerhin hat der Reinheitskult wirklich tolle und spektakuläre Blüten dort allein getrieben, wo irgendwie, direkt oder indirekt, der Geist der Frau vorherrschte, zumal wenn dieser sich dem animus (Jung), dem ewigen Rechthaber, der in ihrem Unbewussten lebt, verschrieb. Da waltet er ganz von seiner natürlichen Grundlage losgelöst. Die lehrreichsten Beispiele dessen bietet Amerika. Was konnte wirklichkeitsferner sein, als der amerikanische Idealismus? Hier könnte man ein bekanntes lateinisches Sprichwort dahin paraphrasieren: es lebe das Vorurteil, es sterbe alle Wirklichkeit! Hier empfehle ich meinen Lesern, um mir selber lange Ausführungen zu ersparen, die ich überdies schon im Kapitel Moralismus von Amerika — dessen deutscher Titel ist übrigens nicht sinngemäß, der ursprüngliche englische America set free war gut und der neue französische Diagnostic de l’Amérique et de l’Américanisme trifft ihn am besten — gegeben habe, Santayanas Roman Der letzte Puritaner zu lesen, weil dieser besonders plastisch zeigt, wohin sich Idealismus puritanischen Ursprungs bei Vorherrschaft weiblicher Psychologie versteigen kann. Nicht nur bricht die weibliche Hauptperson des Romans, die Mutter des Helden, selbstverständlich mit jedem ihr noch so Nahestehenden, wenn er sich als ihrem Ideale nicht entsprechend erweist, wobei sie sich nicht einmal die Mühe gibt, den Fall vorher genau zu untersuchen, um ihm gerecht zuwerden: sie freut sich des Brechenkönnens und fühlt sich gut dabei. Das ist ein entarteter Ausdruck der ursprünglich puritanischen Ichzentriertheit, woselbst das mächtige Auserwähltheitsgefühl des Glaubenshelden durch dünnen Ideal-Kult ersetzt erscheint und die harte Selbstzucht jenes, die sich gegebenenfalls reformatorisch durchsetzt, durch gläsern-starre Abhängigkeit von Vorstellungen einer Welt, wie sie sein sollte und von der sich der Mensch feige zurückzieht, wenn sie ihn enttäuscht. Der Idealist in diesem Sinne ist nämlich immer ein verkappter, aber desto minderwertigerer Egoist; wer mit anderen ob ihres Versagens dermaßen leicht bricht, schafft damit eine Ersatz-Hinrichtung seiner eigenen Minderwertigkeit. Frauen dieser Art nun sind überall auf Erden zahlreich, wo der Orts- und Zeitgeist überhaupt Kultur der Ich-Zentriertheit ermöglicht. In meiner Heimat habe ich so manche gekannt und auch unter weiblichen englischen Intellektuellen; sonst verhindert bei Engländern common Sense und sense of proportion in der Regel solch schäbigen Idealismus. Aber wie floriert er in seiner niedrigsten Form in USA! Wo sich Frauen ohne weiteres von ihrem Manne scheiden lassen, weil ihnen diese oder jene Charaktereigenschaft nicht passt, wo sie keine Publizität scheuen, wenn es um ihr Recht geht, da bedeutet es allemal Ich-Idealisierung; und vertragen sie soviel Aufwühlung von Schmutz, so ist es, um im Rampenlichte desto reiner dazustehen. Nahe, ja unlösbar damit zusammen gehört der Wahrheitskult amerikanischer Frauen; alles ist erlaubt, wenn man es nur offen ausspricht, jede Herzlosigkeit ist entschuldigt, wenn sie dem Partner nur offen ins Gesicht gesagt wird. Hier erscheint das Vorurteil des die-Wahrheit-Sagen-Müssen um jeden Preis als von allem Leben losgelöster autonomer Komplex, mit diesem identifiziert sich das Ich zum Zweck der Selbstverherrlichung und indem es insofern einem Ideal zu dienen glaubt, fühlt es sich auserwählt. Solche Frauen lügen in allen wesentlichen Hinsichten natürlich am meisten. Ich rate meinen Lesern zu folgendem psychologischen Experiment: sobald eine Frau dauernd behauptet, immer die Wahrheit zu sagen, dann schließe er daraus unmittelbar auf tiefe Verlogenheit. Ich habe diese Voraussetzung in hundert Prozent aller mir bekannten Fälle bestätigt gefunden. Hier liegt ja auch die Wurzel der angelsächsischen Heuchelei.

Doch am possierlichsten und lehrreichsten zeigt sich der ursprünglich-puritanische, aber nun entartete Reinheitskult, wo er von reinem Glauben auf das reine Geschlecht übertragen in die Erscheinung tritt. Weniges ist leichter zu verstehen als solche Übertragung. Ruht in einer zutiefst puritanischen Seele der Nachdruck auf dem Bestandteil pure, dann kann alles, was pure ist, ohne weiteres positiv bewertet werden, unter anderem pure sex. Daher die in der Weltgeschichte so nie dagewesene und schlechterdings unerreichte Schamlosigkeit der flapper-Generation in den Vereinigten Staaten, welche ich gut gekannt habe, deren Sittenkodex forderte, sich des Reinen nicht nur nicht zu schämen, sondern dieses nach Möglichkeit zu zeigen. Und ihre Apotheose erlebte diese bizarrste aller Formen von Puritanismus im D. H. Lawrence-Kult. Leider bin ich Lawrence nicht persönlich begegnet, doch da ich mit Verwandten und Freunden von ihm befreundet bin, so weiß ich wohl das Wichtigste von ihm. Der bedeutende Schriftsteller, insonderheit der Schöpfer der genialen Gefiederten Schlange steht hier nicht zur Diskussion. Aber wie ist der nahezu religiöse Kult zu erklären, der mit dem schlechten Buche Lady Chatterley’s Lover jahrelang getrieben wurde? Und dies zwar nicht allein in angelsächsischen Ländern, sondern sogar in Südamerika, dem Land der keuschesten Frauen, ja in Spanien? Lawrence’ vogue bei Engländern und Amerikanern ist restlos zu erklären durch die gefällige Umdeutung, die ihr angeborener Puritanismus durch ihn erfuhr. Denn Lawrence selber war Puritaner durch und durch. Dementsprechend war sein besonderer, eher merkwürdiger, weil völlig unnaiver, gänzlich unantiker Phallus-Kult nur hochwillkommenes Ausfallstor für langverdrängte Triebe. Ein Phalluskult anderen Ursprungs und anderer Artung hätte unter angelsächsischen Frauen auch niemals Jüngerinnen gefunden — er wäre ihnen nicht rein genug erschienen, so viel reiner jeder heidnische tatsächlich ist. Woher aber die Begeisterung der Spanierinnen und Südamerikanerinnen für Lawrence? Dieser Frage bin ich mit indiskreter Unmittelbarkeit nachgegangen und habe, wie ich’s erwartete, anstatt klarer Antworten Affektausbrüche zu hören bekommen. Wahrscheinlich liegen hier die Dinge so. Die Tradition und Konvention südlicher Völker verlangt von ihren Frauen, allem nordischen Vorurteil zum Trotz, völlige sinnliche Kälte. Und sie sind auch kalt. Andererseits aber sind sie selten seelisch gespalten, wie es im zwanzigsten Jahrhundert die meisten Menschen nordischer Breiten sind; in ihnen lebt antike Ganzheit fort. So sehen sie im Phalluskulte unwillkürlich ein Ähnliches, wie es die Griechen und die Inder sahen: ein äußerlich Irreales jedoch innerlich Wirkliches, wie beim Madonnenkult.

Von hier aus lassen sich viele Aspekte der Gespaltenheit überhaupt verstehen, welche leider die meiste intellektuell-bewusste Menschheit in irgend einer Form kennzeichnet. In Spanien gab es vor kurzem überhaupt nur, par définition, entweder die ganz reinen oder aber die rettungslos gefallenen Frauen. Diesen aber redete der Priester pflichtgemäß ein, dass die Frau allemal die Verführerin sei, dass sie allein alle Schuld trüge und dass die furchtbarsten Folgen zur Sühne niemals hart genug seien. Ich entsinne mich eines ergreifenden Beispiels dessen. Ein Freund von mir ging in irgend einer Provinzstadt in ein Freudenhaus, in welchem er ein bezauberndes Mädchen fand. Er wollte sie besonders reich beschenken. Sie jedoch lehnte ernst ab, auch nur einen centimo über den sehr niedrigen Tarif hinaus zu nehmen. Warum? Weil ich damit meine Schuld schneller abzubüßen hoffe. In meiner Jugend und Heimat herrschte in der Vorstellung des Mannes die simplistische Polarität Gebild aus Himmelshöhen — schmutzige Prostituierte. Und zwar waren gerade die extremsten Idealisten und strengsten Puritaner in bezug auf die Frauen ihres Kreises gleichzeitig oft die rohesten Hurenbolde. Es ist eben keine Ganzheitskultur möglich, ohne dass die ganze Schöpfung, so wie sie ist, gleichmäßig bejaht werde. Das bedeutet in unserem Kulturkreis die Liebe in Christo. Hier liegt der absolute Vorzug jeder katholischen vor jeder protestantischen Kultur — beide im weitesten überkonfessionellen Sinn verstanden. Aber die christlich-katholische Kultur ist selbstverständlich noch viel zu eng verglichen mit der idealen, welche den ganzen Menschen im ganzen Kosmos richtig einstellen würde, denn der auf äußere Tatsachen gerichtete westliche Geist hat bisher nie so weit durchschauen können, dass er nicht in irgendeiner Form von Einseitigkeit erstarrte. Dies gilt sogar von der anatolischen, der griechisch-katholischen Kirche, obgleich diese als einzige dem ursprünglich-christlichen Geist der Liebe treu blieb und in allen Dogmen und Lehren Sinnbilder sah. Bei ihr hat der hellenische Parteigeist verdorben, was Philosophen — das nämlich waren die ersten anatolischen Kirchenväter — noch so schön begründet hatten. Dem Ideal einer allumfassenden Religion kommt heute der Hinduismus am nächsten, insofern er wirklich alles Protestantische und Puritanische als einseitigen Aspekt möglicher Weltanschauung und Lebensgestaltung in sich begreift und Geist und Fleisch beide als geweiht, seine Götter sowohl böse als gut vorstellt. Natürlich sind sie beides. Und es bedeutet glatte Verlogenheit, wenn der Christ einem Gott, welcher die Hölle gut heißt, Güte zuerkennt. Aber aus dem Hinduismus wird doch schwerlich je die allumfassende Religion, die mir als ideales Ziel vorschwebt, erwachsen, weil er den einen Generalnenner nicht entdeckt und sich nicht zu ihm bekannt hat, welcher wirklich als Generalideal figurieren kann: das Ideal der Schönheit. Darüber habe ich mich ausführlich im Florentiner Vortrag Culture de la Beauté (in Sur l’art de la Vie) und im Kapitel Das Leben als Kunst des Buchs vom persönlichen Leben geäußert. Das Ideal der Schönheit ist zugleich das Ideal der Vollendung, in welcher Form auch immer, auch in der der Häßlichkeit. Es ist das Ideal der Integrität und Integralität. Das ewig Vorbildliche des Griechentums war dessen einzig dastehender Schönheitskult und ihm verdankt die anatolische Kirche ihre allumfassende Weite. Denn von der Schönheit und von ihr allein her lässt sich die ganze Schöpfung liebend ergreifen. Und wenn sie als Ideal gilt, kann der schönheitsfeindliche Puritanismus niemals hochkommen und damit das Harte nie zu unwiderruflich Bösem und Häßlichem werden.

Hiermit wären wir denn zu der einerseits persönlichen, anderseits allgemein-menschlichen Problematik zurückgelangt, um derentwillen ich diese Betrachtungen mit ihren vielen und verschiedenartigen Aussichten auf farbig-Konkretes angestellt habe. Die Moral der ganzen Geschichte ist natürlich die, dass das Beste schlecht und böse wird, wenn es sich einseitig entfaltet und auslebt. Jede an sich positive Kraft wird zerstörerisch, die sich außer Zusammenhang auswirkt. Gleichsinnig aber schlägt auch das Negativste früher oder später, auf noch so seltsamen Umwegen, in ein Positives um oder zurück. Damit behaupte ich freilich keineswegs, dass alles zum Guten führe. O nein. Der Umweg mag in völlige Zerstörung alles Guten ausmünden und neues Positives erst Jahrhunderte oder Jahrtausende später aus einem Humus sprießen, in dem alle einseitige Gestaltung in der Auflösung sich selbst vergessen hat. Aber dem westlichen Menschen fällt es bitter schwer, den weiteren Zusammenhang ins Auge zu fassen. Immerhin sollte eine Einsicht als Heilmittel gegen die schlimmsten Fehlurteile wirken können: dass es bei allem Geschehen weit mehr auf die Mittel als auf die Ziele ankommt. Letztere werden nämlich so gut wie nie, so wie sie intuiert werden, erreicht. Beinahe alles Welten-Karma geht darum auf die angewandten Mittel zurück. Von hier aus ersieht man denn mit abschließender Klarheit, warum der Puritanismus, der sich viel tatkräftiger als jeder Jesuitismus zum Dogma, dass der Zweck die Mittel heilige, bekannt hat, so entsetzlich viel Leid geschaffen hat. Wem das nicht sofort einleuchtet, der mache sich klar, dass heutzutage der reinste Ausdruck von Puritanismus in vielen Hinsichten der Bolschewismus ist. Ihm gilt der Proletarier als auserwählt, der Schlechtweggekommene für besser als der von der Natur Bevorrechtete; keine andere Religion hält heute annähernd so stark an der reinen Lehre fest, keine setzt ihre Ziele, die dem Heil aller Menschen dienen sollen, mit gleicher Härte und Rücksichtslosigkeit durch. Der bisher geglückteste Versuch, das Puritanische so in das Gesamtleben einzubauen, dass es rein positiv wirkt, stellt die Armee dar. Ihr Prinzip ist Härte, ihr Weg ist Töten und Getötetwerden, die militärische Disziplin sieht von allen gefühlsmäßigen und überhaupt persönlichen Erwägungen ab. Ins Zivilisatorische zurückgedeutet wäre die Armee eine moralistische Gemeinschaft von absolutem Auserwähltheitsbewusstsein, gepaart mit supremem Reinheitskult. Aber im Gegensatz zum historischen Puritanismus spielt der Eigennutz gar keine Rolle in ihr, die Opferbereitschaft überwindet vielmehr allen Eigenwillen, das Ziel ist allemal einem höheren Ganzen zu dienen und vor allem: die Armee will als solche nur ein Teil des Volkes sein, oder aber das Ganze nur in bestimmter Ziel-Einstellung. Sie ist wohl im Fall allgemeiner Wehrpflicht das Volk in Waffen, aber andererseits auch das Volk nur, wenn es in Waffen ist und kämpfen muss. Darum wirkt der echte Soldat als wesentlich edel. Er ist niemals Puritaner im üblen Sinn, auch wenn er zu Cromwells Ironsides oder Ibn Sauds Wahabiten gehört. Demgegenüber verkörperte das als ganzes Volk einseitig auf Härte und Auserwähltheit in allen Lebenslagen eingestellte Spartanertum letztlich Böses und darum hat es auch, trotz aller Verherrlichung durch Plato und Spätere, als einziges griechisches Gen von Bedeutung gar nicht fortgelebt. Daher zweifle ich an einer dauernden Zukunft des puritanischen Geistes in Amerika. Wahrscheinlich werden die Amerikaner puritanischer Überlieferung ebenso schnell ausgestorben sein, wie dies ihrerzeit von den echten Spartiaten galt. Trotz aller Eugenik, Züchtung, Zucht, Erziehung und Ertüchtigung hat sich nämlich — darüber lese jeder im herrlichen Sparta-Kapitel von Jacob Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte nach — die spartanische Rasse in Griechenland am kürzesten von allen gehalten. Nicht nur symptomatisch, sondern symbolisch in diesem Zusammenhang erscheint mir, dass es demgegenüber echte Nachkommen gerade der Messenier, mit denen die Spartaner am häufigsten und unerbittlichsten Kriege führten, in ihrer alten peloponesischen Heimat noch heute gibt. Einseitiger und ausschließlicher Puritanismus bedingt eben Akzentlegung auf Abgeschnürtes oder Abgespaltenes und indem sich alle Lebenskräfte in diesem zusammenziehen, ersticken sie schließlich. Wenn ich mir’s recht bedenke, so hat eigentlich das Mönchtum, so anderen Wurzeln es entsprossen ist, die Idee eines reinen Puritanismus am sinngerechtesten weil am wenigsten lebensfeindlich verwirklicht. Der Mönch, der aus dem saeculum zurückgezogen ausschließlich seinem Seelenheile lebt, zieht aus seiner Abgespaltenheit die richtige Konsequenz. Er will nur eine bestimmte Rolle im Lebensganzen spielen, seine Einseitigkeit ist auf das Positive gerichtet, das er tatsächlich vollbringen kann, und auf das, was nicht seines Geistes und seiner Kompetenz ist, greift er gar nicht über. Weder will er sich fort pflanzen, noch Macht ausüben, noch über die Lebensfreudigkeit der im saeculum Verbliebenen zu Gericht sitzen. Sobald freilich Mönche nach weltlicher Macht streben und solche gar in hoher Stellung ausüben, wirken sie mit seltenen Ausnahmen Unheil. Das hat man zumal in Byzanz erlebt und in modernen Zeiten in Russland. Hier denke ich am wenigsten an die berühmten Vertreter schwarzer Geistlichkeit in der russischen Geschichte, auch nur zum Teil an Rasputin, um so mehr jedoch an Leo Tolstoi. Dessen Moralismus entsprach nämlich, worauf mich Adolf Harnack einmal aufmerksam machte, der lebensfeindlichen Gesinnung eines griechischen Mönches. Auf diesem seltsamen Umwege ist Tolstoi dahin gelangt, zum geistlichen Vater des Bolschewismus zu werden. Woran wir, indem wir an das Tolstoi-Kapitel zurückdenken, wieder einmal sehen, wie vieldeutig jegliche Erscheinung ist. Die allem Mönchtum bewusst feindlich gesinnte und dieses ersetzen-sollende innerweltliche Heiligkeit der ersten Puritaner, in welchen Glaube und Geschäftssinn zentaurenhaft-harmonisch zusammenlebten, musste zwangsläufig, wenn sie einmal entartete, zu einer wesentlich selbstbelügenden, darum einerseits heuchlerischen, andererseits skrupellos ausbeuterischen Einstellung ausarten. Ich für meine Person kenne nichts, was mich unter Menschen mehr abstößt oder anwidert, als solch’ entarteter Puritanismus. Und wahrscheinlich liegt es daran, im Zusammenhang mit dem bisher unbesiegten Puritanismus in mir selber, dass ich für mich dermaßen extrem das Ideal des Grandseigneurs vertrete, wie ich’s im Ungarn-Kapitel des Spektrum Europas dargestellt habe. Der Grandseigneur ist eben der eine und bisher einzige bekannte Menschentypus, zum mindesten unter Weißen, welcher das ganze Leben zu bejahen vermag, vom reinen Geiste bis zur reinen Natur, und dazu in einem Geiste, der friedvolle Vereinigung ermöglicht, nämlich in dem der Schönheit. Von der Liebe her ist Allumfassendheit nur theoretisch möglich, so wie n-dimensionale Räume möglich sind, denn alle vorstellbare Liebe ist exklusiv. Sogar der reine Gott der Liebe muss Feinde haben und setzt diese durch seine bloße Existenz. Im Geist der Schönheit jedoch vermag alles wenn nicht im Augenblick harmonisch vereinigt zu werden — alles Leben bedarf gerade um der Vollkommenheit der Melodie willen der Dissonanzen —, so doch in Schönheit auszuklingen. Daher die einzigartige Größe und Vorbildlichkeit der Zeiten und der Länder, in welchen jener Geist vorherrschte: Alt-Griechenlands, der besten Epochen Chinas, unseres Renaissancezeitalters. Daher umgekehrt der Gesamteindruck der Leere und Lieblosigkeit und Häßlichkeit und Finsternis, den alle puritanischen Perioden entweder gleich oder in ihrer Nachwirkung hinterlassen: das Schauerliche der Weltrevolution gehört als Ausklang notwendig und unbedingt in das puritanisch inspirierte eherne Zeitalter, das man gemeiniglich Fortschrittszeitalter heißt, hinein.

Wir scheinen nach vielen Wegen und Umwegen zu einem gewissen Abschluss gelangt zu sein. Doch der Schein trügt: in Wahrheit schließen wir hier mit einem großen Fragezeichen. Auch der Generalnenner der Schönheit ist kein wirklicher Generalnenner für alle Strebungen des menschlichen Lebens, denn erstens stehen, wie im Kapitel Delicadeza der Südamerikanischen Meditationen dargetan wurde, Schönheits- und Wahrheitsstreben de facto, wenn auch nicht notwendig in der Idee, in unversöhnlichem Gegensatz, dann und vor allem aber ist der reine Ästhetiker — und er allein kann sich ausschließlich zum Schönheitsideal bekennen — ein nur Schauender und damit Zuschauender. Der einzige Zeuge aber (Zuschauer-Zeuge), welcher das Ideal des ganzen Menschen verkörpern kann, ist der Blutzeuge, der Märtyrer, welcher sein Leben für eine Über-Zeugung hingibt und damit lebendig in den Geistern und Seelen zeugt. Für Seligkeit und Qual, für Gott und Teufel gibt es keinen erlebbaren Generalnenner, auch für das Harte und Weiche, das sich-Durchsetzende und das Verstehende, das mit Gewalt Beherrschende und das Liebende nicht. Macht an sich ist zweifellos böse, wie Jacob Burckhardt lehrte, aber andererseits, ist ohne sie nichts Gutes dem Leben für die Dauer einzubilden. So gilt es offenbar die unauflöslichen Gegensätze zunächst zu akzeptieren und von dort aus zu versuchen, eine höhere Daseinsebene zu ersteigen. Mit diesem Problem wird sich das nächste Kapitel vorzüglich befassen1.

1 Vollendet Schönhausen, 10. 4. 1941.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
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