Schule des Rades
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit
II. Abenteuer der Seele
IV. Miguel de Unamuno - Leidende Person
Es muss im Winter 1922/23 gewesen sein, dass mich J. E. Crawford Flitsh, der Übersetzer von Miguel de Unamunos Hauptwerk, Del sentimiento trágico de la vida, in Darmstadt besuchte, mir seine Übersetzung schenkte und mich dadurch auf die Existenz des Eiferers von Salamanca hinwies. Wie so oft in meinem Leben, kam auch dieses Buch mir genau zur rechten Stunde. Zeitlebens habe ich für mich, was immer ich anderen zeigte — davon war des öfteren die Rede — an erster Stelle des Lebens Leid gespürt. Bis zu meinem 16. Lebensjahr lösten unliebsame Eindrücke augenblicklich Tränen in mir aus; in den letzten der fraglichen Jahre nicht mehr allein aus Gründen einer Überempfindlichkeit, die automatisch einen bewährten Schutzmechanismus in Gang setzte, sondern aus einem tiefen Bewusstsein der Schauerlichkeit dessen, dass es überhaupt Leid gibt. Da mein Vater starb, konnte ich demgegenüber überhaupt nicht weinen: plötzlich erschien ich, der vormals allzu Gefühlvolle, gefühllos, und erst viele Jahrzehnte später stellte Analyse fest, dass ich für mich Unerträgliches in mir verschüttet hatte, wie mir denn erst der argentinischen Erde gegenüber die Liebe und Verbundenheit wieder bewusst ward, die ich unbewusst vierunddreißig Jahre lang der Heimaterde gegenüber gefühlt hatte, in der mein Vater begraben lag. Äußerlich erschien ich nicht allein anderen, sondern auch mir selber desto lebensfroher, je schwerer ich tatsächlich an meinem Leben trug. Den Sommer nach dem Tode meines Vaters war ich sogar unbändig fröhlich und verargte es meiner Mutter, wenn sie am Grabe weinte. Im Zusammenhang mit meinem schweren Mutterkonflikt ward ich zum Orgien-frohen Dorpatschen Studenten. Nachdem mein Künstlertum in mir zur Dominante werden konnte, sublimierte sich die gleiche Tendenz dahin, dass mir die aisthesis — das ursprüngliche griechische Wort umfasste mehr als das, was man heute Ästhet und Ästhetentum heißt und gerade dieses Umfassendere meine ich — zu dem diente, wie früher Tränen oder Fröhlichkeit. Noch das, was am Reisetagebuche
mit Recht als Ausdruck von Optimismus beurteilt wird (hier denke ich zumal ans Kapitel Udaipur
), hat hier seinen Grund. Freilich gestand ich mir früh schon von Zeit zu Zeit mein eigentliches Tiefen-Erleben ein. In meiner Kindheit und Jugend geschah dies im Fall von Tieren — und diese früheste Einstellung meines Mit-Leidens ist nach meinen vierziger Jahren insofern wieder geboren worden, als ich es nicht mehr über mich bringen kann, Tiere zu schießen, wogegen ich Menschen gegenüber weniger Hemmungen fühle als ehemals. Als schlimmste Missetat meines Lebens empfinde ich heute noch — so schmerzlich-deutlich steht das Bild in meiner Erinnerung da — den gedankenlosen Rutenstreich, mit dem ich mit etwa sechs Jahren eine mir damals riesenhaft vorkommende Kröte tötete: wie konnte ich dem armen stummen Tier sein Leben nehmen! Den zahllosen zahmen Vögeln, deren Ende ich erlebte, trauerte ich allemal mehr nach, als bis in mein Mannesalter hinein irgendeinem menschlichen Freunde. Wenn mich einmal das Menschenleid ergriff, dann war es das Leid des Menschenloses an sich. Es war im Sinne dessen, was ich zum ersten Mal, im Jahre 1906, im Zusammenhang des Kapitels Individuum und Leben
(Abschnitt 8, S. 240 der dritten Auflage) der Unsterblichkeit
öffentlich aussprach. Ich litt überpersönlich; des Einzelnen Leid ergriff mich nur als Sinnbild, so dass ich mein persönliches Leid unmittelbar als Sonderfall erlebte und darum vom Sterben mir völlig Fremder leichter ergriffen wurde, als vom Leid mir Nahestehender sowie vom eigenen Leid. In den letzten Fällen setzte allzu leicht der alteingefahrene Abwehrmechanismus ein. Überdies aber lebt in mir offenbar eine angeborene Abneigung gegen den Menschen als solchen, den ich von Hause aus als irgendwie missratene Schöpfung empfunden habe. Doch wie dem immer sei: sogar den Weltkrieg und die bolschewistische Revolution empfand ich ihrerzeit nicht so, wie ich sie heute empfinden würde. Ich muss es gestehen: die vier stillen Jahre in Rayküll in Gesellschaft der geliebten Schwester, während draußen gewütet und gemordet wurde, gehören zu den innerlich friedlichsten Zeiten meines Lebens, und als mir die Revolution alles, woran ich an irdischen Gütern hängen konnte, nahm, ward mir nicht nur zuerst, sondern auf Jahre hinaus nur das schauerlich-Gewaltige des Schicksals bewusst, das ich aus denselben Motiven genoß, wie der Mensch gemäß Aristoteles gespielte Tragik genießt. Mein tatsächliches aber unbewusst bleibendes Leiden äußerte sich indirekt: in einem Aktivismus, der mir bis dahin völlig fremd gewesen war, in schroffer Intransigenz, die zum Allverstehen des Reisetagebuchs in paradoxalem Gegensatz zu stehen schien, im frenetischen Drang zu erobern und wiederzuerobern, in Erdbeben-gleichen, scheinbar grundlosen Wutausbrüchen, vor allem aber in extrem betonter Zukunftsfreudigkeit und im Hasse gegen alles Miesmachen und gegen alle Schwäche. Ich wollte nicht leiden, denn die Erfahrung von vierzig Lebensjahren ließ mich glauben: gestehst Du Dir das Leiden einmal ein, so wie Du’s im Innersten tatsächlich spürst, dann hältst Du dieses Leben nicht mehr aus. So verbrachte ich noch die ersten Darmstädter Jahre in einem Zustand scheinbarer Euphorie.
Sie war jedoch von Hause aus nur scheinbar. Der Tag meiner Verlobung war einer der schwersten meines Lebens. Ich wusste, dass ich das Schicksal erfüllte, und dabei gnädiges Schicksal, aber die ganzen Stunden und Tage über stand im Vordergrunde meines Bewusstseins die Bitterkeit meines Loses, das mich jeder Sicherheit beraubt hatte und das ungeheure Risiko, das ich mit meinem Entschluss zur Verlobung einging und die eigentlich unverantwortliche Verantwortung, die ich damit übernahm. Und wie ich eindrei-viertel Jahre darauf die Schule der Weisheit gründete, da war die Zeit organisch möglicher und ersprießlicher Selbstbelügung endgültig um für mich. Schon seit 1912 (vergl. das letzte Fünftel des Reisetagebuchs) bekannte ich mich bewusst zum Aufrichtigkeitsideal, doch damals hatte es das Unbewusste in mir noch nicht ergriffen; ich war bis zu einem gewissen Grade lügnerischer Puritaner. Während der Kriegsjahre in Rayküll hatte ich dauernd und unentwegt Gewissenserforschung getrieben, freilich auch nicht mit wirklichem Erfolg, da ich damals von Tiefenpsychologie und der Möglichkeit, von ihr her bewusste und sichtbare Seelenerscheinungen zu beurteilen, nichts ahnte. So bedeutete der laute Optimismus meiner ersten Zeit in Deutschland eine Art Rückfall. Während der ersten Jahre daselbst habe ich, trotz des gleichzeitigen Anfangs einer selten glücklichen Ehe, eigentlich andauernd Höllenqualen gelitten. Meine sämtlichen Instinkte revoltierten gegen die Festlegung im engen Rahmen Darmstadts, gegen die Engigkeit deutschen Lebens überhaupt, gegen die Notwendigkeit, mein Brot zu verdienen und die Stellung im Leben, deren ich zum Gleichgewicht innerhalb der Welt bedurfte, neu zu erkämpfen, gegen das nahe Zusammenleben und den häufigen Verkehr mit Menschen, gegen das Lehren-Müssen — man erinnere sich des, was ich im Reisetagebuch über die psychologische Unmöglichkeit für mich schrieb, je Schulhaupt zu werden oder zu sein, — gegen die äußere Abhängigkeit von der Anerkennung anderer, kurz gegen ein Schicksal, das in bezug auf mich in keiner Weise nach Maß gemacht erschien. Denn so sehr ich von jeher nach Ruhm gestrebt und Gefeiertwerden genossen hatte — ich bedurfte ihrer nur in Feststimmung, an den meinem Lebensrhythmus gemäßen Sonn- und Feiertagen; für meine werktägliche Existenz bedeuteten mir unabhängige Einsamkeit und mögliche Freizügigkeit nach wie vor die einzig wirklichen Notwendigkeiten, und gerade dieses Notwendigen war ich, das wusste ich, für immer verlustig gegangen. Während der ersten Darmstädter Jahre habe ich kaum eine Stunde der Selbstbesinnung gekannt, in der ich nicht der Verzweiflung nahe gewesen wäre; tat und betrieb ich dazumal so viel — wenn ich nichts zu tun hatte, schrieb ich Unmengen von zum großen Teil überflüssigen Briefen — schuf ich so rasend schnell, so war es um möglichst selten allein zu sein mit meinem Leid. Einen Wintermonat über drängte mich mein Unbewusstes sogar dermaßen energisch zum Selbstmord, dass ich, wenn irgend möglich, am Arm eines anderen ausging, um nicht zufällig
unter ein Auto oder eine Trambahn zu geraten. Den ersten Sommer nach der Gründung der Schule der Weisheit — es war der schauerlichste Sommer meines Lebens —, nachdem mir an den Nachwirkungen der Tagore-Woche klar geworden war, wie wenig meine Urnatur für die Rolle vorherbestimmt war, die ich fortan zu spielen hatte, fürchtete ich ernstlich, nicht zwar verrückt — dass meine Spannung unter allen Umständen durchhalten und nie zerreißen würde, wusste ich von je — sondern durch Explosion mir unbekannter Tiefenkräfte zersprengt und damit vernichtet zu werden. Erst um 1923 begann sich in mir eine Synthese oberhalb der Konflikte vorzubereiten, von der aus die neue Gleichung meines Lebens lösbar werden konnte. Und eben damals begegnete mir der Geist Miguel de Unamunos.
Das oben in seinen großen Zügen Mitgeteilte widerspricht nicht allein den meisten meines Wissens herrschenden Vorurteilen in bezug auf mich, es scheint auch großenteils nicht allein durch mein Werk, sondern mein Sein widerlegt. Nichtsdestoweniger stimmt das skizzierte Bild durchaus in bezug auf die Schichten meines Wesens, auf die es sich bezieht. Erst da ich die Südamerikanischen Meditationen
vollendet herausstellen konnte — drei Jahre lang ab 1929 versuchte ich’s zunächst vergeblich, schrieb hunderte seither verworfener Seiten nieder und wurde immer wieder krank daran —, gewann ich Klarheit über die Vielschichtigkeit des Menschenwesens und über die einzige Ebene, von der her diese einheitlich zu meistern ist. Gelebt jedoch habe ich von jeher aus ihr heraus, bin mir auch immer des mangelnden Einklangs mehr oder minder bewusst gewesen. Und so habe ich auch früh auf bestimmter Sonderebene den Zustand vorweggenommen, welcher allein Erlösung und Erfüllung bringen kann. Und dies zwar nicht allein im Werk, sondern auch in der Selbstdarstellung und in der Meisterung bestimmter Einzelsituationen. Jedem, dem sein geistiger Kern überhaupt bewusst ward, ist es gegeben, ohne es zu wissen, Sinn-bildlich zu leben, insofern er vom Sinn her darstellt, was noch nicht ganz wirklich ist, und vor-bildlich, insofern er von anerkannten Idealen her sich selber genau im gleichen Sinne vorleben kann, wie sonst fremde Vorbilder vor-leben. Und da die wenigsten sich zum Ideal der Integralität bekennen, so bleibt es sogar in bedeutenden Fällen meist dabei, dass sie nur die Schicht wirklich zu sich rechnen, von der her (oder in bezug auf die) sie das, worin sie ihre Lebensaufgabe sehen, am besten erfüllen können. Auf diese Rolle konzentrieren sie ihr bewusstes Sinnen und Trachten und zu deren Nutz und Frommen, Lob und Preis legen sie sich und anderen das Übrige zurecht. Doch bei jeder Partial-Selbstdarstellung revoltierte irgend etwas in mir. Und natürlich musste ich in Darmstadt, trotzdem ich mich wesentlich als Mensch ohne persona fühlte und mich darum mit keiner Rolle identifizieren konnte, die nicht die eigentliche Existenzform meines tiefsten Selbstes als Integrales aller Differentiationen meiner Persönlichkeit war, trotzdem ich mich so vielfältig als möglich gab, eine bestimmte Rolle spielen. Darum verdrängte ich nie ganz, was nicht zur gerade gespielten Rolle gehörte, ich ging niemals in bestimmter Gestaltung auf, sah auch niemals ein Ideal darin. Vollmensch zu sein, oder besser gesagt: mindestens Vollmensch, war von jeher das Minimum dessen, was ich zu erreichen hoffte. Nachdem ich nun alles, was mir lieb und teuer war, verloren hatte und gerade dann, aus Selbstschutz, nur an Neuaufbau dachte, da revoltierte mein tiefstes Wesen gegen meine Zukunftsfreudigkeit, so echt diese auf ihrer Ebene war. Diese alles andere verdrängende Zukunftsfreudigkeit entsprach übrigens nicht nur meiner persönlichen Psychologie: bei den meisten Balten, die 1939 nach Polen umgesiedelt wurden, habe ich später gleiches beobachtet.
Die beschriebene Revolte war der eigentliche Untergrund meines damaligen Lebens. Aber so sehr die Trauer blieb und sich sogar steigerte — heute, 1940, ist sie stärker denn je, die endgültige Preisgabe meiner Heimat durch die Balten habe ich, obgleich ich sie für immer verlassen hatte, viel bitterer empfunden, als die meisten, wenn nicht alle Neu-Emigranten, denn gerade weil ich sie nicht wiedersehen wollte, bedeutete sie mir ein Palladium — die Revolte hörte schließlich auf. Sie hörte in dem Augenblicke auf, in welchem mir klar ward, dass die Gleichung des Menschenlebens nur auf der Ebene akzeptierter Tragödie aufgeht. Diese Erkenntnis wurde zum eigentlichen Anstoß des Prozesses integraler Selbstverwirklichung, als welchen ich mein Leben von jeher auffasste, ohne dabei genau zu wissen, was ich dazu tun konnte. Auf sie konzentrierte sich seither mein ganzes Sinnen und Trachten nach dem rechten Weg zu erkenntnisbedingtem Leben. Und dieses erste Selbst-Finden der Lösung traf dann, wie das so oft geschieht, mit dem Bekanntwerden mit einem Buch zusammen, dessen Grundgehalt die gleiche Problematik betraf, die mich bewegte. Und ich musste wohl außer mir eines Sinnbilds tragischen Lebensgefühls gewahr werden, um mich zu letzterem selbst bekennen zu können. Denn der Schau-Spieler, als welcher ich bisher auf so vielen Ebenen und in so vielen Situationen gelebt hatte, ist ja gerade dieses nie und kann es gar nicht sein: eine tragische Gestalt. Zumal des Proteus Schicksal ist durch und durch untragisch — und gerade zu ihm als Ideal hatte ich mich jahrelang bekannt. So wenig war mein Bewusstsein darauf vorbereitet, dass ich mein Leben auf der Grundlage auf mich genommener Tragik aufbauen müsse, dass mir die erste Erkenntnis wie ein Schock kam. Doch andererseits: kaum hatte ich sie in mich hineingelassen, da gewahrte ich, dass meine Natur nur darauf gewartet hatte: denn alsogleich begann sich auf höherer Daseinsebene eine neue tiefverwurzelte bewusste Persönlichkeit zu bilden. Ich sage bewusste Persönlichkeit: denn unbewusst war ich schon lange entsprechend eingestellt gewesen. Ich schrieb im Laufe dieser Erinnerungen (nicht nur in diesem Kapitel) viel von erduldeten Leiden, von Schmerzen und von Tränen: diese gestand ich mir im selben Sinne ein, wie die homerischen Helden brüllten, wenn sie verwundet wurden. Es gehörte mit zu meiner persona-Losigkeit, dass ich nie (außer gelegentlich aus unmittelbar praktischen Gründen) für richtig finde, mir einen Schmerz nicht einzugestehen, wenn ich ihn wirklich fühle, auf andere nicht abzureagieren, sondern mich hier irgendwelchen Konventionen anzupassen, die ich einfach für töricht halte. Ich finde sie einfach verlogen und die Feigheit, die im sich-Beugen vor Konventionen zum Ausdruck kommt, viel verwerflicher, als sogenannte Unmännlichkeit. Die theoretische Begründung dessen habe ich später, drei Jahre nachdem ich diesen Teil des vorliegenden Kapitels schrieb, im Kapitel Das Zwischenreich
im Buch vom Ursprung
gegeben. Aber tatsächlich hielt ich von Kind auf viel mehr Schmerz und Leid aus, als alle, die mir zeitlebens begegnet sind. Nie haben sie mich überwältigt, nie habe ich mich selber bemitleidet. Ich betrachtete die leidende Person von jeher als ein außer-Mir. Und so suchte ich auch sehr früh und häufig das Leid, anstatt ihm auszuweichen. Mir hat Befriedigung niemals ein Motiv, Glück nie ein Erstrebenswertes bedeutet. In allem Erleben sah ich von früh ab in erster Linie Mittel und Wege, um weiter voranzukommen und dachte instinktiv bei jedem Missgeschick, inwiefern es mich fördern könne. So war ich von Hause aus prädestiniert zu einem bewussten Verkörperer tragischen Lebensgefühls. Dass ich mich so spät erst zu diesem bekannte, lag an meinem Misstrauen gegen ein allzu oft missbrauchtes Adjektiv und einer angeborenen letzten Schicksalsüberlegenheit. 1924 nun leuchtete mir die richtige Bezeichnung
ein, und damit gewann mein ganzes Leben, so wie es schon lange war, einen neuen Aspekt für mich.