Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

IV. Miguel de Unamuno - Mensch im Kosmos

Ich überlese das zuletzt Geschriebene nochmals; manches gibt ohne Zweifel mehr eigene Überzeugung als unamuneske Lehre wieder. Gleichviel. In geistigen Zusammenhängen kann keiner mehr für den anderen sein, als er ihm bedeutet. Insofern lasse ich mir sogar den Vorwurf, ich sei den deutschen Existentialphilosophen nicht gerecht geworden, gern gefallen. Gerade das habe ich sicher nicht getan, denn wo man den möglichen Wert aus prinzipiellen Gründen leugnet, wie ich es im Falle solchen Denkertums tue, kann von Gerechtwerden nicht wohl die Rede sein. An anderen Stellen habe ich ausführlich begründet, warum ich den bloßen Denker als Vermittler wesentlicher Erkenntnis auf der heutigen Menschheitsstufe überhaupt ablehne. Im Falle der Existentialphilosophen liegen die Dinge aus den folgenden Gründen und Erwägungen besonders schlimm: diese Philosophien sind nicht das Ergebnis wissenschaftlichen Forschens oder logisch notwendigen Konstruierens; sie sind auch nicht kritisch im kantischen Verstand, wie dies trotz alles Abweichens von Kant in den Ergebnissen nicht nur von Bergson, Driesch und Scheler, sondern zum Teil auch von den Phänomenologen gilt. Sie sind aber auch keine unmittelbaren Ausdrücke metaphysischen Wissens, als welche die Systeme Fichtes und Hegels bedeuten: sie stellen reine Verstandeskonstruktionen dar, die sich wirklichem und möglichem Erleben von außen her annähern, und deren Spekulationen suchen überdies das zum Ausdruck zu bringen, was nur von ursprünglichem religiösem Gefühl oder metaphysischem Innewerden her echter Ausdruck sein kann. Solches Philosophieren ist wirklich überflüssig: es bedeutet eine der schlimmsten unter den vielen Entgleisungen dieser Zeit. Des echten Geistvertreters Aufgabe kann nur diese sein: sein echtes Erleben geistiger Wirklichkeit anzumessen, das heißt ihm dem Korrelationsgesetz von Sinn und Ausdruck entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Im übrigen sagte ich es schon: der Kontakt mit Spanien verhalf mir vor allem zu Eigenem, und insofern habe ich dort mehr noch als irgendwo sonst durch das mir von außen Entgegentretende hindurchgesehen.

So nehme ich zum Abschluss dieser Betrachtungen die Schilderung dessen, was mir Spanien und alles Spanische bedeutet haben, noch einmal auf. Das Anrufen des Teiles meines eigenen Wesens, welches der emotionalen Ordnung zugehört, war das für mich Entscheidende. Ähnlich jenem Löwen, der sich für ein Schaf hielt und demgemäß lebte, bis dass ein Fremder ihm sagte, dass er ein Löwe sei, hatte ich vorher bewusst nur von der rationalen und nur von ihr her und in deren Körper in der spirituellen Ordnung gelebt. Mein eigenes Erd-Erleben gestand ich mir nicht ein, auch mein Blut-Erleben nicht und am allerwenigsten mein Gefühls-Erleben. Da nun die emotionale Ordnung, alias die Seele, die eine Schicht im Menschen ist, von der aus er überhaupt unmittelbar innewerden kann, so ergab sich daraus für mich exzentrische Einstellung. Sie war aber viel exzentrischer bei mir, als bei allen echten Rationalisten und Theoretikern, weil ich von Hause aus ein emotional zentriertes Wesen bin und Bildung und Vorurteil meine früheste Selbstgestaltung bedingt hatte. Wie völlig exzentrisch zu meiner ursprünglichen Weltschau steht das Weltbild des Gefüges der Welt! Freilich ahnte ich das schon damals: daher meine damalige perspektivische Philosophie und mein Streben nach einem kosmischen Standpunkt; mein Unbewusstes wusste offenbar, dass hier irgend eine perspektivische Verschiebung mitspielte. Nur ein Jahr später, 1906, strebte ich dann schon, mit der Unsterblichkeit, tastend besserer Zentrierung zu. Allein ich fand sie nicht. Mit den Prolegomena zur Naturphilosophie erklomm ich sogar einen noch so bescheidenen Gipfel der Meisterschaft von exzentrischer Position her; meines Wissens ist die Naturphilosophie die einzige, die einigermaßen plausibel von kantischen Grundvoraussetzungen her die Welt nicht vom Menschen, sondern vom Kosmos her zu bestimmen unternimmt. Nichtsdestoweniger schlug mein Unternehmen fehl, denn nicht durch Heraustreten aus sich selbst, sondern einzig und allein durch tieferes Eindringen in sich selbst sind die Grenzen des bloß-Menschlichen zu überwinden. Als Reisetagebuch-Mensch versuchte ich alsdann, auf dem Umwege um die Welt zu mir selber zu gelangen, indem ich durch Durchschauen alles Außer-mir mein eigenes Innerstes zu fassen hoffte. Dieser Umweg bedeutete damals tatsächlich den unter den gegebenen Umständen kürzesten Weg zu mir selbst. Darum konnte ich später, als ich die Schule der Weisheit gründete und damit die Einstellung auf erkenntnisbedingtes Leben im Gegensatz zu herausgestellter theoretischer Erkenntnis programmatisch als die meine festlegte, von vornherein vom Sein und Sinn her reden. Doch ich blieb persönlich unbefriedigt von allem, was ich lehrte und tat, weil ich fühlte, dass irgend etwas noch gar nicht stimmte. Tatsächlich wusste mein Bewusstsein auch damals noch nicht die ganze nicht-rationale Wirklichkeit in sich hineinzubeziehen, und so fehlten, im musikalischen Bilde ausgedrückt, noch bei Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt die meisten Töne zwischen Oktave und Quinte, und die Zahl auf einmal dem Griffe zugänglicher Oktaven war zu gering. 1921 ahnte ich schon dunkel, was mir fehlte. Ab 1922 versuchte ich’s mit der Psychoanalyse: mir gab sie wenig. Erst Südamerika löste das in mir endgültig aus, wonach ich von jeher strebte. Doch nur über Spanien konnte ich den Weg nach Südamerika finden. Spanien gehört immerhin noch zu unserer europäischen Welt; wäre ich zuerst nach Südamerika gegangen, die Organe wären unausgebildet geblieben, mittels derer ich später das mir antipodisch Ferne und Fremde assimilieren konnte. In Spanien zum ersten Male klang meine eigene emotionale Ordnung für mein verstehendes Bewusstsein an. Dann aber setzte allsogleich ein Prozess der Neuzentrierung ein in mir, dank dem mir allmählich und zwar von Jahr zu Jahr immer mehr und immer schneller zugänglich wurde, was ich früher nie greifen und begreifen konnte. Tatsächlich sind von der emotionalen Ordnung und nur von ihr her sämtliche Elemente und Schichten im Menschen dem Bewusstsein zugänglich. Sie ist das Bindeglied zwischen Mensch und Erde im Menschen. Sie ist das Bindeglied zwischen Mensch und Gott in ihm. Sie allein ist eben die Schicht des eigentlichen Erlebens; eine Tiefen-Erfahrung, die nicht Erlebnis wäre, gibt es aber nicht. Sinnliche Erfahrung affiziert nur die Sensibilität und damit die Haut der Seele; das Denken operiert ganz und gar in eigener Sphäre. Erst in der emotionalen Ordnung kann Empfinden zu Tiefengefühl werden, Denken zur Intuition des Wirklichen, Wissen zum Gewissen und äußerliche Feststellung zur Seinsgewissheit.

Auf frühere Selbstdarstellungen hin sind mir mitunter Zweifel daran begegnet, ob der Wachstums- und Wandlungsprozess in mir wirklich auf so weiten Umwegen, wie es dann hieß, verlaufen sei. Aber es handelt sich hier gar nicht um Umwege — auch im Fall des Reisetagebuchs, trotz seinem Motto, nicht eigentlich — sondern darum, dass die Polarisierung, als Folge welcher allein alle lebendige Neuschöpfung zustandekommt, bei mir nur im Rahmen dessen, was Ludwig Klages den Eros der Ferne heißt, eintritt. Über das Grundsätzliche dieses selten richtig gestellten Problems habe ich einmal so ausführlich geschrieben, dass ich hier nur darauf hinzuweisen brauche: im Kapitel Der natürliche Wirkungskreis von Wiedergeburt. Dort zeigte ich, dass bestimmte Menschen ursprünglich nur gleichsam von Stern zu Stern wirken können, im Raum wie in der Zeit, und andere wiederum nur von Molekül zu Molekül; dieser Unterschied präjudiziere nichts über den geistigen Wert, andererseits aber sei er ein qualitativer und darum unzurückführbarer, wie der zwischen chemischen Elementen. Im gleichen Grund-Sinn kann ich nur von weiter Spannung her Enges und Nahes erleben. Ursprünglich affiziert mich nur das Erdfernste, der metaphysische Geist; darum war mir gerade in meiner Kindheit und Jugend das Mögliche ein Wirklicheres als das Verwirklichte; darum konnte ich damals so schwer des Unterschiedes von Alter und Jugend seelisch inne werden. Darum konnte ich mich nur über den Geist und die Phantasie verlieben. Aber Gleiches — dass das Fernste mich am nächsten affiziert — gilt auf allen Ebenen durch alle Zuständlichkeiten hindurch. So führte der kürzeste Weg zu mir selber um die Welt herum. So wurde mir die Erde nicht in der Heimat, sondern in der australen Welt Südamerikas zum Erlebnis. Und genau so leuchtete mir die Wirklichkeit der emotionalen Ordnung erstmalig in ihrer spanischen Verkörperung ein. Dieser Primat des Eros der Ferne in mir impliziert, dass ich überhaupt nur vom Geist her oder über ihn hin oder in bezug auf ihn erlebe. Hierin unterscheide ich mich aber am meisten nicht von naturnahen und einfachen Menschen, sondern gerade von den meisten sogenannten Geistigen. Gerade sie leben und weben meistens in jenem nur-menschlichen Zwischenreich, welches mir gar nichts bedeutet und dessen ich sogar nur schwer gewahr werde. Bei mir gründet gerade das Menschliche so tief, dass ich es nur vom Geist aus in kosmischer Schau ans Tageslicht heraufheben kann. Ebendaher der Sonderstil dieses Erinnerungsbuches: nur von weitgespanntester Problematik her kann ich des Nächsten und Intimsten inne werden.

So ist es schon richtig, dass es allein die Polarisierung mit dem Hispaniertum war, dank dem mir meine eigenen Erdwurzeln und mein persönliches tragisches Lebensgefühl bewusst wurden. Und eben das erklärt, dass meine aus dem Kontakt mit dem Hispaniertum geborenen Einsichten weit mehr Selbsterkenntnisse waren als Kenntnisse Spaniens. Wie ich jetzt beim Neudurchblättern des Hauptwerks Unamunos feststelle, habe ich in diesen viel mehr hineingelegt, als ich von ihm empfangen habe. In dieser Hinsicht ist es aber doch gerade das spezifisch Spanische als solches gewesen, dem ich entscheidend wichtige Einsicht verdanke: dass tragisches Lebensgefühl mit vorhandener, erkannter und als unabänderlich anerkannter Blindheit, Dumpfheit und Unfreiheit steht und fällt. Dem Spanier fehlt das europäische, insbesondere deutsche Vor- und Heraus-Stellungs-Vermögen; er erlebt nur am unmittelbaren Kontakt. In der Zeit meiner intensiven persönlichen Beziehung zu Südamerika fiel mir wieder und wieder auf, wie dessen begabteste Bewohner von Krankheit und Leid Beliebtester Wesen, die sie nicht vor sich sahen, überhaupt nicht berührt wurden, andererseits aber bei vorhandenem Berührtsein bis zur Haltlosigkeit maßlos mitlitten. In schauerlicher Übertreibung illustriert Gleiches zur Zeit, da ich diese letzten Seiten schreibe, der spanische Bürgerkrieg. Da schildern emigrierte zarte und kluge spanische Frauen seelenruhig, wie geliebte Verwandte und Freunde gefoltert, verbrannt oder gekreuzigt wurden. Und gleich zarte und kluge begehen, wenn sie persönlich erlebten, wie ihnen Nahestehende litten, aus Liebe zu diesen gleiche Grausamkeiten und finden, dass es der Sühne viel zu wenig ist. Der Spanier wird wirklich getrieben von der Gana und der Leidenschaft; die Kräfte der Gana-Ebene und diejenigen der emotionalen Ordnung wirken sich bei ihm wie im reinen Urstande aus. Aber genau ebenso wie mit den negativen steht es mit den positiven Urkräften. Spanischer Eroberungsdrang ist unersättlich, spanisches Abenteurertum phantastisch, spanisches Schöpfertum — man denke an Lope de Vega, in unseren Tagen an Valle-Inclán — überschwänglich in seinem Reichtum und dabei doch blind wie beim Millionen von Eiern legenden und an ihnen sterbenden Schmetterling. Dieser reine Ausdruck der Gana und der Leidenschaft in deren Urgestalt polarisiert denn das Geisthafte im Menschen zu entsprechend arteigenem Urausdruck. Der Deutsche, der gemäß seiner im Vermittelnden zentrierter Struktur keine Geist- und Seelenkraft rein erlebt, redet gerne von innerem Müssen: ein ungegenständlicherer Ausdruck als dieser lässt sich schwer erdenken. Dem Müssen der Gana entspricht vielmehr die geistige Unbedingtheit und damit die letztinstanzliche Freiheit der Persönlichkeit. Diese tut, wenn sie wirklich geistbewusst geworden, niemals was sie muss, sondern einzig und allein, was sie im Allertiefsten will, jedem äußeren Einfluss und jedem Drucke unzugänglich. Daher denn der gleichsam absolute Mut jener Kadetten, die den Alcazar von Toledo verteidigten, der absolute Glaube der Heiligen Theresa, die in der modernen Welt beispiellose Überzeugungstreue beider kämpfenden Parteien im spanischen Bürgerkrieg — dort starb jeder lieber für seine individuelle Überzeugung, als dass er sich gleichschaltete und bloß gehorchend seine Pflicht tat; daher das geistliche Heldentum Inigo de Loyolas mit seinem tief-individuellen Verzicht auf alles Eigene, und im spanischen Höchstfall die das Weltall herausfordernde Geistbehauptung Don Quixotes. Nun hat es auch anderswo Überwinder gegeben, zumal solche höheren Grades, wie sie Spanien nie hervorgebracht hat; Geister, die über alle Agonie hinausgelangten. Aber die Überwinder anderer Völker und Zonen sind letztlich keine tragischen Gestalten. Die Spanier sind im höchsten Maß gerade dies. Dies liegt aber daran, dass ihnen andererseits das unabänderlich Unfreie und Ungeistige im Menschen als solches einzig deutlich bewusst ist. So leiden sie noch als Heilige mit der Dumpfheit und Stummheit des Tiers an der Unüberwindlichkeit des Schicksals und an der Unerlösbarkeit der Erdnatur.

Und insofern nehmen sie, obschon auf früher Entwicklungsstufe stehen geblieben, die integrale Erfüllung vorweg, so wie die großangelegte Skizze das vollendete Gemälde vorwegnimmt. Der ganze Osten hat das Schicksalsproblem eskamotiert, indem er dasselbe entweder, wie China, niemals stellte, oder mögliche Erlösung predigte durch Flucht aus der Erscheinungswelt. Der intellektualisierte Westen, der seine Laufbahn mit dem denkenden Griechentum begann, hat sich bis heute durch Kurzschlüsse über die ganze und wahre Tragik des Menschenloses hinweggetäuscht. Einmal war nur die Moira als solche tragisch — mit diesem besonderen Schicksalsglauben hörte dann das Schicksalserleben auf; ein andermal schuf nur die Schuld Tragik — gegen diese feite oder von ihr erlöste Gesetzesgerechtigkeit oder Gnade. Dann wieder war der Geist allein wirklich oder die übernatürliche Welt, mit welchem Glauben die Erde ihre letzte Wirklichkeit verlor, oder aber als wirklich galt die Natur allein, oder der Geist sollte aller Problematik von der Vernunft und vom Verstande her Herr werden. Alle diese Lösungen ignorieren die Existenz einer unauflöslichen Grundspannung im Menschen, deren Hauptaspekte eine unzurückführbare Erd- und ebenso unzurückführbare Geisthaftigkeit sind. Und ließ fortlebender Christenglauben die Ahnung der Wahrheit wenigstens im Unbewussten fortbestehen, so hat die Entchristlichung die Menschheit vollends ent-tragisiert. Daher die Möglichkeit des Kollektivismus, der grundsätzlich längst schon mit der Fundierung des ganzen modernen Lebens auf Allgemeinbegriffe und Verallgemeinerungsfähiges begonnen hatte. Ob die Vorstellung erzielten Fortschritts alles unmittelbare Leben abblendet, oder die des Gemeinwohls alle individuelle Problematik auslöscht, kommt aufs Gleiche heraus. Am schauerlichsten äußert sich die Aufhebung des Tragischen und damit des spezifisch Menschlichen im Sterben. Soldatentum als solches ent-tragisiert den Krieg. Der einsame Held, der für seinen, von ihm persönlich gesetzten Wert sein Leben aufs Spiel setzt, ist eine tragische Figur. Sobald aber Gehorsam das letzte Wort ist, sobald gar eine Weltanschauung das Individuum und sein Sterben als gleichgültig erklärt, hört alle letzte Selbstverantwortung und damit alle Tragik auf. Die Götterdämmerung aller Werte, die im freien Einzigen ihren Exponenten haben, ist unter diesen Umständen schicksalsmäßige Folge.

Und damit ist es die herrschende und immer schneller fortschreitende Entmenschung. Da tut es denn an erster Stelle not, sich auf die Ur-Stellung oder den Ur-Stand des Menschen im Kosmos zurückzubesinnen. Eben dazu verhilft das Sinnbild Spaniens, des einzigen Landes zu dieser Zeit, wo sogar das Kämpfen im Zeichen des Kollektivismus tragische Größe hat. Nun aber gilt es hinauszuwachsen über die Zuständlichkeit einer anderen einfacheren Zeit und dem tragischen Lebensgefühl die Form zu geben, welche dem heutigen Wachheitsgrade entspricht. Dieser Aufgabe hat denn all mein Leben, Streben und Schaffen, seitdem das Problem mir am Kontakte Spaniens klar ward, gedient. In den Südamerikanischen Meditationen gelang es mir, die Komplexität des Menschenwesens so darzustellen, wie ich sie wirklich erlebe. In meinen späteren französischen Büchern und dann in der Aufgipfelung dieser Periode im Buch vom persönlichen Leben spitzte ich das Problem der Stellung des Menschen im Kosmos darauf zu, wie sich der Einzelne zu erleben, zu verhalten und was er zu tun hat, um das für sich zu erreichen, was er von jeher anstrebt. Das Tragische des Menschenlebens liegt überhaupt nicht in irgend einem besonderen Problem, welches man lösen, oder einer Sondersituation, die man beseitigen kann: es liegt in der Stellung des Menschen überhaupt. Und im Gegensatz zu dem, was das letzte Jahrtausend wahrzumachen versuchte, liegt der wahre Fortschritt nicht in der Veränderung dieser Stellung, als welche unmöglich ist, sondern in der Akzeptierung der unabänderlichen Tragik als der Grundlage eigentlichen Menschenlebens überhaupt — das vertrete ich schon ab 1922 — und vor allem, was mir erst später klar ward, in der Vertiefung und Differenzierung des Gefühls für das Tragische. Gleichwie der Heilige sich unendlich viel sündiger fühlt, als jeder echte und schwere Sünder, und sich bei jedem Tun und Lassen einer Schuld bewusst und eben darum mehr als andere Menschen ist — genau so entfaltet sich der Mensch dem Idealzustande der integralen Offenbarung und dem der vollkommenen Weltoffenheit zu proportional seinem wachsenden Feingefühl für das Tragische alles und jedes, welches ihn betrifft. Die Unmöglichkeit, den Körper mit seinen Gebrechen zu wechseln, ist nicht minder tragisch wie die Unabänderlichkeit des Schicksals, in das einer hineingestellt ist. Tragisch ist die Unveränderlichkeit des eigenen Charakters, die erkannte eigene Unzulänglichkeit vom Standpunkt des eigenen Strebens. Schlechthin jede Situation enthält tragische Momente und Elemente, denn keine erlaubt die ganzheitliche Lösung, welche der Geist fordert. Das gilt gleichsinnig von der Liebe wie von der Erkenntnis wie vom Glauben wie von der Pflicht; es gilt von allem Wertgefühl, worauf immer es sich beziehe und von allem gewollten Guten und erstrebten Schönen. Keiner erreicht überhaupt Gutes, der es hundertprozentig gut machen will; wer immer das Böse, sein eigenes Böses, ausschalten oder umgehen will, wirkt Böseres als der, welcher direkt Böses will. Keiner kann aufbauen, der nicht die Zerstörung bejaht, keiner wirklich zerstören, ohne neuem Aufbau die Bahn frei zu machen, keiner treu sein, ohne viele zu verraten. Je mehr man sein ganzes Wesen dieser Wahrheit öffnet, je mutiger man sie trägt, desto mehr und sicherer verwandelt sich das Leiden an der Tragik zu einer neuen Lebensform, in der — um ein oft und oft gebrauchtes Bild einmal mehr zu verwenden, denn ich weiß kein besseres — die gespannten Saiten des Empirischen zur Grundlage der Musik des eigentlichen Lebens wird, das allerdings übertragisch ist, zum Ausdruck reiner strömender Geistesfreude. Von diesem Zustand her aber erlischt nicht etwa das Bewusstsein der Unfreiheit und Dumpfheit und Blindheit des erdverhafteten Lebens, wie es der Spanier kennt, es erlebt eine Wiedergeburt auf höherer Ebene. Es wird für die Schau zum dunklen Hintergrund, von dem sich das eigentliche Menschenleben abhebt, für das Erleben zum Anreiz, für die Selbstverwirklichung zu dem Gegen-Stand, für die Tat zum erforderlichen Wider-Stand. So wird das Pathos einmal so rein gelebt und erlebt, wie nur je vom antiken Menschen des Heldenzeitalters, aber doch nicht als letztes, wie es neuerdings Klages fordert, sondern als Grundlage des Ethos, das den Menschen macht, und als Mutterschoß der Entwicklung zur hyperethischen Spiritualität. Dann hört die Problematik alles dessen, was der banale Satz Leider kann der Mensch nicht alles, was er will explizite und implizite einschließt, zu bestehen auf. Tun und Lassen, Freiheitsmöglichkeit und Schicksalszwang, Niederlage und Sieg werden zu gleichwertigen Mitteln des inneren Aufstiegs.

Im Verlaufe des Aufstiegs aber wird immer mehr Nicht-Ich in das Ich hineinbezogen, immer mehr Dumpfes und Starres im fluten den Leben eingeschmolzen und zum Leuchten gebracht. Bis zum Schluss ist aber der Weg des Aufstiegs ein Weg des Leidens. Er ist der Weg des Kreuzes. So darf ich denn jetzt von dem Standpunkt, den ich zur Zeit, da ich dieses schreibe, im Jahre des Unheils 1937, innehabe, das Folgende sagen. Auf der Ebene unmittelbaren Erlebens wird mein Leben immer leidvoller und Leidtiefer, je tiefer und vollständiger mich die hier dargelegten Erkenntnisse durchdringen. Aber genau dementsprechend wächst auf anderer Ebene das Gefühl des Reich-seins und immer-reicher-Werdens und das Gefühl innerer Freiheit und unbetrübbarer Freude. So sind die Jahre der Einkerkerung ab 1933 — für mein ahnendes Gefühl begannen sie schon 1930 —, von meinem tiefsten Geiste her beurteilt, die reichsten meines bisherigen Lebens gewesen. Wie furchtbar ich den Druck empfinden musste, wird ohne weitere Worte jeder ermessen, der sich vergegenwärtigt, was ich früher über den imperialen Menschen schrieb. Aber er ließ wie kein früheres Erleben meine Geist- und Seelenkräfte wachsen. Er differenzierte das Gefühl für alles das, worin mir noch Freiheit blieb. Er vertiefte all mein Wirklichkeitsbewusstsein. Und dank dem, dass mir angesichts so später Lebensjahre wenig Hoffnung mehr bleibt, das je nachholen zu können, was zu tun ich behindert worden bin, je mehr ein meinen empirischen Bedürfnissen gemäßes Leben führen zu können, je wieder in banalem Sinne glücklich zu sein; dank dem, dass mein Leben fortan ganz und gar auf der Tragödie begründet ist, münde ich jetzt zum ersten Male in den Zustand ein, den mein Geist schon lange vorwegnahm: den Zustand jenseits möglicher Tragik. Den aber erreicht nur der, welcher sich, gleich Unamuno, mit allen Poren das Tragische des Menschenloses eingesteht und die Unmöglichkeit, dass die Lebensgleichung, so wie er sie selber ansetzt, je aufginge1.

1 Vollendet Darmstadt, 20. 4. 1937
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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