Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

V. Bernard Shaw - Störer und Zerstörer

Indem ich auf mein Zerstörerisches hinweise, bin ich auf jenes schicksalsmäßig Ärgernis-Erregende zurückgekommen, worüber ich am Anfang dieser Betrachtungen an Hand einiger Beispiele berichtete. In der Tat, wer über das instinktmäßig lacht, was andere in erster Linie ernstnehmen, der ist, von diesen her gesehen, in erster Linie natürlich Zerstörer, zum mindesten zersetzendes Element. Und für solche haben Stützen der Gesellschaft eine so feine Nase, dass die sonst Stumpfsinnigsten zu Propheten werden. So bin ich gehasst und bekämpft worden, lange bevor ich nachweisbaren Anlass dazu gegeben hatte, und später genügte der geringste Anlass zu unverhältnismäßig starken Gegenbewegungen. An erster Stelle hat dies Ursachen elementarerer Art, als der Zusammenhang dieses Kapitels zu behandeln nahelegt. In mir leben wirklich ganz primitive, der Titanenwelt zugehörige blinde Zerstörungstriebe; man entsinne sich des Abschnitts im Roman-Ungern-Kapitel, in welchem ich jener merkwürdigen medialen Frau gedachte, welche beim bloßen Anfühlen meiner Hand ausrief: Sie könnten der Kaiser aller Zerstörer sein. Heute noch kommt es vor, wenn ich mich tief verletzt fühle, was ein völlig irrationales Geschehen ist, rein subjektiv bedingt, allen objektiven Erwägungen unzugänglich, dass ich die ganze Welt zerschmeißen möchte, um das Gleichgewicht für mich wiederherzustellen — ein im objektiven Sinn gerechter Ausgleich kommt für mich gar nicht in Frage, da meine grenzenlose Verletzbarkeit zum realen Ausgleich entsetzlicher Qualen der anderen bedürfte; so ist vielleicht an der Vorstellung der so leicht schwer beleidigten Götter, auf welche die Menschen merkwürdigerweise gerade ihre Empfindlichkeit projiziert haben, die Vorstellung ewiger Höllenstrafen zu verstehen; ich gestehe, dass ich oft gerade ewige Qual denen gewünscht habe, die mich verletzt hatten, denn die Ewigkeit bedeutet ja nur ständige Gegenwart, und solange die Gegenwart des Verletzenden dem Bewusstsein gegenwärtig ist, entspricht ihr die Ewigkeit. Diese meine Anlage spüren natürlich auch die anderen, sie setzen sich leicht zur Wehr, und zwar in ähnlich übertriebener Weise, wie ich gern reagieren würde, und dies zwar, bevor ich irgendetwas gesagt oder getan habe. Gleichsinnig haben sich nach meinen Vorträgen der Jahre, welche vorliegende Schilderungen hauptsächlich betreffen, nach anfänglichem großen Erfolge oft schroffste Gegenbewegungen gebildet, bloß weil meine Hörer fühlten, dass ich aggressiv hätte werden können. Dann aber liegt es in meiner Urnatur, dass ich auch im Negativen auf elementarste Weise reagiere — und sehr viele Menschen empfinden bloße Leidenschaft und Heftigkeit, ja ausströmende Vitalität als Attentat auf ihre Identität, weil es ihr seelisches Gleichgewicht gefährdet; derartiges ist mir besonders in Südamerika begegnet. In mir ist unter anderem auch der ur-männliche Zerstörungstrieb sehr stark, welcher allein Krieg ermöglicht, welchen Trieb mein Erneuerungsstreben seinerseits verstärkt. Gegner toleriere ich meiner Uranlage gemäß entweder absolut, oder aber ich will sie absolut vernichten, aus der Welt schaffen, in welcher sie mich stören könnten; nichts leuchtet mir mehr ein, so sehr ich vom Geist her diese Praxis verurteile, wie dass byzantinische Kaiser solche, deren Anblick sie störte, einfach umbringen ließen. Für das Unbewusste ist ja Verschwinden, Vergessen, Töten und Sterben eins. Ich habe mich nur in diesem Elementaren niemals gehen lassen, außer zwei Male in meiner frühesten Jugend, wo ich aus Entrüstung beinahe Totschlag verübte; erst im letzten Augenblicke kriegte ich mich wieder in die Hand. Ich kenne also Vernichtungswillen sehr wohl und ein Teil meines Geistes sympathisiert mit ihm. Im dritten Bande wird dieses Thema eingehend behandelt werden. Hier nun handelt es sich um die Transposition meines Zerstörungswillens in Witz, Satire und Ironie, die so vielen Morden vorgebeugt hat (echte Mörder haben nie Sinn für Humor) und um das Positive des Stören- und Zerstören-Wollens. Von hier aus kann ich denn den Lachenden und den Mordenden endgültig richtig, den einen gegen den anderen abgrenzen. Dieser stellt sich dem, was er ablehnt, auf der gleichen Ebene. Ob er dies als Duellant tut oder als Meuchelmörder oder als legitimer Handhaber der Gewalt bleibt sich in diesem Zusammenhange gleich. Der Lachende nun wirkt von einer Ebene außerhalb oder oberhalb der Kampffläche her. In beiden Fällen hängen Erfolg und Wert vom Grade und Rang des wirkenden Geistes ab. Der verstehende Geist ist nun physiologisch des direkten Kampfes Feind. Darum kam der sogenannte Kampf der Geister praktisch nie auf Besseres heraus als auf eine mehr oder weniger häßliche Zänkerei. Da der verstehende Geist aber nur von einem Jenseits des Kampfes her wirken kann, so bedeutet die bloße Absicht zu kämpfen ein grundsätzliches Missverständnis. Der Geistige kann nur durch Irrealisierung vernichten. Die sachliche Form ist die Widerlegung, doch sehr wenigen bedeutet diese viel. Die psychologisch wirksamste ist das lächerlich-Machen oder Lachen. Das ersieht man am sichersten an der Art, wie viele eigener Gefahr begegnen. Ich habe es immer wieder gemerkt, dass Ohnmächtige Mächtigen gegenüber ausschließlich lächeln. Ich habe von vielen gehört, dass sie vor der eigenen Hinrichtung unwillkürlich Witze rissen: hier spielt auch viel Feigheit mit. Unstreitig ist es die gleiche Grundlage, die den großen Ironiker, Satiriker oder exzentrischen Weltverbesserer macht.

Doch das Problem kann tiefer und in größerer Tiefe gefasst werden, als bisher geschah, und dies gelingt am besten von der Fragestellung aus: was ist der letzte Beweggrund des besonders Ärgerniserregenden bestimmter Menschen? — Die allgemeinste Grundlage, auf der die Frage ihre Antwort findet, bestimmt das in Spannung und Rhythmus (erster Zyklus von Wiedergeburt) genau Ausgeführte und im Chamberlain-Kapitel dieses Buchs (Band I, Seite 138) in seinen wichtigsten Stellen Zitierte über das Einseitige jeder Bewegung. Jede nicht von vornherein mit den sonst wirkenden Kräften harmonisierte und in den bestehenden Zusammenhang eingeordnete Kraft muss zunächst störend und zerstörend wirken; zwangsläufig ruft sie Gegenbewegungen hervor, deren Intensität der Eigenkraft des Einbrechenden proportional ist, und für die Vertreter jener bedeutet diese ein reines Ärgernis. Daher der Hass der meisten gegen das Neue überhaupt, das nicht an der Peripherie des Lebens bleibt und sie darum nicht innerlich berührt. Im Fall des meisten Neuen nun erfolgt bald Einordnung des anfangs noch so sehr aus dem Rahmen Fallenden in das Bestehende. Bei einigen Menschen hingegen erfolgt solche Einordnung nie; sie erfolgt in alle Ewigkeit nicht. Dank ihrer exzentrischen Stellung zu aller Normalistik des Erdenlebens sind solche Menschen bei genügender Eigenkraft sozusagen unsterbliche Störenfriede. Und dank ihrer rastlosen Bewegtheit, ihrem Dynamismus stellen sie gleichsam ein ewiges Ärgernis dar; daher die Todfeindschaft, die sie beschwören. — Nun, diese Menschenart stellt die entscheidenden Neuerer oder Anreger zu Neuem. Sie allein kann sie stellen, denn die Kraft der Trägheit ist so unermeßlich groß, dass nur wer den Hang hat, nicht nur zu erneuern, sondern direkt zu stören, je dauernde Beunruhigung und damit Bewegung schafft. Es gilt hier aber zu stören und nicht zu zerstören, denn sonst bliebe ja nichts zum anders-Werden nach. Damit ist gesagt, dass in der Seele der Erneuerer die Zerstörungstriebe eine sehr gewichtige Rolle spielen, doch über ein gewisses Maß hinaus nicht freie Hand haben. Alle echten Revolutionäre wollen natürlich zutiefst und vor allem wirklich zerstören; in ihnen waltet der Destruktionstrieb nahezu außer Zusammenhang und damit rein, nicht, wie beim Soldaten, eingeordnet in gebundene und damit letztlich erhaltende Lebenskonstruktion, die in diesem Fall natürlich eine normiertere und diszipliniertere sein muss, als jede andere. Trotzdem nun aber im Revolutionär die Zerstörungstriebe die entscheidende Rolle spielen, ist dieser, obzwar Einbrecher, wesentlich nicht Verbrecher, so oft er als solcher beurteilt wird und so viele seiner Taten unter normalen Umständen unter einen Strafgesetzparagraphen fielen. Vom echten Verbrecher gilt, wie schon früher ausgeführt, das gleiche wie vom Wahnsinnigen: das seelische Grundbild ist nicht viel anders wie bei jedem Menschen, denn jeder kennt Zustände der Verirrung und jeder möchte gelegentlich andere Schädigendes tun. Doch was Irre und Verbrecher von denen, die es nicht sind, unterscheidet, ist dies, dass sie bestimmten Trieben oder Automatismen oder autonomen Komplexen verfallen, von ihnen besessen sind; dass diese aus ihrem Gesamtgefüge immer wieder ausbrechen, dessen Normalstruktur verändern und zuletzt vernichten. Der geborene nur-Revolutionär lebt nun ganz nahe der Grenze des Verbrechers; das gilt zumal von seinem extremsten Typus, dessen Ideal die révolution en permanence ist. Der echte Neuerer hingegen, so revolutionär er wirke, ist und bleibt Meister seiner Störungs- und Zerstörungstriebe und lenkt sie von höherer Warte her im Geist einer geglaubten Sendung. Nun trägt die meiste Sendung endlichen Charakter. Sie kann ihr Ziel erreichen, und hat sie es erreicht, dann steht ihr Träger, wenn er nicht noch anderes als Neuerer ist, ohne weitere Aufgabe da. Will ihm das Schicksal wohl, dann lässt es ihn bei oder besser noch kurz vor Erreichung seines Zieles sterben. Auch Napoleons Ende war eigentlich nicht tragisch: er wollte als Ergebnis seines Blutvergießens ein Weltreich des Friedens gründen, doch dieser Aufgabe wäre gerade er, der Schlachtengott, niemals gewachsen gewesen. Nicht tragisch, nur traurig, war auch das Ende Garibaldis, der vom Savoyerkönig im rechten Augenblicke kaltgestellt ward. Die meisten Revolutionäre, welche zur Macht gelangt sind und keine Widersacher mehr zu bekämpfen haben, wüten dann gegen ihre Anhänger, zuletzt gegen sich selbst und bereiten so selber späterer Reaktion den Weg. Nur ganz wenige hat es gegeben, deren Revolutionärtum nur einen Teil ihres Wesens ausmachte und die nachher als echte Herrscher weiterleben konnten; solche Persönlichkeiten hat providentieller Weise gerade Deutschland in kritischen Zeiten mehrfach hervorgebracht. Es gibt aber Geister, deren Exzentrizität und damit Störertum, was ein anderes als Zerstörertum ist, ewigen Charakter trägt. Sie bedeuten die dauernden Fermente im Körper des Menschheitslebens.

Hier muss man nun unterscheiden zwischen exzentrischen Persönlichkeiten, wie Bernard Shaw und der terroristische Revolutionär solche darstellen, und der Exzentrizität einer Gesinnung vom Standpunkt normalen erdverhafteten Menschenlebens. Letzteres gilt von jeder großen Religion. Den Buddha hieß ich einmal den überlebensgroßen Exzentrik, dem es gefiel, höflich lächelnd aus dem Weltgeschehen herauszutreten. Es lässt sich, in der Tat, kaum eine exzentrischere Stellung zum Leben ausdenken, als die eines Menschen, welchem das Aufhören des Lebens dessen Ziel ist, und welcher alles darauf anlegt, dessen Aufbauprozess zu hemmen und im Ergebnis aufzuheben. Doch war Jesus in seiner Absicht weniger Exzentrik — persönlich wollte er das Gesetz und die Weissagungen der Propheten erfüllen — so hat er weit mehr noch als Exzentrik gewirkt als Gautama. Lehrte er einerseits nicht-Widerstreben dem Übel, so brachte er andererseits bewusstermaßen nicht den Frieden, sondern das Schwert. Er lehrte den Sohn die Mutter, den Freund den Freund, den Jünger die Heimat verlassen; er verleugnete die Bindung durch Blut und Boden und Gesetz. Insofern er sich als Messias fühlte, wollte er Neuerer sein im historischen Verstand und war damit wirklich der die bestehende Ordnung gefährdende Revolutionär, als welchen ihn die Römer verurteilten. Vor allem aber: insofern das Befolgen seiner Heilslehre mit den Notwendigkeiten des Erdenlebens auf ewig unvereinbar ist, bedeutet das Christentum ein ewiges Ärgernis. Denn ganz unmöglich kann das Himmelreich, so wie Jesus es vorstellte, auf Erden je verwirklicht werden. An diesem Punkte angelangt, dürfen wir denn verallgemeinern. Jede positive Religion, die in den Tiefen des Geistes wurzelt, muss ein ewiges Ärgernis sein. Bereitet sie praktisch irgendwann kein Ärgernis, so liegt das an der Oberflächlichkeit der Menschen, die sich zu ihr bekennen oder nicht bekennen: sie sind sie gewohnt und bemerken darum ihre Bedeutung nicht mehr. Dass echte Religion Ärgernis erregen muss — hierin liegt eine der Wurzeln der Schauerlichkeit und Grausamkeit jener frühen Götter, welche Menschenopfer fordern; sie fordern Ver-Brechen vom Standpunkt alles sonst gültigen Gesetzes und Rechts. Der mildeste und neutralste Ausdruck der wesentlich exzentrischen Stellung aller echten Religion zum Erdenleben ist deren anerkannter Anspruch, ein Mysterium zu sein und zu bleiben. Das Mysterium regt dauernd zu seiner Durchschauung an, wirkt andererseits dauernd störend ins Erdnormen gemäß geordnete Leben hinein. Von hier aus versteht man auch ganz den Sinn des so häufig leichtfertig nachgesprochenen Satzes, der Heilige und der Verbrecher sprössen aus gleicher Wurzel. Der Verbrecher ist ein Erstarrter und ein Kranker; in ihm liegt darum nie ein Heiliger vorgebildet. Wohl aber gilt letzteres grundsätzlich vom Störer und Zerstörer, sofern ihm dieses Negative nicht Endzweck, sondern Vorstufe und Sprungbrett war. Es haben sich sämtliche Heilige nicht bloß darum so sehr als Sünder gefühlt, weil ihr Gewissen zu fein, ihre Sehnsucht nach Vollkommenheit allzu groß war, sondern weil sie wirklich von mächtigen Störungs- und Zerstörungstrieben besessen waren. Ein Mensch muss die Ordnung des Erdenlebens, für sich wenigstens, zerstören wollen, wenn er der Welt entsagt; und wer nur einigermaßen sozial veranlagt ist, der möchte dann, dass möglichst viele zusammen mit ihm entwelten; daher das Klostergründertum, daher der Aufruf zur Askese, von dem derjenige Calvins der am meisten zerstörerisch gemeinte war, und die Werbekraft solcher Aufrufe für die große Mehrzahl geistbewusster Menschen, die insofern eben, auch exzentrisch zum Erdenleben stehen. So erklärt es sich, dass von den meisten Heiligen gesagt wird, ähnlich wie es von Paulus berichtet wird, sie seien im Anfang böse oder schlechte Menschen gewesen: wahrscheinlich galt dies nur von einigen unter ihnen, doch die Legende will mit sicherem Instinkt, dass es bei allen so gewesen sei: jeder geistbewusste Mensch fühlt eben instinktiv, dass der wesentlichen Heiligkeit Störer- und Zerstörerwillen vorangegangen sein müssen.

Soviel aber ist ausnahmslos wahr. In erster Instanz ist der zur Heiligkeit Berufene Kritiker. Indem er sich selbst kritisch gegenübersteht, tut er es zwangsläufig auch anderen gegenüber. Und je sozialer er gesinnt ist, desto unerbittlicher ist er als Kritiker der allgemeinen Zustände. Von hier aus gesehen, ließe sich sogar Bernard Shaw als Kandidat der Heiligkeit vorstellen. Die meisten später anerkannten Heiligen waren, in der Tat, keine milderen Kritiker ihrer Zeit und Zeitgenossen als Shaw. Die meisten, Jesus inbegriffen, waren sogar viel liebloser als er. Hier sei denn, da dieses Kapitel nun einmal Bernard Shaw betitelt ist, ein Wort über Shaws Kritikertum gesagt, zugleich zur notwendigen Ergänzung des am Schluss des Wolkoff-Kapitels Ausgeführten, das sich ausschließlich auf Kritik geistiger Schöpfung, nicht des Lebens bezog. Kritik kann natürlich reine Nörgelei sein, dem Neid und dem Ressentiment entsprungen, oder dem Wunsch, durch Besserwissen Überlegenheit zu demonstrieren; sie kann andererseits dem desinteressierten Trieb entspringen, sachlich richtig zu stellen und zu bessern und insofern eine notwendige, aber subalterne Funktion auszuüben im Körper des manifestierten Geists: der Prototyp des Kritikers und zugleich dessen Höchstausdruck ist der heilige Eiferer. Man lasse alle großen Reformatoren und Propheten an seinem geistigen Auge vorüberziehen: war da auch nur einer, der nicht im Shaw’schen Sinne Gesellschaftskritiker gewesen wäre? In China galt der Zensor, obschon unbeamtet, als Autorität für den Sohn des Himmels selbst: so hoch wurde der unabhängige Unterscheider, der Diskriminator, geschätzt, der den Mut hatte, ganz auf sich selbst gestellt zu sagen, was besserungsbedürftig ist. In der heutigen Welt lebt, deren tristem Niveau und Format entsprechend, kein so hohes und ehrwürdiges Kritikertum; es gibt in ihr leider sogar der unverantwortliche Kritikaster den Ton an. Shaw aber gehört noch, obschon zeitgemäß verkleidet, dem großen Typus an. Er ist so absolut unabhängig, wie es nur ein Exzentrik der erhabenen Artung sein kann. Bernard Shaw steht als Kritiker wirklich so da, wie der Heilige Geist der Unterscheidung und damit der Wertung dastehen muss: völlig allein, keiner bestehenden Ordnung eingeordnet, jeder innerlich überlegen, sein persönliches Urteil als letzte Instanz anerkennend, aber eben darum das genaue Gegenteil des Kritikasters: verantwortend im höchsten Sinne und Verstand. Er wagt es, die Welt allein in die Schranken zu fordern, auf eigene Verantwortung Welten zu zerstören, wie Götter auf eigene Verantwortung Welten schaffen. Und lacht er, wo andere weinen möchten, so lacht er in keinem anderen Sinne wie Gott Shiva, welcher guten Gewissens Welten zertanzt, des gewiss, dass diese Zerstörung Vorbedingung der Geburt von Besserem ist. Zertanzt: hier ist der Ort, das Problem des Kämpfertums zu berühren, als welches vielen ja den Generalnenner für alles sich-selbstbehauptende Leben bedeutet. Zunächst ist es nicht wahr, dass das Leben überhaupt Kampf sei: wo keinerlei Aggressivität vorliegt, gibt es auch keinen Streit, und den meisten blutigen Auseinandersetzungen hätte Verstehen und Anerkennung des Rechtes anderer vorbeugen können; so geschieht es ja auch in normalen Friedenszeiten unter Völkern und privat allgemein in aller tiefgebildeten Gesellschaft. Die Störer und Zerstörer, welche dieses Kapitel behandelt, waren und sind aber trotz ihrer Aggressivität nie Kämpfer im üblichen Sinn, ganz wesentlich nicht, so groß ihre Gegensatzstellung zu ihrer Umwelt war oder ist. Wie hängt das zusammen? Nun, kämpfen im richtigen Verstand des Wortes kann man nur auf gleicher Ebene. Sobald einer der Ebene, auf welcher andere streiten, überlegen ist, kann er sich seinen Widersachern gar nicht stellen, er kann gar nicht von gleich zu gleich, sondern nur von oben herab wirken; er kann nur aus tieferer Einsicht heraus Impulse geben, welche die Problematik des jeweiligen Kampfes erledigen, insofern nach christlicher Lehre, ohne dem Übel zu widerstreben, Böses mit Gutem überwindend oder gemäß Lao Tse wirken ohne zu streiten — oder aber er kann lächerlich machen. Und nicht nur das Lachen der Götter galt von jeher für lebensgefährlich, auch menschliches Lachen kann töten. Der überlegene Lacher nun ist dem Gotte und dem Heiligen allezeit näher, als wer tot-ernst und stur, ob im übrigen noch so tapfer, seinen beschränkten Standpunkt wahrt.

Bernard Shaw ist allen Ernstes einer der wenigen unter unseren Zeitgrößen, die ich als Kandidaten der Heiligkeit anerkennen könnte. Zwar bin ich überzeugt, dass er es zum Doktor der Heiligkeit selbst dann nicht brächte, wenn er so alt würde wie Methusalem: seine Natur ist zu leidenschaftslos dazu; er ist merkwürdig gefühlsarm, beinahe gefühlsgleichgültig. Dann ist ihm das Ärgern und Lachen nicht erste Instanz, sondern, sehr häufig wenigstens, Selbstzweck. Er hat sich nie zu seinem Zerstörertum bekannt. Gleichwohl hat er im Laufe seines langen und tätigen Lebens bei allem harmlosen Anschein mehr und gründlicher zerstört, als die meisten blutigen Revolutionäre. In seiner Jugend war er einer der Hauptbegründer der englischen Arbeiterpartei, später der Frauenbewegung. Und bedenkt man Englands unvergleichlichen, in der Geschichte wahrscheinlich einzig dastehenden Konventionalismus und Konservativismus, so muss man den im Kampf gegen diesen bewiesenen moralischen Mut sehr hoch einschätzen. Ich habe leider nie Gelegenheit gehabt, mit Bernard Shaw darüber zu reden, was er bei seinem Störungs- und Zerstörungswerke fühlt — er liebt es dermaßen, allein zu reden und sich selber zuzuhören, dass es sehr schwer fällt, ihn überhaupt auf Themen zu bringen: aber sicher würde er wohl zugeben, dass er beim Stören und Zerstören allergrößte und -reinste Freude empfindet. Dies erklärt denn seine in den letzten Jahren grundsätzlich erfolgte Zustimmung zu den Gewaltmethoden, die neuerdings wieder modern geworden sind. So sehr er als ehemaliger Protagonist der Freiheit im liberalen Verstand gegen Unterdrückung sein muss: gegen Zerstörung als solche hat Bernard Shaw nie Abneigung gespürt.

In meinem Fall nun sitzt der Zerstörungstrieb, wie gesagt, viel tiefer und ist er viel stärker als bei Bernard Shaw: ich bin eben nur in erster Instanz Komödiendichter. Eben darum ist mein zerstörerischer Einfluss — im Gegensatz zu dem, was Shaw widerfahren ist — zeit meines Lebens eher zu ernst als zu wenig ernst genommen worden. Dies lag nun vor allem wohl an meiner von jeher von vielen gespürten ständigen Bereitschaft zur Selbstzerstörung. Eigentlich bei jedem Ende habe ich auch Lustgefühle gehabt, eigentlich immer einen klaren Bruch dem Dahinsiechen von Beziehungen und Herumkurieren an ihnen vorgezogen. Mein eigener Todeswille ist mir so deutlich bewusst, dass ich mir, durch Erfahrung gewitzigt, bei allem, was ich unternehme, die Gewissensfrage stelle, ob es nicht vom Selbstzerstörungstrieb diktiert ist. Außerordentlich häufig ist es das gewesen: sonst hätte ich mich in meinen Tiefen nicht so darüber gefreut, wenn ein Plan nicht auskam oder schief ausging. Wie vieles soll ich mir im Leben verdorben haben! Von meinem Standpunkt habe ich mir nie für mich Wesentliches verdorben, denn gerade das, was anderen negativ erschien, habe ich meist als besonders positiv empfunden. Mir war es eben, wie besonders in Kosmopathische Seelen dargestellt ward, von jeher in erster Linie um innere Wandlung zu tun, und solche ist unmöglich ohne Selbstzerstörung. Daher offenbar der am häufigsten wiederkehrende aller meiner Träume: der meiner eigenen Hinrichtung, die gewöhnlich im Geköpftwerden besteht. Da der wesentlichste Teil meines Lebens im Unbewussten verläuft, und das Unbewusste nur von Erlebnissen, nicht von Worten affiziert wird, so muss mein wesentliches Streben dahingehen, mir die erforderlichen Erlebnisse zu beschaffen. Und dabei muss ich Katastrophales Milderem vorziehen, weil mein Wachbewusstsein von früh auf einerseits scharfsichtig und praktisch, andererseits friedliebend genug war, um die meisten Schwierigkeiten — wo ich ihnen nicht ausweichen konnte — so weit auszugleichen, dass sie mir nicht viel bedeuten konnten. Bei letzterem half besonders meine Anlage mit, alles und jedes Erfahrene auf die Ebene der Betrachtung zu schieben und es damit für das Gefühl zu irrealisieren. Kein Wunder, dass ich unter diesen Umständen, sofern ich vor allem auf innere Wandlung bedacht war, vom Unbewussten her zeitlebens eben das bejaht und begrüßt habe, was andere als mein selbstverschuldetes Missgeschick bedauerten. An der Möglichkeit der Wandlung nun habe ich schon als Kind keinen Augenblick gezweifelt. Wie mich als Schüler, ich war damals fünfzehn Jahre alt, ein Kamerad auf gewisse Fehler meiner Natur aufmerksam machte, erwiderte ich ungekränkt: Gut, das werde ich ändern. Und wie dieser mir dann sagte: Deinen Charakter kannst du doch nicht ummachen, so glaubte ich nicht recht gehört zu haben. Natürlich ist der Charakter als solcher nur in geringem Grade wandelbar, aber aus dem Geiste wiedergeboren werden kann jeder Charakter, und dieses wusste ich schon dazumal. Wenn ich also so übermäßig angefeindet worden bin, so liegt das wohl an der Erwägung, die wahrscheinlich die meisten meiner Gegner unbewusst anstellten: wer so unbefangen gegen seine eigenen Interessen wüten kann, der ist anderen gegenüber wohl zu allem fähig. Immerhin trat mein Ärgernis-Erregendes nur wenig und selten in Erscheinung, solang ich jung und sanft war und abgeschieden, vor allen herausfordernden Eindrücken behütet, zuerst als beschaulicher Ästhet in den Großstädten Europas, sodann in Rayküll lebte. Während der Weltkriegszeit war ich sogar so seren, wie niemals früher noch später im Leben. Was dies bedeutet, erklärte mir später C. G. Jung, bei dem ich tags nach dem Attentat der Zürcher, während welches ich besonders ruhig und heiter gewesen war, zu Mittag aß. Wenn es draußen stürmt, dann ist Frieden in Ihrer Seele, sonst gilt das Umgekehrte. Kaum jedoch hatte ich in Darmstadt die Schule der Weisheit gegründet, da setzte eine Serie von Konflikten ein. Der erste, der bis in die Öffentlichkeit drang, erfolgte im Zusammenhang mit dem Besuch Rabindranath Tagores.

R a b i n d r a n a t h - T a g o r e - G r a f - H e r m a n n - K e y s e r l i n g

Mein Zusammen-Erscheinen mit diesem schönen friedlich-harmonischen indischen Weisen machte vielen zum ersten Male deutlich, dass ich damals so ziemlich Tagores Gegenbild darstellte. Und da es allen selbstverständlich schien, dass nur ein Weisentum Tagore’scher Artung als Weisentum gelten darf, so führte meine Gegensätzlichkeit dazu zum ersten Sturmlauf gegen das Darmstädter Zentrum. Blicke ich nun heute auf das zurück, was in jener besonders schweren Zeit, da ich mir nach dem Verlust der Heimat eine neue Existenz gründen musste, vorging, so muss ich zugeben: ich habe mit dem Namen Schule der Weisheit alle Beruhigten und Trägen von vornherein herausfordern wollen. Durch Ärgernis-erregende Paradoxie wollte ich vom ersten Augenblick an deutlich machen, dass Weisentum, wie ich allein es als Wert gelten lasse, ein anderes darstellt, als Greisen-Harmonie, und dass (wie schon erzählt) sein wahres Urbild jener chinesische Weise ist, den die Schrift durch eine Kombination der Ideogramme für Blitz und Wind darstellt. Ich wollte also herausfordern, als ich meine Gründung Schule der Weisheit hieß: so war es denn nur konsequent, wenn ich später das Paradoxon verbreiten ließ, die Schule der Weisheit führe diesen Namen, erstens weil sie keine Schule, und zweitens, weil Weisheit nicht lehrbar ist. Auch hier war offenbar Zerstörungswille am Werk: ich wollte Vorurteile zerstören und zu diesem Zweck zunächst Ärgernis erregen. In eben diesem Sinne habe ich in meiner ganzen Lehrtätigkeit die paradoxale Ausdrucksweise bevorzugt: wie ich in der wichtigsten Studie über spermatisch-geistige Wirkung, die ich von meinem Standpunkt geschrieben habe, nämlich Jesus der Magier in Menschen als Sinnbilder ausführlich dargelegt habe, entspricht das Paradoxon auf geistigem Gebiet dem Explosiv auf physischem. Wie dieses ungeheure Spannungen in sich beschließt, die sich jedoch nicht entladen, so lange es still daliegt, so dass es harmlos aussieht, so wirkt das Paradox zunächst bloß unverständlich. Wird es jedoch verstanden, so übt es in der betreffenden Seele die Wirkung eines echten Sprengstoffs aus. Da nun das Paradoxon bei jedem neuen Verstehen neu explodiert und unverstanden ewig harmlos aussieht, so ist es der angemessene Ausdruck für zeitlosewigen Erneuerungsimpuls. Während der heute hinter mir liegenden Jahre intensivsten Wirkens in die weiteste Außenwelt hinaus potenzierte sich denn die Ur-Anlage des Menschen ohne persona — ich identifizierte mich (im Gegensatz zu Jungs witzigem Ausspruch über sich selbst) immer weniger mit dem, was andere von mir erwarteten. Anstatt milde zu helfen, wurde ich immer herausfordernder. Anstatt mich zu allumfassender Nachsicht als Folge von Allesverstehen auszugleichen, wurde ich immer intoleranter. Bald wurde ich, der ich von Hause aus überhaupt nicht Kämpfer war, da ich ursprünglich so sehr alle Seiten einer Frage sah, dass es mir schwer fiel, einseitige Entscheidungen und damit Entscheidungen überhaupt zu treffen, so wesentlich darauf bedacht, meine bestimmte Haltung und Linie im Leben durchzuhalten, dass ich in einer dauernden Spannung zu meiner ganzen Zeit stand, das heißt zu allen den verschiedenen Geistern, welche sie umschichtig oder gleichzeitig, miteinander streitend, zu bestimmen trachteten. Schon 1921 bejahte ich, der ich in der Periode des Reisetagebuchs nur in mildem Allesverstehen das Heil sah, auch Zerstörung durchaus, wo solche den Weg zur Wiedergeburt darstellt. Damit aber nahm ich nur auf mich, bejahte und erfüllte ich mit tieferem Sinne das, was die Natur ursprünglich in mir angelegt hatte.

Doch der Umweg, welchen ich machen musste, war weit. Ironiker und Humorist war ich immer, doch ich wollte es nicht sein; in meiner Jugend war ich der Absicht nach zum mindesten so ernst, wie nur je ein begabtes Mädchen im Backfischalter. Intolerant war ich gleichfalls immer, wo ich Wert gegen Unwert abgehoben zu sehen meinte, aber ich bekämpfte das, was ich als subjektive Parteinahme empfand, als vom Geist her zu überwindende Unzulänglichkeit. Mit dem Reisetagebuch glaubte ich die Grundlage meiner geistigen Zukunft abgesteckt zu haben, doch es erwies sich (siehe meine Selbstdarstellung in Menschen als Sinnbilder), dass die durchgeistigte Serenität dieses Buchs ein Produkt der Abspaltung war. Vom Reisetagebuchzustand her hätte ich niemals mehr werden können, als ich damals war, denn mein anerkanntes Bewusstsein und Erlebnisfeld von damals schloss beinahe alles Erdhafte in mir aus. So musste ich recht eigentlich neu anfangen, um weiterzuleben und schließlich dem Ziele nahzukommen, das ich vom Hilfsgerüst des Reisetagebuchzustands her schon mit Händen greifen zu können meinte. Und so musste ich, gerade wo ich auf das Reisetagebuch hin das Prestige eines echten Weisen zu gewinnen begann, um nicht unwahrhaftig zu werden, dieses Prestige bewusst sabotieren und zerstören und mich unweiser (im üblichen Verstande) darstellen, als ich je früher gewesen war. An der Arbeit an mir und an anderen zugleich, welche die Schule der Weisheit ermöglichte und forderte, wuchs ich nun aber in anderer Richtung fort, als ich erwartet hatte. Ich wurde, wie mir dies der sehr kluge schwedische Analytiker Poul Bjerre 1924 richtig voraussagte, nicht immer ausgeglichener, sondern immer gespannter und damit explosiver. Immer weniger empfand ich meine Seele als heiteren Himmel, immer mehr als Gewitter. Und je weiter mein Aktionsradius ward, desto mehr fühlte ich mich zu intensivem Wirken verpflichtet. Bis die Periode des Störer- und Zerstörertums endgültig um war. Seit einigen Jahren (dies schreibe ich 1943) wecke ich, soweit ich dies beurteilen kann, unwillkürlich keine Gegenbewegungen mehr.

An dieser Stelle kann ich denn die Sonderbetrachtungen dieses Kapitels in diejenigen Schule der Weisheit betitelten, die man nach diesem Kapitel lesen wird, einmünden lassen und damit zugleich, nach der Aufdeckung verschiedener Ähnlichkeiten, eine klare Scheidung zwischen Bernard Shaw und mir selber vornehmen. Shaw hat nie mehr gewollt, als durch seinen Geist Wandlung zu Besserem einleiten. Ich habe zeitlebens in allen Hinsichten als unteilbares organisches Ganzes gelebt, so wie ich zeitlebens nicht mit dem Kopf allein, sondern auch mit Haut und Gedärmen philosophiert habe. Darum denn wirkte mein Zerstörerisches viel tiefer als dasjenige Shaws. Darum hing mein Zerstörerisches andererseits unmittelbar mit meinem Befruchtenden und Spermatischen zusammen. Dies wird völlig klar werden, wenn ich hier an das wieder anknüpfe, was oben über die Rolle des Exzentrikers gesagt ward. Spermatisch wirken kann nur der Exzentriker. Alle bestehende Ordnung besteht auf Grund des weiblichen Prinzips, als welches ein statisch-Erhaltendes ist. Alle Kreise des Lebens werden insofern gleichsam durch die Schwerkraft zusammengehalten, in ihnen selbst liegt kein beschleunigendes Motiv. So ist auch die Jungfrau geschlossen. Gleich wie nun die Befruchtung das bisherige Sosein der Jungfrau sprengt, Neuem, Niedagewesenem den Weg bereitend, so kann nur ein kreisestörender Impuls von außen her neues Leben begründen. Insofern ist vom Standpunkt der statischen Frau der Mann überhaupt Exzentriker. Insofern waren sogar Buddha und Christus Exzentriker. So wirkten alle sehr männlichen nur auf Befruchtung bedachten Geister, wie in der Antike Heraklit, Sokrates und Diogenes auf alle, die sich nicht von ihnen befruchten lassen wollten, als reine Ärgernisse. Gleiches galt später von den christlichen Märtyrern und Heiligen, als welche vom Standpunkt der antiken Welt überhaupt nichts anderes taten, als konsequent äußerstes Ärgernis zu erregen. Auf gleichem beruht die ganze große Wirkung Nietzsches auf diese Zeit.

Nun will ich durchaus nicht behaupten, jeder im beschriebenen allgemeinen Sinn Exzentrische sei primär ein Mensch ohne persona, von entweder primärer oder humoristisch abgearteter Zerstörungstendenz gewesen. Bei sehr vielen, den ganz Großen wie Jesus und Buddha jedenfalls, beherrschte der Trieb zum Aufbau alles Vordergrundbewusstsein, und das Ärgernis-Erregende ergab sich sekundär. In meinem Falle ist das nicht-Ernstnehmen gegebener Gestaltung und der Trieb zur radikalen Erneuerung unzweifelhaft das primäre Motiv gewesen während der Periode, da ich als Reformator vom Geiste her und als Völkerkritiker zu wirken trachtete. So beendete ich den Schlussvortrag der Weisheitstagung Spannung und Rhythmus, deren grundsätzlich wichtigste Stellen im Chamberlain-Kapitel zitiert wurden, mit den folgenden Sätzen:

Der Mensch, den wir heranbilden, wird störend wirken, ja der heutigen Mehrheit ein ständiges Ärgernis bedeuten, gerade insofern er weise ist… So, nicht anders hat der historisch zu wirken, in welchem unser Impuls lebendig ward. Er soll als Träger der ökumenischen und als solcher der bisher höchsten verwirklichten Spannung wirken inmitten des Gekräusels dieser Zeit. Da aber kommt es auf jeden Einzelnen an. Äußerlich aufgefasst, versteht sich dieser Satz von selbst: wo eine kleine Minderheit sich zur Eroberung anschickt, darf natürlich keiner passen. Doch hat er einen noch sehr viel tieferen Sinn, und aus seiner Erkenntnis heraus wendet sich die Schule der Weisheit an erster und letzter Stelle nicht an die vielen, sondern an den Einzelnen. Woher kommt es, dass aller, schlechthin aller Fortschritt auf Erden von Einzelnen ausging? Weil jeder in seinem Bewusstsein bis zum Selbst Vertiefte die Angel darstellt der Welt. Einseitigkeit als solche ist unüberwindlich. Die Konflikte der Oberfläche sind auf eigener Ebene unlösbar, denn nur endgültiger Ausgleich, das heißt Tod könnte hier Lösung bedeuten, weshalb die Vorstellung irgendeines Endsiegs dank äußerer Machtentfaltung eine grundsätzliche Selbsttäuschung bedeutet; die absolute dauernde Übermacht wird keine Partei je erringen. Doch der äußerlich schwächste Einzelne, der sich so weit vertiefte, dass sein Sondersein ihm zum Ausdruck wurde des kosmischen Ganzen, verfügt über dessen überempirische Macht. So genügt der Druck auf einen einzigen winzigen Punkt in einem geschlossenen Kräftesystem, um dessen Gesamtheit umzustellen und die vorhandenen Spannungen in neue überzuleiten.

In jener Periode erfüllte mich ohne Zweifel Freude am Zerstören dessen, was ich für sterbensreif hielt. Und so ist es charakteristisch für den Weg meiner Seele, dass ich meine Störer-Zerstörer-Periode dadurch abschloss, dass ich zuletzt selber den Ast absägte, auf dem ich saß. Hätte ich das Spektrum Europas und Amerika nicht geschrieben und nicht im Geiste dieser Bücher mehrere Jahre lang als Redner gewirkt, ich hätte wahrscheinlich nicht zur rechten Zeit in die Stille zurückgefunden, die meine eigentliche Heimat ist und aus welcher ich, von der Ganzheit meines Lebens aus geurteilt, jeweils nur auf kurze Zeit überhaupt herausgetreten bin. Bei der eigentümlichen Korrelation vom Äußerlichen und Innerlichen, die sich bei mir das ganze Leben hindurch nachweisen lässt, hörte der äußere Erfolg beinahe genau dann auf, wo er mir hinderlich wurde.

So entsprach denn das Ärgernis-Erregen und spermatisch-Wirken als gewollte zusammenhängende Form des Wirkens nur einer bestimmten, grundsätzlich Anfang der dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts abgelaufenen Lebensphase. Zwar merkte ich nicht gleich, dass die Zeit um war, ich versuchte sogar mehrere Jahre lang krampfhaft Verjährtes fortzuführen und litt sehr darunter, dass es nicht mehr wie vormals ging; doch es war so. Dieses bestimmte Werk hatte ich getan; die Stillstandsgebärde bestimmter Art, die ich 1920 vollführen wollte, hatte ich vollbracht, und während der sieben bis zehn Jahre des Wirkens in deren Form ist alles erreicht worden, was ich erreichen wollte. Der Spermatiker kann ja nur befruchten, nicht gebären, und es liegt in der Natur der Dinge, dass seine Kinder oft anders ausschauen als er es meinte: frühestens in den Enkeln schlägt der neubegründete Typus normalerweise durch und oft erst in späteren Nachfahren. Immerhin muss ich dankbar feststellen, dass in den kurzen zwanzig Jahren (dies schreibe ich 1940) seit Gründung der Schule der Weisheit schon mehr Saat aufgegangen ist, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Wie oft ist mir vorgehalten worden, ich stöße mit meiner Art so viele ab, dass dadurch Befruchtung unmöglich würde! Aus solchen Vorhaltungen sprach Kurzsichtigkeit. Niemand nimmt den Witz übel, der auf Kosten Anderer gemacht wird, er freut sich seiner. Jeder Unbeteiligte freut sich der Aggressivität, die Wahrhaftigkeit und Mut zum Ausdruck bringt, wenn sich nachträglich erweist, dass aus ihr Erkenntnis sprach. So haben meine Bücher und Reden, welche die, an welche sie sich unmittelbar wandten, vielfach ärgerten, in anderen ein desto positiveres Echo gefunden. Aber auch die Völker, welche so sehr gegen mich waren, bestehen heute schon zum großen Teil aus anderen, und solche andere allein kann der im Auge haben, welcher überhaupt Dauerziele verfolgt. Ferner werden die Verwundeten selbst eben dank der Verwundung unaufhaltsam zu anderen, so dass ich meinen damaligen Weg nach wie vor als den kürzesten ansehe, der unter den gegebenen Umständen überhaupt zu dem Ziele führen konnte, das ich in jener Periode anstrebte. Schon bin ich im Besitz eines gleichsam spektakulären Beweises dessen, dass der letzte Satz wahrspricht. Nach den Attentaten der Jahre 1931 und 1932 in der Schweiz traten so viele Schweizer meiner Darmstädter Gesellschaft für Freie Philosophie bei, dass dieses Land relativ zu seiner Größe lange Zeit hindurch die größte Zahl Mitglieder stellte. In der Schweiz habe ich noch heute mehr gute und verstehende persönliche Freunde als irgendwo. Vor allem aber erfreute mich im Oktober 1936 das folgende Ereignis. Ich kam auf wenige Tage nach Genf. Dort bat man mich, unvorhergesehen, in geschlossenem Kreis zu reden. Gern sagte ich zu, in 24 Stunden war ein Vortrag improvisiert, an dem gegen fünfhundert junge Leute teilnahmen. Und da wurden zur Einführung unter donnerndem Beifall Teile eben des Schweiz-Kapitels des Spektrum Europas verlesen, um dessentwillen ich vormals so sehr geschmäht worden war. Im Kommentar aber wurde ich unmittelbar als einer der Reformatoren der Schweiz gefeiert.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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