Schule des Rades
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit
I. Ursprünge und Entfaltungen
II. Zeitgenossen - Streben nach Sinnerfüllung
Denke ich an meine frühesten Entwicklungsjahre zurück, so fällt mir als erstes auf, wie ungeheuer wenig mir dazumal die Zuständlichkeit meiner selbst und meiner Altersgenossen bedeutet hat; sie hat mir dermaßen wenig bedeutet, dass es mir heute noch schwer fällt, meine Aufmerksamkeit überhaupt an sie zu heften. In mein viertes oder fünftes Lebensjahr fällt mein erster literarischer Versuch: in lapidarer Kürze beschrieb ich da mein tägliches Leben vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, und der Ausdruck, dessen ich mich recht genau erinnere, war trotz aller Kindlichkeit des Inhalts ähnlich verdichtend im Sinn der Implikation, wie der epische Lakonismus der gleichfalls von primitivem Geist diktierten Rückblicke Tamerlans. Schon damals musste ich im weitesten Wortsinn verdichten
, das heißt Hinter- und Vordergründe mit der unmittelbar erfahrenen Gegenwart einheitlich zusammenschauen, um zu erleben, wie nur jemals später; nur aus sehr großer innerer Distanz heraus konnte ich schon damals mein konkretes Dasein lebendig vorstellen. Die Ursache dessen war in meinem Falle weniger, dass ich intensiver und ausschließlicher als die meisten Kinder in der Bilderwelt des Spielenden lebte und darum meine reale Existenz in diese hineinbeziehen musste, auf dass sie für mein intimes Erleben wirklich würde, als dass ich mich mit meinem Kindsein, obschon ich mehr reines Kind war und länger ein solches blieb als die meisten, nie eigentlich identifizierte. Wie dies zutiefst zusammenhängt, wurde mir erst beinahe ein halbes Jahrhundert nach dem Augenblick, da ich des Geschilderten zuerst gewahr ward, in Argentinien deutlich, da ich von dem Urweltlichen einerseits und dem Urgeistigen andererseits mit nie früher gekannter unterscheidender Deutlichkeit ergriffen ward. Damals sagte mir ein spanischer Arzt von beinahe mehr als spanischer Verhaftung ans Erd- und Fleischhafte: Sie wohnen in einer phantastischen Welt, die von der unseren vollständig abgeschieden ist. Es ließe sich in der Tat kaum ein größerer Gegensatz konstruieren, als der zwischen dessen massivem Wirklichkeitssinn und meinem selbstverständlich ursprünglichen Leben in der Sphäre dessen, was ich im Reisetagebuch die Welt des Möglichen hieß und späterhin als Reich des Sinnes zur Grundlage einer Philosophie auszubauen versuchte. Meine ursprüngliche Einstellung, die sich in meiner Kindheit natürlich am reinsten äußerte, entspricht beinahe durchaus derjenigen des intuitiven Typus, wie ihn C. G. Jung beschreibt; unmittelbar und ursprünglich perzipiere ich nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit, nicht das Da- und Sosein, sondern das Werden im Zusammenhang mit dessen Untergründen und Entwicklungsziel; nicht den gegebenen Tatbestand, sondern den diesem zugrunde liegenden schöpferischen Sinn. Ebendarum habe ich Gestaltungen
nicht allein außer mir nie letztlich ernst nehmen können, sondern auch in mir nicht; mein ursprüngliches Bewusstsein spiegelte allezeit ein anderes, die vorhandene Möglichkeit besser Vollendendes, das den Tatsachenmenschen völlig irreal erscheinen muss. Daher das Proteus-Ideal der Reisetagebuchzeit.
An dieser Grundeinstellung hat sich bis heute nichts geändert, soviel ich an schmerzlicher Erfahrung zugelernt habe, und wahrscheinlich wird sie sich, je näher ich meinem geistigen Ziele komme, noch akzentuieren, denn immer gewisser wird mir von Jahr zu Jahr das bestimmende Vorhandensein nichtirdischer Wirklichkeit. Doch seit ich mit Antritt der Weltreise die mir einzig gemäße Einstellung inmitten der nun einmal vorhandenen Menschenwelt einzunehmen begann, wurde ich der tatsächlichen Wirklichkeit trotzdem fortschreitend gerechter; ich lernte sie immer mehr und richtiger durchschauen und wurde dank dem im Grenzfalle fähig, vom unmittelbar erfassten Sinne her bestimmte Tatsachen a priori und dennoch richtig zu konstruieren. Denn gar nicht verstandene oder das Verstehen-wollen gar nicht herausfordernde Tatsachen können einen Menschen meiner Art nicht oder nur schwer innerlich berühren. Wie soll unter diesen Umständen ein ursprünglich wie beschrieben Eingestellter zu der Phase im Leben ein sympathetisches Verhältnis gewinnen, die auch im Ausdruck nichts als Möglichkeit ist? Vom ersten Erwachen meines verstehenden Bewusstseins an empfand ich mein Kind- und auch noch mein Jüngling-Sein als irreführend vorläufig. Nur an Erwachsenen, welche ihren Sinn
in der Verwirklichung zeigten, konnte ich in meiner Kindheit und Jugend ein Bild dessen gewinnen, was mir die Wirklichkeit des Menschen überhaupt bedeutete. Mir selber war ich bis zu meinem achten oder neunten Jahr — schwerlich länger — trotzdem nicht unsympathisch, denn ich erlebte eben doch als Subjekt vom schöpferischen Sinne her, und meine Eltern waren weise genug, mich nicht dabei zu stören; ferner beugte die kindliche Lebensform der Existenz auf der Ebene des Spiels, sonach der inneren Bilder, dem Gewahrwerden der Diskrepanz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit vor. Aber andere Kinder waren mir als solche von Anfang an von Herzen unsympathisch. Ich wusste eigentlich gar nichts mit ihnen anzufangen, außer eben ich bezog sie als Elemente in meine Spiele hinein, was sie als Personen entwirklichte. Ihren Anspruch, als empirische Gegebenheiten ernst genommen zu werden, sonach als Kinder anderes zu bedeuten als eben Spielgefährten, störte mein angeborenes Weltbild und verstörte mich; es verstellte meine Gebärde
, wie es in der Lutherschen Bibelübersetzung heißt. Ihre größere Fertigkeit im Sinn der Angenähertheit an den Erwachsenenzustand jedoch — und alle Kinder, welche ich kannte, waren fertiger als ich — empfand ich als Karikatur. Andererseits aber machte mich dieselbe größere Fertigkeit meiner eigenen Unfertigkeit schmerzhaft bewusst. So wurde ich mir selber mit acht Jahren bereits nicht nur im gleichen Maße unsympathisch, sobald ich über mich und andere reflektierte, als es mir andere Kinder waren, sondern noch sehr viel unsympathischer. Dies ändert nichts am spezifischen Glück der Kindheit: letzteres beruht in freiem Ausströmen der lebendigen Energien bei gleichzeitiger Selbstvergessenheit, und dieses Glück habe ich nicht nur als Spielender, sondern auch als Tierzähmer und -betreuer in wahrscheinlich seltenem Grad und sogar selten lange, da ich abnorm lange Kind blieb, genossen. Gleichsinnig bin ich im späteren Leben in seltenem Grade glücklich gewesen jedesmal, wo ich mich, sei es in der Liebe, sei es vor allem im spontanen Schaffen, selbst vergaß; zumal in letzterer Hinsicht bin ich selten begnadet gewesen, denn in den Perioden, in welchen ich überhaupt schöpferisch war, setzte diese Fähigkeit kaum aus; von Stimmungen nicht allein, sondern auch von der Rücksicht Anderer, Umgebung, Abgeschiedenheit, Stille usw. war ich zeitlebens unabhängig; ich bin eigentlich nie zu stören
gewesen. Doch selbstvergessen war ich zeitlebens eben nur, wenn ich mich schöpferisch betätigte.
Sonst beobachtete und bespiegelte ich mich unausgesetzt, und das Ergebnis solcher Reflexion berührte mich vom ersten Augenblicke an alles eher als angenehm. Ich entsinne mich genau der drei ersten Besuche nicht verwandter Kinder, die schon mit jüngeren Jahren als ich sie zählte, angehende Herren und Damen waren: der Kontakt mit diesen machte mir das Vorläufige meiner Erscheinung so schmerzhaft bewusst, dass ich Stunden nachher haltlos weinte über das, was ich meine Scheußlichkeit hieß. Schon damals hörte ich denn auf, meine empirische Person zu lieben. Damit aber hörte ich auch auf, mich mit dieser zu identifizieren: wenn ich mich so von außen sehen konnte, so musste ich als Wesen doch ein anderes sein als die Erscheinung. Sehr früh schon begann ich damit meinen entwicklungsfähigen und an die gegebene Verkörperung nicht gebundenen Geist als besondere Wesenheit zu spüren und als mein wahres Wesen anzuerkennen. Zu Hause störte mich der Widerspruch zwischen ihm und der Erscheinung wenig, denn ich lebte ja nicht mit Menschen gleicher Art, sondern mit Vorfahren und Tieren zusammen. Alle Kindheit und frühe Jugend außer mir hingegen empfand ich als bedrückende und hemmende Umwelt. Viel Jugend sah ich ja in meiner Kindheit nicht, und war ich tatsächlich mindestens einen guten Monat im Jahr mit vielen Vettern und Basen zusammen, so wurde ich dessen nie eigentlich gewahr — so wenig, dass mir, als ich nach längst vollendetem halben Jahrhundert des Erdenwandels gelegentlich von meiner einsamen Kindheit erzählte, recht eigentlich bewiesen werden musste, dass mein Gedächtnis, äußerlich beurteilt, trog. Der einzige Kindheitsgefährte, dessen ich wirklich gewahr ward, war Otto Taube — doch der war nicht weniger Vorfahren- und Tier-bezogen als ich, jedenfalls erlebte ich ihn also, und so habe ich denn heute noch kaum das Gefühl, dass wir just Kindheits- und Jugenderinnerungen gemein haben; ich schaue rückblickend einfach sein zeitlos-sinnhaftes Wesen im zeitlichen Zusammenhang zusammenklingender Lebensmelodien vom ersten erinnerten Augenblicke an. Von allen anderen Altersgenossen gilt das oben Gesagte. Sie erschienen mir, dem die lebendige Möglichkeit in all ihrer Vieldeutigkeit die ursprüngliche Erlebniswirklichkeit war und demgemäß der Mythos das eigentlich Wirkliche im Gegensatz zur wissenschaftlichen Wahrheit, als desto häßlichere Embryonen, je mehr sich meine Intuition vertiefte und differenzierte und je gestaltungsfähiger meine Phantasie wurde. Vor allem aber rief mir solcher Kontakt mein eigenes (gegenüber dem der anderen) noch viel größeres Embryonentum von Jahr zu Jahr unangenehmer ins Bewusstsein. Ich kann ehrlich behaupten, dass ich sogar als Kind nie glücklich im Sinn der Selbstzufriedenheit gewesen bin. Und wahrscheinlich war die Kindheit und Jugend jedes vornehmlich Intuitiven im gleichen Sinn besonders leidvoll: die Intuition dringt ursprünglich hinter die Erscheinung und kann nur verwirklichte innere — nie äußere — Möglichkeit als Wert gelten lassen. Auf Grund meiner ursprünglichen Anlage sowie dessen, was diese mir bedeutete — dass ich sehr lange, eigentlich bis zur Reisetagebuchzeit, keinen klaren Begriff davon hatte, ändert nichts am Sachverhalt —, konnte ich von meiner Kindheit an und dann zeitlebens nicht umhin, die Person, welche ich gestern war, von jedem Heute aus und jedem Morgen zu zu entwerten und womöglich zu verleugnen: so selbstverständlich war mir, dass ich wesentlich grenzenlose Möglichkeit
war und dass deren fortschreitende Verwirklichung an das Nichthaften an frühere Gestaltung geknüpft war. Und an dieser Entwertung hatte natürlich jeder Genosse eines verjährten Zustandes teil, der nicht im Einklang mit mir in der Verwandlung fortschritt. In meiner Kindheit und Jugend ging ich bewusst nur auf Beobachtung der Außenwelt aus, darum machte ich mir wenig Gedanken darüber, was in mir vorging; ich akzeptierte es als selbstverständliches Geschehen. Blicke ich heute jedoch verstehend auf meine frühesten Zustände zurück, dann darf, ja muss ich sagen: von jeher habe ich nach der Sinnerfüllung gestrebt, die ich erst 1911 gedanklich zu fassen und als bewusstes Ziel vorzustellen fähig wurde.
Aus allem Gesagten folgt als allgemeine Konsequenz, dass ich von dem Augenblicke an, wo ich die Frage zu stellen in der Lage und wo mein Reflexionsvermögen einigermaßen ausgebildet war, mit mir selber als empirischer Person unzufrieden gewesen bin. Und das wurde mit den Jahren nicht besser, sondern immer schlimmer. Gelangte ich mit dem mündig-Werden über die erste (elementar-organische) Unzulänglichkeit bis zu einem gewissen Grade hinaus, so steigerte und vertiefte sich die immer bewusster werdende Diskrepanz mit meinem idealen Ziel, welches ich mir von Jahr zu Jahr höher steckte. Zur Zeit, da ich dieses schreibe, mit 59 Jahren, ist das hierdurch bedingte Gefühl der Unzulänglichkeit dermaßen stark geworden, dass ich als die empirische Person, welche ich bin, am liebsten stürbe und einen Subjektwechsel erlebte, so wie ihn Jesus einer bestimmten Legende nach bei der Jordantaufe erlebt haben soll: da nahm der Christus die Stelle des früheren Jesus ein. Nichts natürlicher daher, dass ich oft bitter lachen muss darob, dass ausgerechnet ich immer wieder als Ich-verliebt und Ich-zentriert beurteilt worden bin: schlechthin jeder und jede, dem oder der ich in meinem schon recht langen Leben begegnet bin, hat sich selber lieber gehabt und mit besserem Gewissen für die Anerkennung seines wertvollen Soseins gekämpft als ich. Ich habe unter meiner Natur immer nur gelitten, weil sie so gar nicht dem entsprach, was mein Geist forderte. Und je stärker sie wurde und je reicher sie sich entfaltete, desto mehr habe ich sie zeitlebens als Hemmung und Schranke empfunden, die ich zu überwinden hätte — so sehr sie mich andererseits wieder und wieder mit sich fortriss und so früh ich einsah, dass der Weg der Askese, in welcher Form auch immer, kein möglicher Weg für mich war. Freilich habe ich oft mit vollendeter Rücksichtslosigkeit auf andere die Lebensbedingungen hergestellt, die meinem geistigen Schaffen oder auch meiner inneren Reifung am förderlichsten schienen. Doch mein empirisches Ich nahm ich dabei keinen Augenblick ernst: unter anderen Umständen konnte ich unmenschlich hart gegen dasselbe sein. Ich sah in dem, was den meisten innerlich-letzte Instanz ist, nie Besseres als ein Instrument. Dies ging bei mir so weit. dass ich niemals in meinem Leben das unmittelbare (nicht reflexionsbedingte) Bedürfnis gespürt habe, im Recht zu sein, mich zu verteidigen, ja auch nur meine Interessen zu wahren. Den Geist, welcher aus mir sprach, nahm ich freilich desto ernster. Doch niemals identifizierte ich meine empirische Person mit ihm. Als ich 1901 nach Wien kam und sich erste Vorboten produktiver Geistigkeit zeigten, lachten ältere Gönner — wie sie mir später erzählten — oft darüber, wie erfreut erstaunt ich tat, wenn mir ein guter Einfall kam: ich bestaunte ein meinem damaligen Ichbewusstsein Fremdes. Nachdem ich mich nun mit dem Schaffen des Gefüges der Welt
1904 als unzweifelhaft produktiv erwiesen hatte, überkam mich eine große innere Sicherheit. Aber das war die Sicherheit nicht des im üblichen Verstande Selbstsicheren, sondern gleichsam des hohen Beamten, welcher bevollmächtigt ist, ein Reich verantwortend zu vertreten.
Meine philosophische Begabung empfand ich in den ersten Jahren ihres mir-bewusst-geworden-Seins als ein meiner Natur, welche die des Landedelmannes blieb, ursprünglich Fremdes, in diese Eingebrochenes, und ich sah keinerlei Grund, mich für dieses Fremde und als hohen Wert Bejahte nicht unbefangen einzusetzen, obgleich ich von da ab den Philosophen in mir als mein eigentlich und einzig bejahtes Selbst anerkannte. Noch größere Sicherheit auf anderer Ebene habe ich später gekannt, da ich mich, von 1920 bis etwa 1927, mit dem Reformator vom Geiste her
, der ich als Leiter der Schule der Weisheit sein wollte, ausschließlich identifizierte. Aber das Wesentliche ist, dass mein Bewusstsein selbstverständlich zwischen dem empirischen Ich und dem Geiste unterschied: mindestens so schroff wie der Todesurteile fällende Richter zwischen diesem in sich und der Privatperson. Dass andere hier in meinem — wie übrigens in jedem mir bekannten analogen — Falle fast immer falsch geurteilt haben, liegt daran, dass der substanzielle Geist, obschon von der empirischen Person verschieden, personal ist. Darum ist jeder seines Selbstes bewusste Verkörperer substanziellen Geistes selbstbetont in genau dem gleichen Sinne, wie dieses Jesus war. Allerdings aber muss ich zugeben, dass ich von früh an und zeitlebens besonders unvorsichtig in der Äußerung meines Selbstgefühls gewesen bin. Ich hatte so wenig Verständnis für die Vorurteile und neutralisierenden Spielregeln der Mittelmäßigkeit, dass ich gar nichts dabei fand, falls sich kein anderer dazu hergab, unbefangen selbst den Impresario meines Geistes zu spielen. Von meinem geistigen Selbstbewusstsein her geurteilt, lebte mein empirisches Ich auf derselben Ebene wie andere Ichs; zu beiden fühlte ich den gleichen Abstand. Warum also sollte ich, wo ich als Ich fungierte, über mein Selbst nicht ebenso reden oder für dasselbe arbeiten wie für andere Geister? Zumal andere meinen Geist kaum verstanden und mir hier Nachhilfe besonders geboten schien? Freilich war es vollendet unklug, dass ich meine Überzeugung offen äußerte, und so muss ich es auch als berechtigt anerkennen, dass mein Gebaren für mich oft unliebsame Folgen gehabt hat. Allein dem Sinne nach lagen die betrachteten Verhältnisse ganz anders, als sie so oft beurteilt worden sind. Nur zwei Argumente zugunsten des Daseins meiner sogenannten Eitelkeit kann ich überhaupt gelten lassen: erstens meine kindliche Freude daran, wenn ich, der ich mich immer als unzulänglich vorstellte, mir selber kritisch zuschauend gelegentlich feststellen konnte, dass ich wirklich Wertvolles geleistet hatte oder als Redner mit mir fortriss oder als Causeur glänzte. Insofern ist noch der zum Yogi Berufene ein Narziss, da er sich als Geist alle Zeit zuschaut, und zwar aus methodischen Gründen zuschauen muss, bis er über die Scheidung von Schauen und Geschautem hinausgelangt ist. So forderte der Buddha von seinen Mönchen als ständige Übung sogar das genaue Beobachten und vorstellungsmäßige Herausstellen jeder organischen Funktion. — Das zweite Argument zugunsten des Daseins meiner sogenannten Eitelkeit, welches ich gelten lassen kann, ist das folgende: was ich als Unzulänglichkeit, ja Häßlichkeit meines empirischen Ich empfand, faszinierte mich andererseits. Immer wieder versenkte ich mich in sie, nicht jedoch um mich ihrer zu erfreuen, sondern um zu sehen, wie ich sie beseitigen könnte. Aus diesem und keinem anderen Grunde habe ich mich wohl häufiger als die meisten im Spiegel betrachtet und dies zwar auf allen Ebenen, der materiellen wie der seelischen und geistigen, und manchmal frage ich mich, ob das Bedürfnis, sich im Spiegel anzusehen, nicht im Falle aller strebenden Menschen diese Ursache und nicht die der Selbstgefälligkeit hat. Frauen jedenfalls beschauen sich vielmehr dazu, um sich zu verschönern, als weil sie sich schön finden; die allermeisten wissen über ihr wahres Aussehen recht genau Bescheid, und die wirklich Schönen spiegeln sich am seltensten; diesen genügt der anderen Bewunderung. Für die Frau ist der Spiegel in erster Linie um des Sichschmückens willen da. Ich habe nun von Jugend auf Korrektur meiner Erscheinung angestrebt, und dieses Streben begann sich natürlich zunächst auf der Ebene dessen, was sich meiner Aufmerksamkeit zuerst aufdrängte, nämlich derjenigen meiner als äußerst unvorteilhaft empfundenen Körperlichkeit zu äußern. Was habe ich als junger Mensch unter meiner Häßlichkeit gelitten, meiner Unfertigkeit, die bis in meine Zwanzigerjahre in vielen Hinsichten den Grund ausgesprochener Embryonenhaftigkeit ausmachte, meiner Unbeholfenheit, Unausgeglichenheit und darum Unsicherheit! Spät erst tröstete mich die Erkenntnis dessen, dass der Grad möglichen Höherstrebens mit der Länge unfertiger Anfangsstadien zusammenhängt, weswegen zwischen zeitlosem Geist und zeitlich gebundenem Körper und erdbedingter Psyche Diskrepanz bestehen muss. Ich war so lange unfertig, dass sogar mein Schädel erst in meinen Zwanzigerjahren die spätere Form gewann — damals setzte ich mir helmartig einen zweiten Kopf auf — in der Prima hatte ich noch eine Kinderstimme, war trotz meiner damaligen strotzenden Gesundheit physisch erstaunlich schwach, einfach weil ich über meine Glieder noch nicht Herr war. Und da ich ein kleines Kind war, gab es beinahe auf jedem Gut einen Hermannsbrunnen, der so genannt, weil ich einmal hineingefallen war. Dieses Leiden dauerte lang, denn meine Physis konnte erst der zur Macht gelangte Geist einigermaßen entsprechend gestalten. Ich freue mich, an dieser Stelle für die so arg missverstandene und verschriene, weil aller hämischen Beurteilung alle Blößen bietenden Eitelkeit
eine Lanze brechen zu können: aus vollster, aus reichster Erfahrung gewonnener Überzeugung erkläre ich, dass ich in dieser sogenannten Untugend die primäre Verkörperung des Selbstvervollkommnungsstrebens sehe und dem inneren Werte dessen gegenüber bis zum Gegenbeweis misstrauisch bin, der nicht einmal sich selbst gefallen will. Wer überhaupt über seinen gegebenen Zustand hinausstrebt, tut dies auf allen Gebieten. Von hier aus lässt sich eine bessere Theorie des Schmuckes und Sichschmückens aufstellen, als es irgendeine mir bekannte ist — doch diese auszubauen überlasse ich anderen. Erinnere nur noch daran, dass die verschönende Kleidung — gerade auf ihr Verschönerndes kommt es an — ihr Vor- und Abbild im Federkleid der Vögel hat. Nichts sieht grotesker aus als ein gerupfter Arara oder eine entfiederte Eule; und nicht etwa, weil diese Vögel der Federn zur Verstellung ihrer wahren Natur bedürften, sondern weil sie erst in deren Schmucke echt sind. Genau in dem Sinne machen Kleider Leute, adelt Kultur die Natur, dient das gleiche Streben, das auf primitiver Stufe als naive Eitelkeit wirkt, auf höchster der Spiritualisierung. Keiner, der nicht an seiner Unvollkommenheit litt, gelangt weit.
Da habe ich denn oftmals auf Grund der Worte Mignons
So lass mich scheinen
Bis ich werde,
die ich mir früh zum Wahlspruch erkor, in meiner Dar- und Schaustellung die gegebene Wirklichkeit korrigiert, durch Stilisierung und Schauspielerei im Geist der Rolle, die ich als die späterer Wirklichkeit vorfühlte. Ich antizipierte also im Vorstellungsbild und in der realen Darstellung das, was, wie ich genau wusste, viel später erst wirklich werden konnte. Doch was ich damit tat, war nicht falsch: es entsprach vielmehr dem normalen Weg aller Verkörperung des Geistes auf Erden, als welcher allemal von der Antizipation zur Realisierung fortschreitet. Dass hier keine Selbstzufriedenheit im Spiel war, beweist endgültig der Umstand, dass ich meine Karriere vielfach ebenso absichtlich — wenn auch in zunächst unbewusster Absicht — geschädigt wie gefördert habe. Dies erklärt das Herausforderertum, das ich an bestimmten Wendepunkten bewiesen habe. Ich wollte zutiefst dessen üble Folgen, ich beschwor sie; dies geschah allemal, wenn ich keinen anderen Weg sah, geistig-seelische Krusten, die sich gebildet hatten, einzuschmelzen und ein in falsche Richtung eingefahrenes Gana-Gefälle umzulenken. Denn das Unbewusste reagiert ausschließlich auf Erlebnisse, zumal solche schwerer Art; theoretischer Einsicht ist es nahezu verschlossen. Hier liegt die tiefste Ursache jenes extremen Herausforderertums, das mit dem Spektrum
anhub und in meinen Vorträgen in und über Amerika ihren Höhepunkt erreichte. Auf Beeinflussung meines Unbewussten war ich nun von jeher in erster Instanz bedacht; dass bewusstes Lernen in meinem Falle gar nichts bedeutete, merkte ich schon als Schüler. Dementsprechend habe ich seit meinen Pariser Tagen in der Versenkung in vorstellungsfreie Leere meine bestangewandte Zeit gesehen. Äußere Inanspruchnahme hat mich im großen ganzen nur gestört, Langeweile habe ich, wenn ich nur allein war, nie gekannt, nie gemeint, ich versäumte etwas, wenn ich äußere Geschehnisse nicht persönlich miterlebte. Auch mein Wille zum Schlaf
, welcher kein natürlicher Wille ist, denn von Jugend auf habe ich sehr wenig schlafen können und niemals geistige Müdigkeit aus Schlafmangel gekannt, gehört offenbar hierher: ich weiß zutiefst, dass während des Schlafens mehr und wichtigeres in mir vorgeht als während des Wachens. Gleichsinnig habe ich, seitdem ich die indische und vor allem die chinesische Yoga kennenlernte, regungsloses Liegen bei Verscheuchung aller Vorstellungsbilder besonders gepflegt.