Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

VII. C. G. Jung - Handwerker-Psychologie

Dieses Kapitel meiner erinnernden Zusammenschau kann ich nicht so abgerundet abschließen wie so manches andere: die Seele wächst in der Verwandlung stetig weiter, immer neue Aspekte ihrer enthüllen sich und so gewinnt auch das sinnbildliche Zentrum, auf das sie in der Betrachtung bezogen werden — in diesem Falle Jung — immer neue Aspekte. Weitere und andere sollen spätere Kapitel behandeln. Hier sei nur noch einmal auf mein persönliches Erleben zurückgegriffen und auf die Schwierigkeit, desselben begrifflich klar bewusst zu werden. Nie lernt sich einer durch Introspektion selber kennen, so wie er wirklich ist, sondern einzig und allein durch die Wirkung der eigenen Wirklichkeit und die Rückwirkung jener; genau so wie nur das Experiment sichere Erkenntnis der äußeren Natur vermittelt. Eben darum schreitet die Erkenntnis als Kollektivphänomen so überaus langsam fort. Das Falsche muss sich richtiggehend amortisieren, ehe denn es preisgegeben wird. Die eigenen Vorurteile preiszugeben hält nun besonders schwer, da sie die Schau von innen her bedingen und darum allemal auf noch so niederer Ebene transzendentale Formen im kantischen Sinne darstellen. Darum sind Pioniere als solche, auch wenn sie noch so sehr irren und obgleich sie meist bald überflügelt werden, tausendmal bewundernswerter, als die größten Erfüller und Vollender, denn es bedarf in ihrem Falle ungleich größerer Originalität. Die Natur ist ja durch und durch konservativ. Originelle Einfälle bedeuten von ihrem Standpunkt Ähnliches wie organische Mutationen — und man weiß, wie selten solche auftreten. Tarde hat, wie irgendwo bereits erinnert, in seinem wunderbar geistvollen, viel zu wenig bekannten Buch Les lois de l’imitation den Nachweis zu erbringen versucht, dass seit Adams Tagen nur wenige Dutzend wirklich origineller Einfälle die Möglichkeiten menschlichen Denkens und Wirkens erweitert hätten; beinahe alles, was für erneuernd gilt, sei nur Nachahmung oder Abwandlung von schon Vorhandenem gewesen. So gingen Jahrzehntausende hin, bis dass das erste verwendungsfähige Flugzeug erfunden ward — kaum aber war das erste da, erblickte allmonatlich irgend eine Verbesserung das Licht der Welt. Der Grund dieser traurigen Sachlage ist, dass wir Menschen unserer Einfälle nicht Herr sind, weil diese samt und sonders aus dem Unbewussten stammen. Nur indirekt können wir ihre Entstehung fördern und ihre Entwicklung lenken, nämlich indem wir das Unbewusste günstigen Einflüssen aussetzen. Doch mit dem Gesagten ist die Hauptschwierigkeit noch gar nicht berührt; schließlich könnte es ja sein, dass wenigen Begnadeten Einfälle als reine Gottesgeschenke zuteil würden und viele andere dieselben ohne besondere Mühe auswerten könnten. Dem Erfinder wird trotz dem Begnadungscharakter des Einfalls letztlich doch nichts, wie man so sagt, geschenkt. Er muss das schon eingefallene Neue dem vorherbestehenden Geist- und Seelengefüge organisch einbilden, auf dass es fruchtbar werde, denn ohne festen Zusammenhang mit diesem fehlt ihm der Halt und kann es sich nicht positiv auswirken. Und hier erlebt der Erneuerer in sich lange Zeit hindurch die gleichen Widerstände, welche ihm später in der Öffentlichkeit begegnen. Es ist ungeheuer schwierig und erfordert ungeheuere Selbstzucht, sein eigenes Neues doch nicht zuguterletzt durch Reduktion auf schon Bekanntes um seine Originalität zu bringen. Nur wer dies aus eigener Erfahrung weiß, kann ermessen, was echte Originalität bedeutet und welch mächtiges Ethos deren Auswirkung voraussetzt. Hierauf und hierauf allein bezieht sich das berühmte Wort Buffons:

Le génie, ce n’est qu’une longue patience.

So ist denn Jung wahrhaft verehrungswürdig, so unbehauen er manche Blöcke, die bei seinen Bohrungen herausgesprengt wurden, gelassen hat: diese Arbeit werden viel geringere Geister, als Jung einer ist, im Zusammenwirken nach und nach ohne viel Geistesanstrengung immer befriedigender leisten. Bei welchem Bessermachen sie sich freilich hüten sollten, so zu tun, als seien ihre Korrekturen an Bedeutung und Wert den im Einzelnen noch so unrichtigen Urleistungen auch nur annähernd gleich. In diesem Sinne hat mich immer wieder Empörung erfasst, wenn ich die kritischen Äußerungen, von oben herab getan, der Klein- und Feinarbeiter zu lesen bekam. Denn der Wesensunterschied zwischen Pionieren und Epigonen ist eben ein Wesensunterschied und damit unermeßlich, durch nichts zu überbrücken.

Aber freilich: von der Seele, wie sie an sich ist, hat Jung kaum etwas gelehrt. Sein Libido-Begriff ist ein Residuum des 19. Jahrhunderts, und die Verknüpfung von Leib und Seele, welche Jung implizite statuiert, gibt es nicht. Hier aber konnte Jung gar nicht zu entscheidenden Einsichten gelangen — eben weil er Psycholog und nur Psycholog ist. Um die eigene Seele wirklich zu fassen, so wie sie letztlich ist, muss man einen gewissermaßen überseelischen inneren Standort real (nicht in der Theorie) gewonnen haben. Und dieses Ziel ist nicht durch Forschung, sondern einzig durch Zustandsänderung zu erreichen. Die indische Weisheit lehrt: ein Mensch kann Gott erst schauen, nachdem er Gott geworden ist. Der analytische Psycholog würde die gleiche Wahrheit also fassen: man kann nur projizieren, was in einem lebt. Jehovah erschien Moses im feurigen Busch, und Christus dem Saulus als blendendes Licht in den Wolken erst, nachdem ihre Götter sie innerlich ergriffen und sich selber angeglichen hatten. So schaute Ramakrishna in jedem Weibe spontan die göttliche Mutter Kali, weil er für sich den inneren Zustand, der diesem Bilde entsprach, erreicht hatte. Die Seele nun hat ihren Grund im Metaphysischen und kann darum nur vom metaphysisch unmittelbar Bewussten, nicht vom von außen her beobachtenden Psychologen richtig situiert werden. Daher die schicksalsmäßige Unzulänglichkeit der Versuche Jungs, des Ostens Weistümer analytisch auszudeuten: er dringt nicht, wie er meint, durch sie hindurch, er führt umgekehrt deren eigenstes Sein auf ihre Korrespondenzen im Empirischen zurück — wie denn alle reduktive Deutung nicht die Sache selbst fasst, sondern nur deren Entsprechungen auf anderen Ebenen bewusst macht. Der Psycholog als solcher ist eben ein Zwischenwesen und ein Bewohner des Zwischenreichs. Seine Wissenschaft gleicht dem steuerlosen Kahn, welcher auf hoher See hin und her geschaukelt wird. Der Kahn versinkt nicht in den Fluten, aber er findet, von übermächtigen Strömungen überwältigt, auch keinen Weg zum Festland. Und auf Landen und Versinken, vielleicht auch auf Auffliegen gen Himmel kommt es letztlich, an.

Dieses Kapitel ist objektiver geraten, als die anderen und sogar als ich’s dieses Mal beabsichtigte. Das liegt daran, dass ich mich bis zu einem gewissen Grade entäußern, auch das Innerlichste von außen her ansehen musste, um mich explizite, nicht nur implizite, mit der Psychologie des Unbewussten zu befassen. Wie Wenige lebe ich nämlich — ich muss das immer wieder wiederholen, denn wer nicht davon ausgeht, kann mich unmöglich verstehen — nicht nur ursprünglich, sondern unabänderlich aus dem Unbewussten heraus, zu dessen Wesen gehört, dass es direkt gar nicht bewusst werden kann; mit letzterem Satze meine ich hier insbesondere, dass ich meine Unbefangenheit verliere und meine unwillkürliche Strahlkraft beeinträchtigt wird, wenn ich im Augenblick des Produzierens oder Handelns genau weiß, was ich tue. So ist mir alles der Region des Unbewussten Zugehörige einerseits vertrauter als den meisten Männern — darin ähnelt meine Psychologie derjenigen der Frau, die ganz selbstverständlich primär mit unbewussten Regungen rechnet —; andererseits aber muss ich mich gewissermaßen vergewaltigen, um das mir ursprünglich Unbewusste ins Bewusstsein hinaufzuheben, denn die sich hieraus ergebende Gewichtsverschiebung im Erscheinungsbilde meiner Seele entspricht nicht deren eigentlichem Schicksal. Ich bin wesentlich der blinde Seher als welchen ich mich 1927 in Mein Glaube schilderte, und soll es bis zur Erreichung eines kritischen Punktes, den ich noch nicht erreicht habe, vielleicht nie erreichen werde, wohl bleiben. Eben um dieser Vergewaltigung willen aber gehört die Periode, in welcher die Tiefenpsychologie im Brennpunkt meines Interesses stand, noch einmal, zu denen der wichtigsten Abenteuer meiner Seele. Damals forderte ich direkter als je früher und später die Nachtgestalten und -gewalten, die in mir wie in jedem Menschen leben, ans Tageslicht heraus. Damals versuchte ich wie nie früher noch später, von den Allmachtsvorurteilen der Analytiker ausgehend, die ich als Arbeitshypothesen zeitweilig übernahm, durch künstliche Eingriffe Schicksale zu ersetzen. Wie ich heute, nach bald einem Vierteljahrhundert, rückblickend feststellen muss, war mir dabei ein nur sehr bescheidener Erfolg beschieden. Meine Grundeinstellung ist die ursprüngliche geblieben, sehr wenige von den Spannungen, welche meine Analytiker-Freunde als Komplexentsprossen beurteilten, haben sich seither gelöst oder ausgeglichen und viele haben sich gar gesteigert. Und das beruht bestimmt nicht darauf, dass ich nie durchanalysiert worden bin, denn gerade das Beispiel aller mir bekannten durchanalysierten Analytiker beweist, dass Analyse die Grundstruktur nicht verändert und dass jede besondere Struktur vom Standpunkt anders gearteter komplexhaft wirkt. Mein Sein nun hat analytisches Durchschauen, soviel ich dabei an Wissen und Können gewann, weniger als die meisten affiziert, und dies hauptsächlich aus drei Gründen. Erstens weil ich, wie gesagt, wesentlich aus dem Unbewussten heraus lebe. Zweitens weil Durchschauen meine eigenste Fähigkeit ist, als welche ursprünglich nach außen gerichtet ist und darum mein Inneres schwer in Mitleidenschaft zieht. Endlich und vor allem, weil Psychoanalyse durchaus eine Angelegenheit des Zwischenreiches ist und ich zu letzterem überhaupt kein ursprüngliches Verhältnis habe. Was immer, in welchem Verstand auch immer, zwischenreichlich ist, bedeutet mir nichts und kann ich nur als Schauspieler einigermaßen meistern. Psychologen der Adlerschen Schule werden aus dieser Erklärung natürlich den Kurzschluss mangelnden Gemeinschaftsgefühls ziehen und sich dabei beruhigen, sofern sie nicht den Versuch unternehmen, mich total zu bessern. Aber sie würden dabei theoretisch und praktisch vollkommen irre gehen. Das primäre und einzig wesenhafte Gemeinschaftsgefühl, das ich im Kapitel Gemeinsamkeit der Betrachtungen der Stille und Besinnlichkeit genau zu bestimmen versucht habe, fehlt mir nicht mehr sondern weniger als anderen. Nie habe ich in mir anderes als ein Organ der Menschheit gesehen, nie bloßem privat-persönlichem Interesse gelebt. Was mir abgeht, ist ein direktes Verhältnis zu dem diesem Ursprünglichen entsprechenden Zwischenreichlichen. Daher meine immer wiederkehrenden Missverständnisse und Konflikte mit meinen Mitmenschen proportional dem Grad, in welchem diese Zwischenreichswerte anerkannten. Hier denn gelange ich zum vom Standpunkt meines Gesamtlebens Positivsten meiner Beschäftigung mit Tiefenpsychologie. Innerlich ohne Kontakt mit dem Zwischenreich, habe ich dank äußerer Erfahrung und stetig besserem Verstehen derselben fortschreitend besser mit ihm zu rechnen gelernt. Wo mein Bewusstsein über meine ursprünglichen Impulse genügend Macht hatte, habe ich dank tiefenpsychologischer Bildung meine Beziehungen zu anderen Menschen bewusst so gestaltet, dass sie erträglicher wurden, als sie es sonst gewesen oder geblieben wären. Und wo ich erkannte, dass der Eigenwille des Unbewussten plus fort que moi war, habe ich mich immer mehr zurückgehalten und die Meisterung der betreffenden Seite meiner Existenz immer vollständiger anderen überlassen. Womit ich denn nach langen und weiten Umwegen, auf höherer Ebene freilich, zur Lebenstechnik meiner Jugend zurückgekehrt bin. Auf höherer Ebene: denn was damals nur äußerliche Technik war, ist seither ursprüngliches Leben als Kunst geworden. Wobei sich mir denn endgültig herausgestellt hat, ein wie gänzlich Belangloses und völlig Unwesentliches das ist, was als sogenannter Charakter den Meisten die letzte Instanz bedeutet. Es mag gut sein, dass meine schroffe Verurteilung der Charakterologen auf Leser aus Analytikerkreisen komplexhaft gewirkt hat; wahrscheinlich sind hier wirklich Komplexe im Spiel, genau wie bei meiner alle Vernunftsgrenzen übersteigenden Verstimmung gegenüber jedem, der mir ins Gesicht sagt, dass er meine Handschrift schwer lesen kann. Aber handelt es sich hier um Komplexe, so beweist das nur einmal mehr, wie wenig Komplexe als solche bedeuten. Selbstverständlich reagiert jeder Normalmensch desto saurer, je häufiger man ihm auf das gleiche Hühnerauge tritt. Gerade aus meiner langen Beschäftigung mit Problemen der Tiefenpsychologie an Hand sehr reicher individueller wie kollektiver Erfahrung ist mir endgültig klar geworden, dass der Charakter tatsächlich bedeutungslos ist vom Standpunkt des substantiellen Geists, des Menschen Wesenskerns, und dass es einzig darauf ankommt, was dieser Geist mit seinem angeborenen Charakter anfängt.

Was ich in diesem Sinne zuerst im Himalaya-Abschnitt des Reisetagebuchs ausführte, ist mir seither zu einer Einsicht geworden, die ich für grundlegend halte für jede künftige Besserung des Menschheitszustands. Die Charakterologie wie die Tiefenpsychologie in ihrem herabziehenden hämischen Aspekte müssen restlos auseitern aus dem Organismus des Gemeinschaftslebens. Ohne starke erdgeborene Triebe und Impulse ist auf Erden kein Höherstreben möglich, und sie alle sind ambivalent und offenbaren sich zunächst meist negativ qualifiziert. Letzteres gilt zumal von den Trieben nach Macht, Ruhm und Reichtum. Wenn die meisten späteren Heiligen ursprünglich bedenkliche Gesellen waren, so hängt das damit zusammen. Eben weil die Dinge so liegen, erkenne ich Nietzsches Aufruf, der Mensch solle wieder böse werden, dem seither ja in grandiosem Maßstabe Folge geleistet worden ist, als gültig an: aus der Verdrängung des Bösen ist das meiste des Häßlichen entstanden, was heute das Menschheitsbild bestimmt; erst nach Bewusstwerden, Bejahung und zeitweiliger Auswirkung des Verdrängten können die gleichen Uranlagen einen positiven Aspekt annehmen, und ohne deren Mitwirkung gibt es kein volles Leben. Insofern hängt das Gute von morgen tatsächlich von der Auswirkung des Bösen von Heute ab. — Ist die Entwicklung nun so weit gediehen, dann wird auch die psychoanalytische Periode der Kulturgeschichte hinter uns liegen, wie so viele Zuständlichkeiten für immer überwunden worden sind: ihre Problematik wird gegenstandslos geworden sein, wie die Problematik der Ibsen-Dramen seit erfolgter realer Emanzipation der Frau. Dann aber werden die psychologischen Probleme wieder so gestellt werden, wie es in wissenden Zeiten vor der analytischen Periode geschah. Nur ein Beispiel dessen zum Abschluss dieses Kapitels. Heute werden die Menschen nach psychophysischen und psychologischen Typen katalogisiert, hauptsächlich von Kretschmer und Jung her oder auf deren Klassifizierungen hin. Vom Standpunkt des substantiellen Geists her geurteilt ist es aber belanglos, ob einer nun leptosom oder pyknisch, schizothym oder zykloid, ob einer extravertiert oder introvertiert sei. Nicht gleichgültig hingegen ist, welchem Ur-Stande einer angehört. Ich deutete schon an, dass das ganze Gebäude der Tiefenpsychologie beinah durchaus der Handwerker-Psychologie entspringt. Aber die Psychologie des Handwerkers ist eine ursprünglich und unabänderlich andere als die des Herrenmenschen, des Propheten, Priesters, Händlers, ja des Arbeiters, welch letzterer auf neue Art wieder ähnlich frei und großzügig und Materie-überlegen erscheint wie der Eroberer, der Vorfahr des Edelmanns. Ob einer nun Herr ist oder Sklave, hängt nicht von Zwischenreichlichem, sondern vom ursprünglichen Sein ab, welches zu ändern keine analytische Behandlung fähig ist. Keine Weltanschauung wird auch je etwas daran ändern, dass nur dem geborenen Herren gern gedient wird, dass nur der Geistbestimmte geistige Impulse austeilen, der Händler nur vermitteln und der Handwerker nur ausführen kann. Nach langen Umwegen wird die Menschheit zur Idee der ursprünglichen Berufung und des wesenhaften Schicksals wieder zurückfinden.1

1 Vollendet Hohenschäftlarn, 20.4. 1944.
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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