Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

VIII. Besitzende und Besitzlose - Erdgeboren

In jener besonders schweren Zwischenzeit, da ich einzusehen begann, dass ich meine 1920 aus Geistesgründen begonnene, in den Jahren des großen Erfolges seither von der zähen Gana rezipierte und in ihr fest fundamentierte rein dynamische, auf Welteroberung sonderlicher Art gerichtete Existenzform nicht allein aus äußeren, sondern auch aus inneren Gründen nicht mehr weiter führen könne — es war zwischen 1937 und 1939 —, ohne jedoch dass ich eine Brücke über den Abgrund fand, welcher sich plötzlich vor dem steil aufwärts Stürmenden aufgetan hatte, — in jener besonders schweren Zwischenzeit, da alle plutonischen Mächte in mir revoltierten, schaute ich immer wieder die folgende Vision: ich bin ein gewaltiger, Kontinent-großer Kraken. Überall hin auf dem Boden des Weltmeers sende ich meine Fangarme aus — sie haften nirgends. Und nirgends, weder auf dem Meeresgrunde noch auch im Wasser bietet sich mir Nahrung. Augenscheinlich in meinem Elemente, bin ich doch nicht mehr in ihm; alles zieht sich von mir zurück. Wie ich verzweifeln möchte, schaue ich aufwärts und erblicke die Sonne: in riesigem Schwunge schleudere ich mich da zu ihr hinan und umstricke sie. Zunächst verdunkle ich sie. Bald jedoch fängt die verschlungene Sonne durch mich hindurch zu glühen an.

Dieses Bild befriedigte mich aber nicht, es bot keine Lösung; und darum kam es immer wieder. Bis einmal das letzte Stadium der Vision eine Änderung erfuhr. Wohl wollte ich die Sonne verschlingen. Doch wie ich meine Fangarme um sie wand, erlahmte deren Kraft. Sie bogen sich zurück. Der verschlingen-wollende Kraken öffnete sich, zerschmolz in der Glut, ward aus dem greifenden Untier zu einem sanft hingegebenen und empfangenden Lotuskelch. In diesen und durch diesen hindurch ergoß sich der ewigen Sonne Licht. — Diese Verwandlung wurde perfekt, nachdem das Wort meiner alten Freundin Elisabeth von Brasch, die mich in kritischester Stunde einsehen lehrte, dass mein altes Leben ein für alle Male aus sei, dass ich ein völlig neues zu beginnen hätte, zu Fleisch geworden war. Seither suchte das gleiche Bild mich nicht mehr heim. Erst wo ich über ein Lustrum später das vorliegende Kapitel zum vierten Male neu zu verfassen unternahm — immer wieder musste ich Geschriebenes verwerfen —, kam es mir wieder.

Nur jetzt auf anderes hin in anderem Zusammenhang. Der Kraken bedeutete nicht nur die besondere Lage, in welcher ich mich damals befand, sondern meine wesenhafte Unersättlichkeit. Ich kenne keinen zweiten Menschen, bei welchem der Ur-Hunger eine gleich große Rolle spielt. Er tut es, weil ich ebenso schnell desassimiliere wie ich assimiliere und nichts unverwandelt behalte. Im oberflächlich-empirischen Sinne habe ich kaum je Hunger gekannt, nur Appetit. Aber andererseits auch nie Gesättigtheit. Und hieraus ergab sich bei mir als ältestes mir bewusst gewordenes Urgefühl eine äußerlich geurteilt lächerliche, weil äußerlich nie begründete ständige Angst vor dem Verhungern. Es war dies nicht Ur-Angst im Verstande des Urbegriffs derselben, den ich in den Meditationen prägte. Sie war es nicht, weil sie in meinem Fall durch Sicherung überhaupt nicht überwindbar war, als welche zunächst im Besitz an sich, sodann im Gefühl des Rechts darauf und darum der Gefeitheit vor Angriffen besteht. Bei mir entsprang die Angst der physiologischen Unmöglichkeit, mich je gesichert zu fühlen. Nur im ständigen Prozess des All-Verschlingens konnte ich mich für mein Gefühl als irdisches Wesen im Weltall behaupten und im Gleichgewichte mit ihm fühlen. Daher die Verzweiflung des Krakens, als sich im gesamten Weltmeer keine Nahrung für ihn mehr bot, als er nichts mehr an sich saugen konnte. Daher zuletzt der Sprung nach dem Urquell alles Nährenden, der Sonne. Nun aber deutete sich auch die mögliche Lösung des Konfliktes an.

Bei mir haben am hell-lichten Tag geschaute innere Bilder zeitlebens die gleiche Rolle gespielt, wie bei anderen wegweisende oder prophetische Träume. Der letzteren habe ich nur ganz wenige je gehabt. Das geschilderte Bild nun war nicht allein neue Wege weisend: an ihm realisierte ich eine der wichtigsten Paradoxien meiner Grundstruktur. Plato hieß den Eros das Kind des Reichtums und der Armut: aus dem Widerstreite dieser Erbmassen entspränge seine Schöpfermacht. Ich nun kenne ursprünglich überhaupt kein Besitzgefühl, woran nichts ändert, ob meine jeweiligen Lebensumstände günstig oder ungünstig sind. Eben darum fehlt mir ursprünglich alle Erd-geborene und auf der Erde begründete Sicherheit. Ich kenne kein Gefühl der Ungefährdetheit, des Vertrauens auf Äußerliches, keines auf Grund meines guten Rechts. Ich kenne auch nicht das Gefühl, durch Leistung Dauerhaftes errungen oder begründet zu haben, fühle mich allezeit unbelastet aber auch ungestützt wie ein elternloser Quasimodogenitus. Diesen Umstand spiegelt mein abnorm schlechtes Gedächtnis. Ich verschlinge und verdaue — als solches bleibt nichts bei und in mir haften. Darum ist mein Irdisches über alle Begriffe und Grenzen hungrig, und zwar im allerprimitivsten Sinn. Man gedenke des Regenwurmes, der sich durch das Erdreich frisst, oder auch der Nachtigall, welche täglich das zwanzigfache ihres Eigengewichts verzehren soll. Mein Geist hingegen kennt überhaupt keinen Hunger und will nichts Irdisches. Er bedarf keinerlei Sicherung. Er ist von Hause aus vollkommen detachiert, will nur aus sich heraus leben und ausstrahlen. Da nun der Geist bei mir in erster und letzter Instanz entscheidet, so sehr das Erdhafte die Zwischeninstanzen besetze, so habe ich nie zu halten versucht, was ich eroberte, nie ernstlich praktische Ziele verfolgt; tat ich letzteres bewusstermaßen, wie über ein Jahrzehnt lang nach dem Zusammenbruch meiner traditionellen Existenz, dann sabotierte mein Unbewusstes jeden Plan. Im Vordergrunde meines Erd-Bewusstseins hat allezeit der Trieb gestanden, welchen der Kraken versinnbildlicht; hier konnte ich mich oft bei terre-à-terre-Empfindungen primordialster, ja primitivster Art überraschen. Gleichzeitig aber zweifelte ich immer am Erfolge des Krakens und wollte ich ihn auch letzten Endes nicht. Ich wollte zutiefst niemals reich werden, in welchem Sinn auch immer, weil ich mich als Geist von jeher innerlich erfüllt fühlte und insofern nie mehr haben konnte, als ich schon hatte. Letztlich lebte ich von jeher aus meiner inneren Fülle heraus, die keines Äußerlichen bedurfte, außer als eines Auslösungsmittels. Zutiefst habe ich mich nie herabgemindert oder gefährdet gefühlt durch äußere Kargheit, Krankheit oder Schwierigkeit. In meiner heimlichen Tiefe mutete ich mir ursprünglich immer zu, im Notfall die Sonne aufessen zu können. Und bedeutete dies einerseits reine Hybris, die sich als solche auch immer wieder äußerlich rächte, so schadete sie mir doch niemals wesentlich, denn das Scheitern solch’ wahnwitzigen Unterfangens mit dem Erfolg, dass ich selber eingeschmolzen wurde, war eben das, was ich zutiefst ersehnte. All das Gesagte und Angedeutete ist im geschilderten Bild enthalten, und vieles mehr. Mögen Bilderkundige an der Hand meiner Darstellungen und Erläuterungen von sich aus weiter darüber nachdenken: sicher wird ihnen dabei so manches von allgemein menschlicher Bedeutung einfallen, was mir entgangen ist. Denn wenn ich einerseits ein ewig Hungriger bin, so ist mir andererseits dieser mein nie zu sättigender Hunger kein Problem: er ist die Grundform meiner irdischen Existenz.

Darum kenne ich für mich ursprünglich überhaupt keine ökonomische Frage. Probleme stellen sich nur dem, welcher zutiefst an deren Lösbarkeit glaubt. Ich hingegen bin von der Unlösbarkeit des ökonomischen Problems überzeugt. In einer Welt stetigen Werdens und Vergehens, des Tötens und Sterbens, Essens und Gegessen-Werdens kann es keine letztgültige Sicherung geben, jenes Α und Ω ökonomischer Zielsetzung. Ebensowenig stellt sich für mich die soziale Frage, denn auch die weiß ich wesentlich unlösbar. Meiner Ansicht nach hat José Ortega y Gasset tiefer als alle bisherigen Soziologen geblickt, da er erklärte, es sei schon deshalb Unsinn, in der Erfüllung von Gemeinschaftsforderungen ein Generalideal zu sehen, weil der Mensch ebenso unveränderliche asoziale wie soziale Triebe und Strebungen in sich trage, ganz echt nur in seiner Einsamkeit sei, und weil keine Gemeinschaft auch nur denkbar wäre, die den Einzigen als Werteträger nicht unterdrückte. Jede Einstellung auf den Anderen (alter) bedeute bei allen sonstigen Vorzügen alteración, das heißt Verderbnis durch Entäußerung. Bei mir sitzt diese Überzeugung von jeher dermaßen tief, dass ich erst, nachdem ich dieses Kapitel drei Male umgeschrieben hatte, merkte, dass ich bei der Behandlung ökonomischer Probleme die soziale, ja sogar die ökonomische Frage im üblichen Verstand kein einziges Mal gestellt hatte. Auch jetzt werde ich es nicht tun. Die übliche Fragestellung halte ich für falsch. Die Gleichungen, welche Ökonomen und Soziologen ausgeklügelt haben, können gar nicht aufgehen, der ganze Zusammenhang muss von anderer Seite her betrachtet und behandelt werden. Rechte Fragestellung in vitalen Belangen hängt aber nicht von der Schärfe des Intellektes ab, sondern von der Tiefe der Erfassung der realen Erlebnisbasis. Wer aber das Leben so erlebt, wie es ursprünglich ist, der kann nur von dessen keinem Ruhepunkte zustrebender Bewegtheit — denn der Tod ist gewiss nicht des Lebens Ziel — und dessen tragischem Grundcharakter ausgehen.

Vom Standpunkt normaler Erdbewohner, die über ihren sehr engen Lebenskreis niemals hinausblicken, im Rahmen dessen es freilich Problemlösung und Sicherung gibt, ist meine Einstellung eine ganz und gar exzentrische. Doch waren es nicht von jeher die Exzentriker, die des Zentralen außer sich gewahr wurden? War das bei mir nicht schon einmal nachweislich der Fall, da ich, in Südamerika das Erdhafte zum ersten Male realisierend, das Geistproblem von der Erde her zu betrachten unternahm, worauf meines Wissens keiner vor mir kam? Auch über das Besitzproblem glaube ich Zentraleres sagen zu können, als in ihm sicher Zentrierten bisher gelang. Für mich bedeutet das Leben nämlich einen bewusst verlaufenden Inkarnationsprozess. Für mein Bewusstsein ursprünglich reiner Geist, beziehe ich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, neuerdings von Jahr zu Jahr immer mehr Erdhaftes in mich hinein und mache es damit zum Elemente meiner geistigen Existenz. Und damit realisiere ich das, im vollen reichen Sinne dieses Worts, was anderen entweder kein Problem bedeutet oder worüber sie nur von außen her theoretisieren. Wie ich mir über diesen Zusammenhang klar wurde, da realisierte ich auch den wesentlichen Wahrheitsgehalt der indischen Maya-Lehre. Es ist tatsächlich so, dass die Außenwelt für den Menschen Schein ist, solang sie ihm bloße Vorstellung bleibt; im Höchstfall ist sie ihm dann Spiel, entweder Kinder- oder Götterspiel, Līla. Einem so rein geistbestimmten Volke, wie dem der Inder, musste alle äußere Gegebenheit darum unwirklich erscheinen. Wenn nun ein Mensch vom bloßen Vorstellen zum Realisieren vordringt und damit das Äußerliche in sich hineinbezieht, dann wird ihm das Erlebte wirklich; es wird ihm wirklich, insofern er seiner innewird. Dieses Wirkliche kann seinerseits je nach der Akzentlage verschieden erlebt werden. Bei reiner Geistzentriertheit führt sie zu vollkommener Enthaftung von allen Erdenbanden, bei voller Anerkennung von deren ursprünglicher Wirklichkeit. Bei chinesischer Einstellung, für welche Geist und Erde nur undeutlich unterschiedene Korrelate sind, führt sie zur Harmonie, zum Gleichklang von Menschengeist und Welt. Bei westlicher Ureinstellung führt vollkommenes Realisieren zu schärfster Herausarbeitung aller Komponenten möglichen Erlebens in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrem Zusammenhang, in ihrem auf-einander-angewiesen-Sein und in ihrer unausgleichbaren Spannung. Ich nun bin, trotz meiner angeborenen Geistzentriertheit, die mich dem Inder verwandt erscheinen lässt, trotz meiner Kosmopathie, auf Grund welcher ich mich in so manchem Chinesen wiedererkenne, dank der extremen und verselbständigten Erdhaftigkeit des Erd-Teiles meiner, wie Tagore einmal sagte, der extremste aller Abendländer; ja ich bin dermaßen extremer Abendländer, dass mir mein Leben wesentlich Abenteuer ist. Mein Realisieren besteht in fortschreitendem Erobern einer mir ursprünglich fremden Welt, von meinem Ich über das Schicksal bis zur reinen Materie. Darum kamen meine Einsichten mir allemal als Folgen von Abenteuern der Seele, als Früchte zugleich rein innerlichen Drangs und unerwarteter Begegnung.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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