Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

II. Abenteuer der Seele

VIII. Besitzende und Besitzlose - Geistgeboren

Das Jahr 1943 brachte mir eine der größten Bereicherungen: die plötzliche Realisierung des Sinnes von Besitz. Die längste Zeit meines Lebens hatte dieser mir so wenig bedeutet, dass ich ganz einfach nicht verstand, warum und wozu einer etwas besitzen will, um es zu genießen, und dass es überhaupt einen Unterschied macht, ob einer als Eigentümer oder Gast lebt. Wie die estländische Ritterschaft 1910 kompetenteste Instruktoren aus dem Reiche kommen ließ, um unsere Landwirtschaft auf modernster Basis neu zu organisieren, wobei ich als einer der ersten mitwirkte — mein Berater in Rayküll und Könno war der spätere deutsche Landwirtschaftsminister Warmbold — da bemerkte des letzteren erster Mitarbeiter, des Namens entsinne ich mich nicht mehr, nachdem er des öfteren bei mir geweilt hatte: So etwas sah ich noch nie: Sie hausen in Rayküll, als gehöre es Ihnen nicht. Dem war wirklich so. Nur verantwortlich fühlte ich mich dem ererbten Besitz gegenüber, als mein Eigentum betrachtete ich ihn nicht. Das hatte ganz und gar nichts mit Desinteressiertheit Materiellem gegenüber zu tun. Unersättlich, wie ich war, erstrebte ich von jeher unbeschränktes mich-ausleben- und darum auch ausgeben-Können und empfand ich es direkt als Widersinn, dass mir hier überhaupt Grenzen gesetzt waren. Zeitlebens habe ich mich darum immer arm gefühlt. Doch zum Besitzen als solchem hatte ich gar kein Verhältnis. Darum hatte ich mir bis auf das eine Mal auf meiner Weltreise, von welcher ich vielerlei Schönes mitbrachte, nie etwas gekauft, war ich verzweifelt, als ich mein Darmstädter Haus zum Eigentum erwerben musste, betrachtete ich jede Kapital-Anlage als Ausgabe à fond perdu. Mir fehlte auch jedes ursprüngliche Verhältnis zum Händlertum, das im Prozess des Besitzwechsels besteht und auf der Ebene spezifisch menschlicher Existenz dem allgemein-organischen Metabolismus, dem Stoffwechsel entspricht. Seitdem Menschen überhaupt miteinander unterhandelt haben zur Fristung ihres Daseins, haben sie auch Handel getrieben. Für die überwältigende Mehrheit aller Menschen aller Zeiten ist Leben nur auf Grund des Gesetzes des Ausgleichs möglich, also eigentlich auf unorganischere Art, dem physikalischen Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung gemäß, als im Fall der Pflanzen und Tiere, von denen nicht behauptet werden kann, ihre Ausscheidung entspräche als Gegenwert dem Eingenommenen; sie werden von der Natur ernährt, wie Kinder von ihren Eltern. Die Welt des Händlers ist demnach, da der Mensch von vornherein ein soziales und kein allein-lebendes Wesen ist, die früheste. Der Handel geht dem Krieg voran, als welcher ursprünglich vielleicht die Folge des nicht-einig-Werdens beim Feilschen ist. Die Welt des Händlers ist aber andererseits die des reinen undurchgeistigten Erdmenschen, und darum wurde sie vom Geistbestimmten von jeher gering geachtet. Dieser durfte als Krieger rauben, als König von Tribut, als Geistlicher und Geistiger von Geschenken leben, also ohne dem Gesetz des Ausgleichs Genüge zu tun. Er lebte nicht in der Verdienst-, sondern in der Schenk-Ordnung, über welche später Näheres gesagt werden soll. Wenn mir also ursprünglich jeglicher Sinn für Besitz fehlte — derjenige für Einkommen fehlte mir keineswegs. Es ist merkwürdig, wie wenig klar diese Zusammenhänge bisher übersehen worden sind und wie wenig scharf hier von jeher unterschieden wird. Es ist möglich, nicht allein besitzlos zu sein, sondern knapp über das Existenzminimum zu verfügen und sich dennoch befriedigt zu fühlen. Es ist möglich, sehr reich zu sein, und sich selber bettelarm vorzukommen. Es ist möglich, eine befriedigende Menschenordnung ganz auf Besitz oder aber einzig und allein auf Einkommen zu begründen. Es ist möglich, im höchsten Grade geldbedürftig und dennoch ohne Besitztrieb, und reichster Besitzer ohne Sinn für Einkünfte zu sein. Ich kenne Großgrundbesitzer, welche ihre Güter aus ihren Einkünften, bei Verzicht auf alle Annehmlichkeiten des Lebens, mehrere Male wiederkauften. Die meisten, welche viel verdienen, legen das zum unmittelbaren Lebensaufwand Entbehrliche ihrer Einkünfte in als unveräußerlich vorgestelltem Besitz wie Häusern, Parks und Kunstwerken an. Vielen Menschen liegt im höchsten Grade an Bereicherung und gar nichts an Besitzerhaltung, weswegen sie weder sparen noch ihren Erben viel hinterlassen — dieser Fall war lange typisch für Amerika — und Besitzer, welche gar nicht reich werden oder bleiben wollen; so waren meine Vorfahren väterlicherseits. Besitztrieb ist eben ein gänzlich anderes als Sinn für Wohlleben und Ausgeben-können. Besitztrieb und Trieb zur Bereicherung (im heute zum mindesten in Amerika für einzig möglich und allgemein menschlich geltenden Sinn) hat sogar von jeher nur ganz wenige Völker, die ich die adquisitiven zu heißen pflege, ausgezeichnet; unter den zu geschichtlicher Größe Herangewachsenen in erster Linie die Angelsachsen, dann die Römer, die in ihrer kapitalistischen Spätzeit sogar eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den amerikanischen Juden aufwiesen; es ist bedeutsam, dass die Klasse der römischen Ritter für unsere Begriffe mit derjenigen der Financiers zusammenfiel. Der Russe hat nicht einmal Sinn für Wohlleben, von Besitz zu schweigen; hätte er mehr Sinn dafür, nie wäre die Enteignungspolitik der Bolschewisten ausgekommen. Dem Deutschen liegt zutiefst nur an gutem Einkommen — darum allein überstand er die Inflationszeit so unverstört; ihm ist das germanische Lehensprinzip noch heute gemäßer als die romanische auf Privatvermögen aufgebaute Ordnung; darum galt der Deutsche dem Russen von jeher als das Verwaltervolk par excellence. Auf hohen Lebensstandard, das Α und Ω des modernen Abendländers, legen sehr wenige Völker Wert. Sie ziehen ein Maximum von Muße jedem durch die Lebensfreude beeinträchtigende Über-Arbeit bezahltem höheren Wohlstand vor.

Mir nun fehlte ursprünglich, wie geschildert, jedwedes Verhältnis zu Besitz und Eigentum. Was ich im Laufe der Jahrzehnte gelegentlich an Besitzgefühl aufbrachte, offenbarte sich mir meist dergestalt transponiert, dass ich alles als mir gehörend empfand, was mir sehr viel bedeutete, dass ich mich manchmal höchst lächerlicher Weise darüber ärgerte, dass von Rechts wegen Andere darüber zu bestimmen hatten, oder dass ich auf unmittelbar groteske Weise an Kleinigkeiten hing. Zeitlebens habe ich bei größter Unordentlichkeit nur ganz wenige Sachen verloren. Zwei Hosen jedoch, die ich beim Abreisen im Hotelzimmer mit einzupacken vergaß, die eine davon in Peking, die andere in Dorpat, trauere ich noch heute, im ersteren Falle über 30 Jahre später, nach. Mein Trieb zum Haften (man gedenke des Krakens!) kann sich von der Vorstellung her an schlechthin alles heften, und fehlt das Gefühl normalen Zusammenhangs von Geist und Erde, so heftet er sich typischerweise auf besonders Sinnwidriges, gleichwie die Liebe der alten Jungfer an den Mops.

In meinem dreiundsechzigsten Lebensjahre nun erwachte in mir plötzlich der normale Besitztrieb — nicht jedoch auf Gegenwart und Zukunft hin, hinsichtlich welcher es im Großen und Ganzen beim Alten blieb, sondern inbezug auf ferne Vergangenheit. Auf dem Hintergrunde meines nicht-mehr-Habens wurde mir plötzlich klar, was Haben bedeutet. Und so erlebte ich mein längst verlorenes und verjährtes Haben so intensiv, wie ein Mensch starken Besitzgefühls die erfüllte Gegenwart. Es war dies eine Periode, welche mehr als alle meine früheren an das Leben nach dem Tode erinnerte, wie es so viele Hellseher gleichsinnig schildern. In der Ewigkeit sei nichts für immer entschieden, gäbe es keine Ablösung des Alten durch Neues, wobei jenes stürbe, liege alles je Dagewesene Panorama-artig auf einmal nebeneinander, und das Gleichzeitigkeitsbewusstsein der Erinnerung spiegele die Ewigkeit. So war mir jetzt plötzlich, als besäße ich Rayküll und Könno noch und für immerdar, nur mit ganz anderen und tieferen Empfindungen und Gefühlen verknüpft, als ich sie je als wirklicher Besitzer gekannt hatte. Seither freute ich mich jedes Stückchen Landes, welches mein eigen war, jedes Baumes, welcher mir gehört und den ich wachsen und gedeihen gesehen hatte. Nicht nur im Traume, auch im Wachzustande holte ich seither Veränderungen und Verbesserungen nach, die ich vor über dreißig Jahren anzuordnen versäumt hatte, spürte ich Gewissensbisse wegen einstmals Unterlassenem, fühlte ich mich durch und durch verwachsen mit dem, was ich vormals nur als Teil unter anderen einer Umwelt angesehen hatte, an welche ich ohne mein Zutun mit bestimmten, zum Teil recht lästigen Verpflichtungen hineingeboren und -gestellt war und die mir im übrigen einen ebenso unpersönlichen Rahmen meiner persönlichen Existenz bedeutete, wie der Weltenraum. Mir war dieses jedem Normalmenschen, welcher Besitz kennt, selbstverständliche Erleben ein völlig Neues, Unerhörtes. Wo ich tatsächlich (von meinen angeborenen Ansprüchen aus geurteilt) nur mehr Gast auf Erden sein konnte, spürte ich zum ersten Male, dass ich nicht immer einer war. Jetzt erst verstand ich, wieso ein winziges Stück eigenen Landes einem Menschen mehr bedeuten kann, als der ganze Erdball. Jetzt erst spürte ich, was Zugehörigkeit bestimmter Umwelt zum Menschen bedeutet und damit den Unterschied zwischen Gast- und Besitzer-Sein, zwischen Leiher oder Nutznießer und Eigentümer. Es wurden mir tiefste emotionale und ganische Bindungen an (von meinem Selbst aus geurteilt) Äußerliches bewusst, die vom Unbewussten her schon immer bestanden hatten, die mir aber jetzt erst bewusst und damit zu persönlichen Bindungen wurden. Früher hatte ich sie nur in Form der Sehnsucht nach dem Geliebten oder Gewohnten oder in Form dessen gekannt, was die französische Sprache regret heißt und wofür es kein genau gleich bedeutendes deutsches Wort gibt — beides dumpfe, die Gesamtstimmung drückende und verdüsternde aber nicht artikulierte Gefühle, die überdies und vor allem nur im Fall des nicht-mehr-Daseins eintreten, und die durch aktuell Bedeutsames zu verscheuchen oder zu überschichten mir früher immer möglich war. Als unmittelbares und positives Erleben kannte ich Besitzgefühl früher, noch einmal, überhaupt nicht. Das erste Bewusstwerden dieses den meisten anderen Menschen Selbstverständlichen wirkte schockartig. Die betreffenden Realitäten wurden mir dann immer deutlicher beim Arbeiten an diesem Kapitel, das ich charakteristischerweise häufiger umschreiben und von Fassung zu Fassung mehr verändern musste als irgendein früheres. Und so bedeutete es eine Illustration mehr des Grundgesetzes meines Lebens, das von der Antizipation in der Vorstellung zur Realisation im integralen Erleben fortschreitet, dass ich erst nach dem Innewerden des Sinnes von Besitz überhaupt und nach mehrfacher Bearbeitung der in diesem Kapitel behandelten Probleme durch den Terrorangriff auf Darmstadt vom 12. September 1944 zusammen mit meinem aus meinen Ersparnissen erworbenen kleinen Haus und Garten mein gesamtes ererbtes, mit Familienerinnerungen verknüpftes Hab und Gut verlor. Den Verlust von Rayküll und Könno hatte ich seinerzeit gar nicht realisiert, den wiederholten Verlust von später Erworbenem kaum, da ich dazumal ganz und gar in meinem geistigen Schöpfertum aufging. Dieser Verlust nun traf mich tief, obgleich ich Darmstadt nie eigentlich geliebt hatte — zu ungeheuerlich war die Diskrepanz zwischen diesem engen und dem mir angeborenen und gewohnten Rahmen, zwischen der Kleinstadt und dem weiten Herrschaftsbereich des Großgrundbesitzers, und zuviel unangenehme Erinnerungen waren an mein Leben in diesem Hause verknüpft; eine unliebsame Erinnerung aber sitzt bekanntlich tiefer und ist leichter reproduzierbar als tausend schöne. Dieser Verlust traf mich so tief, dass ich lange Wochen nachher Tag und Nacht in meiner Seele Ähnliches empfand, wie der Körper bei einer schmerzhaften Zahnwurzelhautentzündung. Dies war möglich dank dem, dass mir auf Grund der seit 1943 gewonnenen Einsichten mein eigentlich ungeliebtes Haus mit seinem winzigen Garten zum Sinnbild geworden war von Grundbesitzertum überhaupt, das nun vernichtete Erbe an Familienerinnerungen, Bildern, Gegenständen, Büchern und sonstigen Sachwerten zum Sinnbild von Erbe schlechthin als der Möglichkeit, bestimmtes Leben über die dem Individuum gesetzte Frist hinaus fortzusetzen. Dank dieser Transfiguration zu Symbolen — die begeistete Seele lebt ausschließlich von solchen — wurden mir Gegenstände, welche ich, schenkte ein Gott sie mir heute wieder, schwerlich mehr als früher beachten würde, zu höchsten Werten. So empfand ich, wie mein zweiter Sohn Arnold aus dem Schutthaufen, welcher vom Hause übrig geblieben war, einige metallene Wertgegenstände wieder ausgrub, diese Tatsache als richtige Auferstehung von den Toten. Jetzt erst realisierte ich, wie tief ich als Erdwesen von meinem Unbewussten her der Erde von jeher verhaftet gewesen war. Dies Erlebnis war mir eine Offenbarung. Und von ihm her begriff ich später mancherlei, was mir vormals völlig unverständlich war. In erster Linie, inwiefern es psychologisch möglich ist, für seinen Besitz nicht nur zu leben, sondern zu sterben. Noch 1942 war ich entgeistert gewesen, als ich von einem an Kunstwerten besonders reichen Bonvivant vernahm, welcher, als ein Lufttorpedo sein Haus traf und sein gesamtes kostbares Hab und Gut mit einem Schlag vernichtete, beim Versuche, einiges zu retten, geradezu phantastischen Heldenmut bewies und auf die Vorstellungen der Seinen hin erwiderte: Ich’ hänge gar nicht an meinem Leben, ich hänge an meinen Sachen. Einem materialistisch Eingestellten kann das Haben von materiellen Werten tatsächlich gleiches bedeuten, wie dem Durchgeistigten Selbst- oder Gottbesitz. Ich verstand sogar, was mir vormals ungeheuerlich erschien, aber was mir sehr häufig begegnet ist, dass einem an Sachen mehr liegen kann als an Menschen — das meinte ja wohl Machiavelli, da er seinem Fürsten ungefähr das Folgende riet: Töte so viele Menschen, als Du für richtig hältst, denn die Erben tragen nichts nach; aber hüte Dich, Besitz anzutasten. Jeder noch so liebe Mensch wird implizite als sterblich vorausgesetzt, darum wird sein Tod bis auf sehr seltene Ausnahmefälle auch immer verschmerzt. Besitz hingegen reicht von Generation zu Generation hinüber, verbindet die Geschlechterfolgen sichtbarlich, und so mag beliebiger Sach-Verlust unter Umständen ähnliches bedeuten, wie den Trojanern derjenige des Palladiums oder den Israeliten der mögliche Verlust der Bundeslade. Ich begriff den tiefen Sinn zweier Beobachtungen, die in mir seinerzeit nur Abscheu ausgelöst hatten: einer Aristokratin starb ihr ältester Sohn bei der Geburt; sie murmelte dabei wieder und wieder: er hätte sieben Schlösser geerbt. Und das andere Erlebnis spiegelt genau Gleiches auf niederer sozialer Stufe. Vier Dienstmädeln zusammen, mehr oder weniger verheiratete Schwestern, hatten es einigermaßen zu Geld gebracht. Wie ihr einer Erbe nur leicht erkrankte, waren sie alle vollkommen aus dem Häuschen; das ist doch unser Erbe: was soll aus den Sachen werden, wenn er stirbt! Das materielle Erbe ist offenbar für viele Naturen das eine realisierbare Sinnbild der persönlichen Fortdauer. Nun ist Hängen an Sachbesitz, so oft dieser nicht als Sinnbild mehr bedeutet, als er ist, trotzdem ein innerlich zu Überwindendes; dieses Haften bleibt unter allen Umständen das, was jeder große geistliche Führer an erster Stelle verurteilt hat. Anders steht es mit dem, was Besitzertum überhaupt ist, und dessen Urform nicht allein, seine sozusagen alleinseligmachende Form ist der Grundbesitz: hier handelt es sich um die Natur- und Geist-gerechte und darum recht eigentlich seinsollende Verknüpfung des geistbestimmten Menschen mit der von ihm bewohnten Erde.

Das ist es, in der Tat, was den Zusammenhang des geistbestimmten Menschen — und auch der Ungeistigste ist das als Mensch überhaupt — mit der Erde schafft: das Gefühl des Besitzes oder wenigstens des Besitzen-Könnens und -Wollens. Wohl eignet der Besitztrieb als Sicherungsmittel gegen die Ur-Angst auch jedem Tier; aber bei diesem reicht er, da ihm die Einbildungskraft fehlt und damit die Möglichkeit, seinen naturgewollten Lebensraum zu überschreiten, über einen sehr engen Bereich nicht hinaus, welcher ihm normalerweise auch so oder anders gewährleistet ist. Das Tier hängt selbstverständlich mit der Erde zusammen, so frei es sich auf ihr bewege. Dem Menschen ist dieser Zusammenhang nicht selbstverständlich, schon allein, weil für sein Erleben die Vorstellung den Primat hat und diese nicht erdgebunden ist. So schafft bei ihm Streben allererst den organisch-normalen Zusammenhang. Darum gibt es kein Volk, das keine Rechtsbegriffe hätte, als welche dem Menschen einen Lebensraum garantieren, der ihm nicht streitig gemacht werden darf. Daher die ungeheure Bedeutung des Eigentums in seinem Fall, welche so weit geht, dass ohne Übertreibung behauptet werden kann, Besitzrecht gehe ursprünglich dem Lebensrecht voran; was in diesem Zusammenhang als Modernität oder als Exzentrizität der nordamerikanischen Weltanschauung aufgefasst wird, nämlich dass von ihrem Standpunkt das Gebot, Schulden zu bezahlen, das sozusagen erste Gebot Gottes ist und dass sogar das Opfer des Lebens im Krieg keinen Gegenwert für geleistete materielle Hilfe bedeute, ist in Wahrheit nicht modern, sondern primordial. Genau so geht soziologisch nachgewiesener Maßen das Preisgefühl dem Wertgefühl voraus, so dass ursprünglich z. B. der Frauenkauf nicht die …… des Erwerbs, sondern der Wertschätzung der Frau darstellt. Nie vor der aller jüngsten Zeit hat Schuldknechtschaft als ungerecht gegolten; noch bei den Germanen der römischen Zeit konnten Mord und Totschlag durch Bezahlung für alle Teile befriedigend abgegolten werden. Doch an der Negation ersieht man, wie so häufig, am deutlichsten die Bedeutung der Position. Die russische Landenteignungspolitik begann unter dem uralten Bauernmotto Semljà nitschjà — die Erde gehört niemand: dessen eigentlicher Sinn war der, dass jedem Menschen die ganze Erde gehört, welche Vorstellung abgegrenzten Privatbesitz erledigt; eben hier liegt die psychologische Wurzel der bolschewistischen Expansionspolitik, welche die zaristische gradlinig fortsetzt.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
II. Abenteuer der Seele
© 1998- Schule des Rades
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