Schule des Rades
Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit
III. Wandel der Reiche
I. Bewusstseinslagen und Welthorizonte - Vom Horizont der Kuh
Die gegebene Bewusstseinslage hängt also im großen und ganzen davon ab, welche Elemente vorherrschen, und was und wieviel ihnen Entsprechendes wahrgenommen wird. Hieraus ergibt sich die Unauflöslichkeit der Beziehung zwischen Bewusstseinslage und Welthorizont. Von hier aus leuchtet von vornherein und ohne weiteres ein, wie grenzenlos vielfältige Erfahrungsarten es geben muss. Jede fixierte Form, jedes Vorurteil bedeutet gegenüber neuen Bewusstseinsinhalten ein a priori ähnlichen Sinnes, wie die apriorischen Denk- und Anschauungsformen, deren Dasein Kant behauptete. Und was im Leben wirkt, ist nicht die Richtigkeit einer Auffassung, sondern die Stärke des Glaubens an sie, die ihre Vertreter beseelt. Daher vor allem die schier unbezwingliche Macht der Dummheit. Je offener ein Geist, desto mehr bleibt ihm zweifelhaft. Der Zweifel aber ist dem Glauben gegenüber vital allemal im Nachteil und so ist die wahre Geistesgeschichte nicht die von Geistesinhalten, sondern von Glaubenskämpfen. Die Festigkeit des Glaubens als solchen ist es, welche weitreichenden Einfluss ausübt, weil die Festigkeit des Seelengefüges der Gana-Ebene angehört, auf welcher alle Menschen beinahe gleichsinnig und -artig leben, und wo dann das Stärkere auf die Dauer zwangsläufig das Schwächere besiegt; während ein neuer Glaubensinhalt als solcher nur demjenigen einleuchtet, welcher innerlich für ihn bereit war und nur des lösenden Worts bedurfte, um dies anzuerkennen. Dieser Umstand kommt einerseits natürlich dem Helden, in diesem Falle in der Abwandlung des Glaubenshelden, zugute. Andererseits erklärt er, warum die Apostel einer Religion für deren Erfolg auf Erden allemal viel mehr bedeutet haben, als deren Urheber, außer in dem einen Falle, wo dieser, wie Mohammed, selber ein Glaubensheld war. Aber Mohammed war kein Urheber im ursprünglichen Sinn, er war kein Gottmensch. Ein solcher kann, so wie der Gläubige glaubt, nicht glauben, er ist selbstverständlich. Man stelle sich nur Gott gläubig vor! Aber höchstwahrscheinlich betrachtet er sich und seine Schöpfung mit Humor… Gleich nach dem Helden kommt aber besagter Umstand leider auch dem Sturen und dem Einsichtsunfähigen zugute. Mein Hotelwirt in der rue de la Seine in Paris war aus dem einen Grunde Anhänger Paul Déroulèdes, weil dieser kein einziges Mal im Leben seine Ansicht geändert hätte, das heißt im Laufe eines langen Lebens überhaupt nicht zugelernt hatte. Eben dies verstehen weitaus die meisten unter dem von ihnen bewunderten Charakter
. Zulernen und Vorwärtskommen wird von den meisten als Verrat oder wenigstens als Schwäche empfunden. Der vorwiegend auf Einsicht Eingestellte und darum Vorurteilsfeindliche, wenn nicht -freie, hat in der ganzen Menschengeschichte nur in den engen Kreisen und in den äußerst seltenen Zeiten Einfluss ausgeübt, in denen objektive Erkenntnis als solche wertbetont war. Im großen war dies im Westen bisher nur zwei Male der Fall: in den sechs oder sieben Jahrhunderten anerkannter hellenischer Geistesfreiheit (die es im perikleischen Zeitalter noch nicht gab, darum musste Sokrates sterben), welcher Freiheit Justinian ein Ende setzte und dann in der Zeit von der Aufklärung bis zum ersten Weltkriege. Seither gewinnt der Glaube in Europa immer mehr wieder die Oberhand und Glaube kann nur Bestimmtes und Endgültiges bannen; so muss die Flüssigkeit der Psyche, die physiologische Grundlage aller Bewusstseinserweiterung weitesten Kreisen wieder als minderwertig gelten gegenüber der Festgefügtheit bestimmter Seelengestalt.
Hiermit gelange ich denn ausdrücklich zu der Frage der Weite und Enge des jeweiligen Welthorizonts. Der Mensch sei noch so sehr, gemäß Max Schelers Bestimmung, das weltoffene Tier, Tatsache bleibt, dass ein wirklich weiter Horizont den allermeisten unerträglich ist. Wohl will jeder einerseits das Unendliche, aber andererseits tut beinahe jeder alles nur Mögliche dazu, um dieses als unendlich Vorausgesetzte hermetisch abzuschließen, sei es auch nur in dem Sinn, wie das Weltall von vielen Physikern als endlich vorgestellt wird, und endet schließlich bei dem Kompromiss, am Engen das Unermeßliche zu erleben. Wie ich das meine, erläutert am besten die folgende Betrachtung zum Horizont der Kuh, die ich einmal für den Kreis der Schule der Weisheit niederschrieb:
Von Kind auf habe ich Verehrung für die Kuh gespürt, nie jedoch für das Pferd. Und es kam mir nur natürlich vor, wenn ich später von vergöttlichten Rindern las — bei den Indern, Persern, Ägyptern — und nirgends von zu Göttern erhobenen Rossen, außer im einen Fall des wahnsinnigen Caligula. Für mich gibt es kein einleuchtenderes Sinnbild zu reinem Trieb verstofflichter kosmischer Männlichkeit als den Stier; keinen mächtigeren Ausdruck in sich gekehrter Allmütterlichkeit als den Blick der Kuh. Wogegen der Gestalt des Pferdes, auch des edelsten, jedwede innere Beziehung zum Transzendenten fehlt.
So habe ich nie an der Kuhäugigkeit der Hera Anstoß genommen und immer tiefe Sympathie zum Mithras-Kult gefühlt. So war mir Reitermentalität von jeher Sinnbild der Seelenlosigkeit. Kürzlich nun las ich eine Verherrlichung der Kuh von einem mir neuen Gesichtspunkt her.1 Sie sei das Genie der Verdauung. Kein Gehirn, so mächtig und differenziert es sei, leiste ähnlich Großartiges wie der Magen und Darm des verdauenden und wiederkäuenden Rindes. Darüber hinaus aber behauptete der gleiche seltsame Mann, der offenbar besonderer Innenschau fähig war, dies: die Kuh schaue aus ihrem tiefsten Mittelpunkte heraus das Wirken ihres Stoffwechsels, die Verwandlung des Toten in Lebendiges, die Einbeziehung der Außenwelt in das Innere, mit gleichsam ehrfürchtigem Verstehen, und genieße das Erlebnis dieses Geschehens ähnlich wie ein Kepler die Harmonie der Sphären. Indem sie aber alles deutlich wahrnehme, was innerhalb des Körpers vorgehe, erlebe sie eine ebenso weite Welt, wie der zum Himmel hinaufschauende und in Funktion des Unendlichen denkende Mensch.
Selten hat mich Evokation fremdartigen Erlebens so sehr zum Weiterdenken angeregt. Zunächst gedachte ich der vielen mir bekannten Frauen, welche den Zustand der Schwangerschaft als weihevoll empfinden und inniger genießen, als die Gegenwart des geborenen Kindes: diese leben bewusst im kosmisch-stofflichen Werden drin. Gleichsinnig leben viele Frauen in inniger Teilnahme das Sterben und damit den Prozess stofflicher Auflösung mit. Dann aber löste sich meine Vorstellung von der reinen Stofflichkeit, und nun fiel mir ein: ist der anscheinend kosmisch-weite Welthorizont des sehenden und denkenden Menschen nicht auch eine Projektion des Innerlichen auf die Außenwelt, wie die erlebte Weltweite der verdauenden Kuh? Sicher ist dem also zunächst in dem allgemeinen Sinn, dass jeder nur Innerliches erlebt und dieses erst in zweiter Instanz herausstellt; das primär Herausgestellte erlebt er nicht. So hört das Erleben des Firmamentes auf mit dem Ende der Astrologie. Und sicher erlebt der Mensch primär alles in Projektionen auf die Außenwelt. Zieht er diese auf höherer Wachheitsstufe in sich zurück, spürt er den Gott inwendig in sich, schaut er im Inneren der Seele, was frühe Zeiten aus den Sternen herauslasen, so ist es nicht eigentlich so, dass er in sich zurückgeht, denn er verließ sich nie; seine Perspektive hat sich verändert. Und kein Zufall ist es, dass sich gleichzeitig mit diesem psychologischen Prozess die Welt der Atome als ebenso weiter und ähnlich geordneter Kosmos enthüllte, wie andersgearteten Menschen der Himmel allein. Doch am Sinnbild der ihren Verdauungsprozess als weltumfassend erlebenden Kuh ist noch viel mehr zu lernen. Vor allem dies: wenn eine Frau, nachdem ihre Liebe sich fixiert hat, alles und jedes auf den oder die Geliebten bezieht und so das Weltall im kleinsten Kreise erfüllt erlebt, so dass ihr der ganze Weltprozess seinen gesamten Sinn vom Wohl und Wehe einzelner Menschen erhält — was tut sie anderes als die verdauende Kuh? Und was tun wir Menschen, Männlein und Weiblein, Philosophen und Praktiker, alle anderes, wenn wir mittels weniger uns einmal gegebener oder selbstverständlicher oder einleuchtender Koordinaten die Unermeßlichkeit des Weltgeschehens bestimmen? Wenn wir für einen Glauben, ein Vaterland, ein Volk, ein Ideal zu sterben bereit sind, weil dessen Niederlage oder Verlust unserem Leben seinen ganzen Sinn nähme? Wir können doch nicht mehr erleben, als wir eben tatsächlich erleben. Wer Gott nicht spürt, hat keine Religion, was immer er konstruiere; wem das Weltgeschehen nicht von Natur aus problematisch ist, für den gibt es tatsächlich keine Probleme, für den sind sie objektiv nicht da. Die Bedeutung schafft auch hier den Tatbestand. Die Dinge liegen nun aber nicht so, wie die meisten meinen, dass der Horizont der einen eben weit, derjenige anderer eng ist, sondern: alle Horizonte sind für den Erlebenden weltenweit. Was immer der Mensch erlebt, erlebt er ins Universelle transponiert. Klar hätte dies jedem bei seinem ersten großen Liebeserlebnis werden können, weil jeder in diesem ein kosmisches Ereignis sieht; oder an der Anschauung des Mädchens, das in der Hingabe gerade an diesen oder jenen Mann ein Ereignis von größerer Bedeutung sieht, als in einer Kriegserklärung zwischen Großmächten. Tatsächlich halten aber Erlebnisintensität und kosmische Weite einander überall die Waage, oder sie entsprechen sich. Eng ist die Welt nur dem nicht oder schwach-Erlebenden. Wohl die engste aller Welten ist die des abstrakten Denkers, dem die dem Verstande innewohnende Verallgemeinerungsmöglichkeit das ganze und einzige Vehikel seiner Universalität ist. Der steht im Grunde gleichgültig zu allem, außer zum Allermateriellsten, dem letzten Halt und Hort seiner ganzen Wirklichkeit, welches er auch entsprechend ernst nimmt. Die Diners vieler deutscher Philosophie-Professoren waren berühmt, und sicher war in diesen mehr erlebte Wirklichkeit angelegt, als in ihren Systemen. Schon der Geschäftsmann großen Stils ist universeller als der abstrakte Denker. Mit Bewunderung beobachte ich im Lauf zweier Weltkriege die Mentalität großer Kriegsgewinnler. Nur ihren schmutzigst-persönlichen Vorteil haben diese im Auge, selbstverständlich. Doch mit grabwespenartiger Sicherheit ziehen sie diesen von Fall zu Fall aus dem richtig gesehenen Weltgeschehen heraus, so dass man sagen kann: ein großer Schieber erlebt die Welt intensiver, als jeder, der sie bloß nach-denkt. Er lebt in wirklicher Gemeinschaft mit ihr, was sich schon daraus ergibt, dass er unwillkürlich das für ihn Sinngemäße tut; man kann aber überhaupt nur wirklich, was man unwillkürlich kann, denn da allein geschieht alles einzelne aus dem großen Ganzen heraus. So lässt sich von jeder besonderen Interessenrichtung her das Weltganze erfassen und umspannen. Dabei aber kommt auf die Intensität alles an. Die Extension ist die Resultante dieser, nicht umgekehrt, genau wie das Geld dem zwangsläufig zuläuft, welcher richtig disponiert, oder wie sich die Welt dem freiwillig unterordnet, der persönliche Überlegenheit erreicht hat. Und immer und überall spiegeln sich Inneres und Äußeres, steht das eine für das andere, weist das andere auf das eine zurück. Wer da sagt: Gott lebt im Himmel, oder inwendig in mir, behauptet gleiches, sofern er es wirklich und intensiv erlebt.
Worauf beruht nun letztlich der Unterschied, zumal der Wertunterschied, zwischen dem Weiten und dem Engen, so wie man die Begriffe gewöhnlich versteht? Inwiefern ist der Weltweise der Kuh vielleicht doch überlegen? Der Unterschied hat seinen Gradmesser am Reichtum der Anlagen und Elemente. Man kann nicht sagen, dass die Kuh den Weltprozess weniger tief erlebe als jener; als in den Stoff versenktes Leben erlebt sie ihn sogar zweifelsohne tiefer. Keinem menschlichen Bewusstsein ist das Wunder der Verwandlung des Toten in Lebendiges zugänglich. Aber die Kuh erlebt nur mit wenigen Elementen des Weltwesens, allzuviel schließt sie aus. So tut es aber auch die in ihrer Liebe aufgehende Frau. So tut es der einseitig Gläubige. So kommt es denn letztlich auf den Inhalt und Gehalt dessen an, was einer tief zu erleben fähig ist… Hier setzt denn der Unterschied zwischen spirituellem, geistigem, emotionalem und materiellem Erleben ein. Das Unendlichkeitserleben des Darms ist dem des Herzens und der Seele und des Geists nicht ebenbürtig. Nichtsdestoweniger steht die tief-erlebende Kuh höher als der, welcher nur mit Abstraktionen rechnet. Damit gelangen wir zu einem neuen Begriff der Universalität. Am schlechtesten fährt bei dieser Neubestimmung der Abstraktling. Dementsprechend ist die äußerlich unendlich weite Welt des heutigen mechanisierten Europäers und gar Amerikaners tatsächlich enger als die seiner abergläubischen Vorfahren. Für letztere war alles Geschehen sinnvoll, für ersteren hat gar nichts Sinn. Im Erleben der Sinnerfülltheit liegt aber der Gradmesser der Wirklichkeit für alle Wesen, welche des Sinnerlebens fähig sind. Darum lässt sich durch echten Aberglauben hindurch die Wahrheit fassen, aus richtig urteilender Gleichgültigkeit heraus nichts. Alles Echte ist durchschaubar, es liegt wirklich Wesentliches dahinter; vom Verdauungserleben der Kuh her ist tiefstes Weltverstehen möglich. Das Unechte ist allezeit opak, und hinter ihm liegt nichts.
Obige Betrachtung ist natürlich nicht durchaus ernst gemeint; ich weiß ja nicht einmal, ob der betreffende Esoteriker2 die Kuh richtig beurteilt und kann es für meine Person nicht nachprüfen. Allein es gibt dem Sinne nach Wahres, welches nicht richtig zu sein braucht, und die obige Betrachtung scheint mir besonders dienlich, zum Verstehen der Lösung zu helfen, welche die meisten für ihr antinomisches Streben finden, welches sowohl auf Unendlichkeit als auf engsten Abschluss geht. Selbstverständlich ist der Horizont des Philosophen objektiv weiter als derjenige der Kuh. Aber gerade er kapselt sich bis auf ganz seltene Ausnahmefälle starrer in einem System ab, als der unbefangene Welterleber, welcher ohne feste Voraussetzungen noch Ziele seinen Gesamtorganismus sämtlichen Einflüssen des Kosmos offen hält. Jede positive Religion gar, die einen allgegenwärtigen, allwissenden, alliebenden Gott lehrt, lässt nichts gelten, was ihren Prämissen nicht von A bis Z genau entspricht, was jeden Anspruch auf Allumfassendheit aufhebt; besonders exklusiv in dieser Hinsicht ist gerade der Christengott. Mein Sohn Arnold schlug mit zweiundzwanzig Jahren als technischen Ausdruck für die nächsterforderliche Kritik den Terminus Prämissenkritik vor. Das war ein guter Einfall und ist ein gutes Wort. Tatsächlich kann nur der Anspruch auf Allumfassendheit als unbedingt gelten, der eine unendliche Anzahl von Ausgangspunkten als möglich anerkennt. Es ist einfach nicht wahr, dass die gesamte Wirklichkeit von einem Standpunkt oder von einer Voraussetzung her zu begreifen sei. Tatsächlich sind deren sehr viele als nicht nur möglich, sondern als wirklich und dem Menschen frommend, ja jeder von ihnen in bestimmter Hinsicht als besser als andere frommend erwiesen. Der Wert aller aber bemisst sich erfahrungsgemäß am Umfange dessen, wieviel von der Gesamtwirklichkeit sie zu überblicken und im richtigen Verhältnis aller Teile zueinander zu beurteilen erlauben. Der absolut höchste Gesichtspunkt wäre der, welcher sämtliche möglichen Voraussetzungen überblickte, der also die Prämisse aller möglichen Prämissen darstellte, ein Ähnliches wie die causa sui der Scholastiker. Dieser höchste Gesichtspunkt ist dem Menschen praktisch unersteigbar. Dass sich der denkende Mensch indes unbewusst gerade nach ihm sehnt, beweist das Einleuchtende des Postulats einer voraussetzungslosen Forschung. Solche kann es nicht geben. Darum wird es für immer Menschenschicksal bleiben, von immer neuen Prämissen aus die Lebensgleichung anzusetzen, eine Sisyphusarbeit, die aber andererseits höchstes Glück bedeutet, denn ohne sie gäbe es keine Ziele für den nach freier Betätigung und Neuschöpfung strebenden Geist. Und das Abwechslungs- und Kompensationsbedürfnis, zusammen mit der hohen Kunst des Vergessens sorgt dafür, dass jeder neue Ansatz als Erlösung empfunden werden kann. So haben von Anbeginn der Geschichte an Zeiten gewollter Weite mit solchen gewollter Enge miteinander abgewechselt, Zeiten bestimmenden Glaubens mit solchen bestimmenden Erkenntnisstrebens, Zeiten des Aufbau- mit solchen des Zerstörungswillens. Innerhalb dieses weiten Rahmens aber gibt es theoretisch unendlich viele mögliche Ansatzpunkte und Bewegungsrichtungen. So findet das Unendlichkeitsstreben des Menschen letztendlich seine Befriedigung in der Möglichkeit immer neuer Bewegung und Bewegtheit.
Jeder einzelne jedoch ist im Menschheitskosmos für einen bestimmten Ansatz der Lebensgleichung als sein Schicksal vorherbestimmt. Jeder stellt gleichsam eine Abstraktion aus dem Menschheitskosmos dar, dessen Sinngerechtigkeit einerseits von der Beziehung zum großen Ganzen und andererseits von derjenigen zu den sie ergänzenden anderen Sonderheiten gleich Abstraktionen abhängt. So ergänzen einander die verschiedenen Menschentypen und Berufe, Schöpfer und Versteher, Tat- und Geistesmenschen wie Bienen und Klee, wenn nicht gar wie Mann und Weib, und findet derjenige unweigerlich seinen rechten Platz und seine rechte Stellung in der Welt, welcher sich selbst findet und sich selber treu bleibt. Schlechthin alle Scheiterungen und Fehlgeschicke, die nicht durch kollektives Unheil bedingt erscheinen, haben ihren Grund darin, dass die Betroffenen die oben genannten Bedingungen nicht erfüllten. Ja, ich bin nicht einmal sicher, ob diese Einschränkung aufrecht zu erhalten ist. Immer mehr neige ich zu der Annahme, dass jedes Geschick, welches den einzelnen scheinbar rein von außen her trifft, von seinem geistigen Kern gewollt und gesucht und gefunden wird. Wer in das Zeitalter der zwei Weltkriege hineingeboren wurde, wollte es irgendwie aus rein persönlichen Gründen… Doch hierüber will ich hier nicht mehr verlautbaren, da ich auf diesem Gebiet noch zu keiner Gewissheit gelangt bin.
1 | In einem Aufsatz von Rudolf Steiner [Anmerkung des Keyserling-Archivs] |
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2 | Rudolf Steiner [Anmerkung des Keyserling-Archivs] |