Schule des Rades

Hermann Keyserling

Reise durch die Zeit

III. Wandel der Reiche

IV. Polverschiebungen - Übermännlichung

Ich war mir jahrelang nicht klar darüber, was die tiefe Ursache dieses Vorherrschens des Vernichtungs- und Zerstörungswillens sei. Heute habe ich eingesehen, dass sie in allen Hinsichten und überall mit derjenigen des absolut gedachten Mannes und seiner Gesinnung zusammenfällt. Noch nie in der Geschichte wurden die männlichen Elementartugenden und -leistungen auf der Ebene des undurchgeistigten Lebens mit auch nur annähernd gleicher Ausschließlichkeit und Übertriebenheit gepriesen. In allen früheren männlichen Zeitaltern hatten die Helden und sonstigen Vorbilder unter anderen auch weibliche Tugenden, wie denn der vollkommene Mensch immer mehr oder weniger androgyn ist. Wie ich 1911 in Adyar den Theosophie-Abschnitt des Reisetagebuches schrieb, bezweifelte ich eine nahe große Zukunft dieser Bewegung, weil wir gerade in ein suprem männliches Zeitalter einmündeten. Hier hatte ich richtig gesehen. Nie im Traume aber hätte ich dazumal erwartet, dass die Vermännlichung so weit gehen könne und dass gerade der Zerstörungspol des männlichen Prinzips das absolute Übergewicht erlangen würde. So aber ist es zur Zeit, da ich dieses schreibe, und zwar in allen Landen. Wo kein aktiver Zerstörungswille herrscht, dort tut es sein pathisches Korrelat, das gleichmütige Hinnehmen und Gewährenlassen, oder aber die Tarnung seiner, welche der Wille zur Überarbeitung und damit zur Erschöpfung zutiefst bedeutet. Das Leistungsprinzip im Zeichen des Rekords über dasjenige des Lebens stellen kann nur die Zerstörernatur. Aller Wille zur Zerstörung meint aber Selbstzerstörung. Und wird diese nur im Extremfall erreicht — das klassische Beispiel dessen ist der ungewollt organisierte Selbstmord der Spartanerrasse — so erweist sich die Richtigkeit meiner Diagnose schon auf einer frühen Etappe unterwegs dahin durch vitale Schwächung. Womit ich denn zur aktuellsten These dieses Kapitels gelange: dass die Übermännlichung des Mannes nicht zu dessen Erkraftung, sondern zu dessen Schwächung führt.

Da Mann und Weib in einem Korrelationsverhältnis zueinander stehen, so bedingt Schwächung des einen Pols, wo die jeweilige Linie nicht ihr Ende erreicht hat, zwangsläufig Stärkung des anderen. Das früheste Symptom der beginnenden Schwächung des Mannes im Gesichtskreise meines persönlichen Lebens, das ich eigentlich von vornherein hätte richtig diagnostizieren können und sollen, war die Vermännlichung der Frau. Die Frau antizipiert immer, tierisch-vorfühlig, männliche Wünsche, Verschiebungen des polaren Zusammenhangs der Geschlechter und darüber hinaus den Wandel des Zeitgeists. Zuerst kam die Frauenemanzipation, welche die Schwächung des Mannes lange vorauswitternd, und doch von diesem keineswegs begrüßt, genau rechtzeitig begann, um gesiegt zu haben, wenn der Mann männlich-tüchtiger Frauen bedürfen würde. Nach dem ersten Weltkrieg, in welchem die meisten Männer der Frauen entwöhnt worden waren, und eine (in den meisten Fällen unbewusst bleibende) Homoerotik deren Beziehung zum Mitmenschen überhaupt bestimmte, verloren jene ihre Brüste, ver-ephebisierten sie sich, trugen sie kurze Haare und stilisierten sich als Kameradinnen. — Das zweite Symptom einer sich langsam anbahnenden Bedeutungssteigerung des weiblichen Prinzips war die schon vor dem ersten Weltkriege einsetzende Modeforderung, dass die Männer bartlos, jung, hübsch, graziös und beweglich sein sollten. Man lese Sir Galahads Mütter und Amazonen, einem trotz seiner Witzigkeit und schnoddrigen Ausdrucksweise sehr tief-verstehenden Buch, die ausführliche Darlegung des historisch erhärteten Tatbestandes nach, dass die genannte Forderung allemal an das jeweils schwächere Geschlecht ergeht. In rein mutterrechtlichen Zuständen wurden an die Männer ausnahmslos sehr ähnliche Ansprüche gestellt, wie in meiner Jugend an die Frauen, welche, wollten sie Damen sein, nichts tun durften und nur gefallen sollten, oder aber nichts als Köchinnen, Aufwärterinnen und Kinderfrauen zu sein hatten. In allen mutterrechtlichen Zuständen waren die Männer entweder geschmückte Frauenlieblinge oder aber Domestiken; und es ist charakteristisch für unsere vom Arbeiter-Geist bestimmte Epoche, dass der Mann in Amerika, wo die Frau heute schon vorherrscht, von den meisten Frauen ganz naiv als besserer Dienstbote aufgefasst wird. — Das dritte Symptom war das immer-mehr-Vorherrschen der Männerbünde und des Kameradschaftsgedankens. Es klingt paradoxal, aber es ist wirklich so, dass Männervereinigungen heutiger Art innerhalb der gesamten Geschichte nur in Zeiten hoher Machtstellung der Frau eine große Rolle gespielt haben. Die Frau will den Mann rein als Mann herausdifferenziert, durchtrainiert und kämpferisch; gesetzte, behäbige, langsame und friedliche Männer geben nur dort den Ton an, wo sich der Mann in seiner vorherrschenden Stellung vollkommen sicher fühlt und es sich darum leisten kann, sich gehen zu lassen. An diesem Zusammenhang erkennt man vielleicht am besten die Einheitlichkeit des sich anbahnenden neuen Zeitgeistes. Die lebendige Bewegung erfolgt immer im Kraftfeld von Pol und Gegenpol: so bereitete das immer-mehr-Vorherrschen des Männerbundgedankens, obgleich er mehr als einem Vierteljahrhundert eine besonders männliche Prägung gab, gleichzeitig die Übermännlichung und das Vorherrschen des rein Zerstörerischen im Manne vor, welches gemäß dem Polaritätsgesetz zu einer Stärkung des weiblichen Poles führen musste. Kämpferisch und kriegerisch ist der Mann von Natur und das Ausleben dieser Triebe innerhalb gewisser Grenzen stärkt und kräftigt ihn. Doch werden Kampf und Krieg Selbstzweck, wird letzterer zum hemmungslosen Vernichtungskrieg, dann wird der Mann damit zum Selbstmörder. Woraus folgt, dass auch die Weltkriege unter anderem den Sinn haben, das Ende des männlichen Zeitalters vorzubereiten. — Ferner ist hier des wachsenden Prestiges des Künstlers und desjenigen des Homosexuellen zu gedenken. In meiner Jugend genoß der Künstler im Vergleich zum Staatsmann, Gelehrten und Soldaten kaum Ansehen. Er gehörte noch mehr oder weniger zum fahrenden Volk. Seither gilt er in immer weiteren Kreisen als höchster Menschentypus. Jeder Künstler nun hat sehr starke weibliche Komponenten; so sehr er als Geist-Vertreter Mann sei, physiologisch ist er mehr oder weniger androgyn und darum bedeutet die Hochschätzung seiner seitens der Männer, dass der Über-Mann an Ansehen verloren hat oder verliert. Bis zu einem gewissen Grade ähnlich steht es mit dem Homosexuellen. Nicht darauf kommt es hier an, dass sehr viele Künstler und Kunstverständige diese Anlage haben, sondern dass der Zeitgeist einer Zwischenstufe zwischen Mann und Weib hold geworden ist. Letzteres äußert sich am auffallendsten darin, dass immer mehr Frauen, welche die Gleichgeschlechtlichkeit der Männer von Natur aus verabscheuen und verabscheuen müssen — denn jede Frau kann hoffen, eine andere Frau auszustechen, wogegen sie die Konkurrenz mit einem als Geliebten fungierenden Mann nicht aufnehmen kann — unter deren Vertretern immer häufiger Freunde haben, die sie besonders schätzen; das hat einen ähnlichen Sinn, wie die Vorliebe byzantinischer Damen für die Eunuchen, die dort charakteristischerweise Engel genannt wurden. Diese wie jene galten den Damen für besonders feinfühlig, zart und verständnisvoll, und dies mit Recht. Frauen haben es immer genossen, wenn sie unter anderen wunschlose Freunde hatten; daher das eigentümliche Ansehen, das ich schon in meiner Jugend im Kreise geistreicher Frauen Impotente genießen sah. — Sogar des Sozialismus ist in diesem Zusammenhang zu gedenken. An sich liegt die Idee eines sozialen Staates der Frau viel näher als dem Mann, nämlich als Wohlfahrtsstaat; jede Familie ist recht eigentlich ein solcher; in mutterrechtlichen Zeiten stellte dieser sogar eine Art Internationale dar, insofern es der jeweiligen Allmutter gleichgültig war, von welchem Manne ihre Kinder stammten. Von hier aus gesehen, sind die Ideale des Sozialismus vielleicht nicht unrichtig als Wiedergeburten uralter Mutterrechts-Normen im Gewand moderner Sachlichkeit zu deuten. Jede Bewegung hat eben viele Wurzeln, so wie jeder Mensch (wie im Kapitel Mütter aufgezeigt) viele Väter und Mütter hat, und jeder einzelne ist, ob er es weiß oder nicht, als integrierender Bestandteil Vertreter eines einheitlichen Zeitgeists, wo ein solcher vorhanden. So gehört es mit zu den angeführten Symptomen, dass Bachofens Gedanken über das Mutterrecht auf einmal so weiten Kreisen gleichzeitig einleuchteten. Auch meiner selbst muss ich hier gedenken. Obschon von Natur Patriarch und nicht Matriarch, habe ich, seitdem mir schöpferische Gedanken kamen, im Geist der hier dargelegten Zusammenhänge gedacht. Es genügt, wenn ich auf meine Herausarbeitung der Emotionalen Ordnung in den Meditationen hinweise und diejenige der Vorbildlichkeit für diese Zeit des iberischen Kulturkreises. Heute ist die Einheitlichkeit des neuen Zeitgeists eine augenscheinlich planetarische. Hier will ich nur noch auf ein Sonderbeispiel dessen hinweisen: die Tatsache, dass im vom ersten Weltkriege kaum berührten Nordamerika die Idee der Kameradschaftsehe (companionate marriage) aufkam und augenblicklich zündete. Kameradschaft als Generalnenner oder vorausgesetzter Höchstausdruck positiver menschlicher Beziehung bedeutet aber immer Dominanz des einseitig herausdifferenzierten Männergeists. Im übrigen bedeutet Kameradschaftssinn, außer in bestimmten Jugendstadien, wovon später mehr, nur in der Situation positiver Gefährdung, wenn alles darauf ankommt, dass einer für alle einstehe und alle für einen, ein starkes positives Gefühl. Aus dem Kampfgeist heraus entsteht es — nicht schon in der Situation der Arbeitsgemeinschaft und schon gar nicht in der des Wettbewerbs; man vergesse nicht, dass die im Geist des Agon, des Wettkampfes orientierte Gesellschaft Griechenlands und von ihr her der Gesamtantike eine Kultur so ungeheuerlicher Hartherzigkeit und Lieblosigkeit gezeitigt hat, dass eben dies, als kompensatorische Gegenbewegung, einen Siegeszug der Religion der Liebe auslöste. Darum ist es nur logisch, dass im kollektivistischen Zeitalter, welches von Anfang an Kameradschaftlichkeit am höchsten wertete (das deutsche Wort Genosse, das russische Towaritsch bedeutet eben dies), die meisten tieferen Gefühle absterben; nie meines Wissens gab es in Deutschland eine egoistischere, gleichgültigere und hartherzigere Jugend, als die der dreißiger und vierziger Jahre des XX. Jahrhunderts. Der weitaus größte und wichtigste Teil des richtig verstandenen und sinnvoll gelebten Lebens ist eben nicht Kampf, es besteht nicht in Auseinandersetzung mit anderen, sondern in eigenständigem Wachstum und Streben nach Selbstverwirklichung; und den Primat in der Beziehung zum Mitmenschen hat die Freude am Helfen und die Liebe, nicht der Streit. Wird gar das Intime in dessen Zeichen gesehen, dann kann es nicht ausbleiben, dass Herz und Seele atrophieren, die Psyche sich primitiviert, dass alle feineren Differenzierungen sich auflösen und von der Bezogenheit auf das Du — der Grundeigenschaft alles Emotionalen höherer Ordnung — nur diejenige auf den Feind übrig bleibt. Ist es so weit, dann muss das allezeit ambivalente Emotionale in sein Gegenteil umschlagen, Liebe in Hass, die Inklusivität in Exklusivität, Helfen-Wollen in Ausbeutung, die Weitherzigkeit in Engherzigkeit und deren Verherrlichung, die bis zur Idealisierung der blinden Unterwelt gehen kann; dann muss im Grenzfall reptilische Kälte und mineralische Härte mehr gelten als Seelenfülle und Sympathie des Herzens. Aller Kampf gehört dem Zerstörungspol des Lebens an, sei es auch in der milden Form der Selbstverausgabung; alles Aufbauende steht nicht in dessen Zeichen, das Kämpfen ist, wo es vorkommt, nur unvermeidliche Begleiterscheinung. Werden gar Liebe und Ehe als Kriegszustand gedeutet, so verbleibt als letzter emotionaler Halt gewissenlose Eigenliebe — sogar dieses Wort hat einen zu schönen Klang, am besten gibt das, was ich hier meine, der englische Ausdruck self-indulgence wieder. Von hier aus sieht man, dass das amerikanische Ideal der Kameradschaftsehe zutiefst das bedeutete, dass überhaupt keine echte Ehe gewünscht wurde und die europäische Erhebung des Kameradschaftsgefühls zum Generalnenner, dass für echte Freundschaft, von tiefer Liebe zu schweigen, der Sinn abstirbt. In jeder Fabrik, bei jedem Wechsel des Arbeitsplatzes findet der Mensch neue Kameraden, zu denen mit Sofortwirkung kameradschaftliche Beziehung möglich ist. Wenn sie das Höchste sein soll, dann besteht natürlich keinerlei Anlass, bei oberflächlichster Anziehung nicht sofort zu heiraten, dann ist kein Band so fest, dass es nicht ohne weiteres, ohne irgendwelche seelische Schwierigkeit, aufgelöst werden könnte.

Im Verlauf der Weltrevolution hat nun der Mann immer stärkeren Nachdruck auf den Zerstörungspol seiner Natur gelegt; zur Zeit, da ich dieses schreibe, ist er geradezu Spezialist der Zerstörung geworden im Geist des l’art pour l’art. Nicht mehr kämpfen will er in erster Linie, wenn er sich mit einem Gegner misst (man gedenke des in einem früheren Kapitel über den Wettkampf Gesagten, als welcher wesentlich nicht des Gegners Vernichtung anstrebt) sondern zerstören schlechthin. An sich nun dominiert der Zerstörungspol beim Mann in mehr oder weniger langen Lebensphasen normalerweise; die Freude der Buben und Bengel am Zerschlagen findet ihre normale Fortsetzung in der Freude am Kriegertum; insofern ist der Mann der Zerstörer. Er muss es auch sein, insofern er der Schöpfer und Neuerer ist. Vom Standpunkt der Natur verkörpert das männliche Geschlecht überhaupt das kurzlebige Element, vom normalen Frühtod des Menschen-Männchens im Krieg bis zur grotesken Überspitzung dieses Verhältnisses, dass das Spinnenweibchen ihren Gemahl nach vollzogener Begattung auffrisst. In diesem Zusammenhang und innerhalb der hier gesteckten Grenzen ist sogar den Übertreibungen René Quintons in dessen bereits in früheren Zusammenhängen beurteilten Kriegsbuch, gemäß welchem der Mann nur zum Töten und Sterben da sei, im Verstande dessen zuzustimmen, dass eine gute Karikatur die entscheidenden Verhältnisse besser verdeutlicht, als eine naturgetreue Zeichnung. Von hier aus versteht man auch, dass der Selbstzerstörungstrieb beim Mann, im Gegensatz zur Frau, ein Normales darstellt, ihn schwächt der Geschlechtsakt, welcher neues Leben schafft; und ebenso drängt es ihn bei allem Schöpfertum, auf welcher Ebene immer zum Selbstopfer; hier liegt der einzige in tieferem Verstande schöpferische Sinn des Krieges. Endlich dominiert im Mann der Geist über die Seele, jenem aber bedeutet es wenig, wenn zwecks Erreichung seiner Ziele Leben vernichtet wird — ebenso wenig wie irgend ein Wahrheitssucher bei Entdeckung neuer Wahrheit daran denkt, dass durch deren Sieg alte Wahrheit mit allem, was mit ihr zusammenhängt, getötet wird. Über das Gesagte hinaus ist hier auch die biologische Erkenntnis zu berücksichtigen, dass sich der Geist überall mittels physischen und psychischen Abbaus (nicht Aufbaus) verwirklicht. Doch unter normalen Verhältnissen wird der Zerstörungswille durch Aufbauwillen balanciert. Erstens durch den normalen Einfluss der Frau, der es ursprünglich ausschließlich um Leben und Lebensmehrung zu tun ist, dann durch das Weibliche in ihm selbst — hierüber später mehr. Endlich und vor allem durch die positiven Ziele, welche sein Geist setzt, denn nur das Triebhafte in ihm will, außer im Fall der Besessenheit durch den Bösen Gott, die reine Zerstörung als Endziel. Die geist-geborenen männlichen Ideale waren nämlich noch niemals lebensvernichtenden Charakters. Darum gab es wesentlich zerstörerisch gesinnte Völker nur unter Ideal-losen. Der Geist als solcher steht über der Natur-Polarität von Mann und Weib, von Aufbau und Zerstörung und als Träger des substantiellen Geistes bedeutet das männliche Prinzip ein unbedingt Positives. Von ihm aus erfolgt alle Selbstverwirklichung, die nur vom einsamen Selbst, ohne Hinblick auf andere ihren Ausgang nehmen kann. Zerstörung hingegen setzt überwiegendes Ernstnehmen des Objekts, nicht des Subjekts voraus.

Heute nun zum ersten Mal in der bekannten Geschichte, ist der Mann bei den zur Zeit historisch bestimmenden Völkern beinahe rein und vollkommen bewusst zerstörerisch eingestellt und dabei ohne Inspiriertheit durch den Bösen Gott. Der zerstörerische Aspekt der Gana, welche von Geist und Seele nichts weiß, ist in ihm vorherrschend geworden, und der noch eine bescheidene Rolle spielende Geist-Ersatz zum Vollstrecker ihres Willens. Alle ewigmännlichen Ideale — zum Beispiel die Ideale der Selbstüberwindung, des Opfers, der nicht-Achtung des Materiellen, der Härte als Mittel der Beherrschung der eigenen Schwäche, der Pflicht als eines Verzichts auf Befriedigung persönlicher Neigung zugunsten eines Höheren — erscheinen heute dahin spezifiziert. Unter Selbstüberwindung wird Unterstellung unter das Kollektive und damit das Untermenschliche verstanden; das Opfer wird ähnlich aufgefasst, wie in Zeiten des Menschenopfers, die nicht-Achtung des Materiellen transponiert sich in Knechtschaft gegenüber dem Kapital, von dem man keine persönliche Befriedigung hat noch haben darf, sondern dem man als Sklave dient oder in Vergewaltigung der vitalen Urtriebe und deren Vermählung mit der Erde mittels der Liebe und des Besitzes; die Härte wird als Wert an sich empfunden und damit jede Grausamkeit sanktioniert, das Pflichtgefühl als Verzicht auf persönliche Überzeugung und Einsatz für diese. Die äußeren Symptome dieser Perversion liegen jedermann vor Augen, nur sehen die meisten nicht, wohin das zwangsläufig führen muss, wenn nicht bald ein entgegenwirkendes Motiv eingreift: zu nichts Geringerem, als zum Aussterben des Lebens. Hierbei denke ich nicht allein an Krieg und Hinrichtung und Überanstrengung, welch letztere bei der jüngsten heutigen Jugend im Zeichen der Ertüchtigung schon einen Grad erreicht hat, dass mit einer niedagewesenen vitalen Herabminderung der Vierziger und Fünfziger unter den Vertretern dieser Generationen zu rechnen ist, welche dieses Alter erreichen, oder die Selbst-Verhungerung der jungen Frauen, welche sicher zutiefst in einem dem männlichen äquivalenten und der Gesinnung des Mannes angepassten Zerstörungstriebe wurzelt und nicht in Schönheitssinn: ich denke an die Sterilisierung oder Erschöpfung der tiefsten und elementarsten Bildekräfte, welche sich schon lange in einem früher nie da gewesenen Ausmaß wenn nicht in sexueller Impotenz, so doch in Sterilität äußern. Gerade an dem Tage, an welchem ich dieses schreibe, wird in den deutschen Zeitungen eine Statistik veröffentlicht, wonach in neunzig von hundert Fällen der Kinderlosigkeit von Ehen in Deutschland die Schuld bei den Männern liegt. Last not least denke ich an die wachsende Entmachtung des Geistes, denn ein nicht Geist-bestimmtes Leben ist kein menschliches mehr. Bisher haben noch wenige meine Meditationen rezipiert, aber das hörte ich bereits einen bekannten Professor der Biologie behaupten: es sei jetzt erwiesen, dass der Geist nicht auf dem Wege natürlicher Entwicklung des Lebens in dieses hineingekommen sei, er sei (genau gemäß meiner Lehre) irgend einmal eingebrochen, woraus denn folge, dass er irgend einmal den Menschen auch verlassen könne…

Unter diesen Umständen, deren ausführlichere Schilderung ich mir ersparen kann, da so ziemlich alles, was im betrachteten Zusammenhang seit dem Ende des ersten Weltkrieges geschieht, eine einzige Illustration des hier herausgeschälten Sinngehaltes darstellt, ist das Gleichgewicht zwischen den beiden Polen des lebendigen Werdens, dem konstruktiven und dem destruktiven, offenbar zerstört und damit auch das zwischen den Geschlechtern. Und von hier aus sehe ich aus den Tiefen des Lebens heraus — aus weit größerer Tiefe, als irgend eine Kausalbetrachtung erloten kann — die Korrektur, Kompensation und Heilung sich anbahnen. Diese kann nur von einer neu-Stärkung des aufbauenden Pols herkommen, und den verkörpert im Zusammenhang der Natur die Frau. Wohl schaffen die Frauen während des zweiten Weltkriegs mehr denn je früher im Geist der Gleichberechtigung der Geschlechter und insofern der Ideale der Frauenemanzipation — sie vertragen es indessen immer schlechter; immer deutlicher merken sie, dass die Entwicklung ihrem eigenen Verderben zuführt, zu einer Selbstzerstörung ähnlichen Sinnes, nur noch sehr viel tieferer und wesentlicherer Art, als es diejenige der Männer ist, im Trieb zu welcher sich schließlich ja nur Normales übersteigert. Wohl gibt es auch unter Frauen reine Zerstörernaturen, wie zum Beispiel die Passionaria in Spanien und die russischen Flintenweiber, und wenn einmal Frauen mörderisch werden, dann sind sie weit grausamer als Männer, da es sich bei ihnen nicht um ein Ausleben eines normalen starken Triebs, sondern um eine In- und Perversion ihrer Urinstinkte handelt. Aber diese Missgestalten sind seltener gesät als geborene Verbrecherinnen. Der weibliche Selbstzerstörungswille äußert sich normalerweise in der Prostitution; daher das Normale dieser unausrottbaren Einrichtung, was immer moralisch gegen sie einzuwenden sei; sie entspricht biologisch dem Selbstzerstörungstrieb des Mannes, so dass hier ein Korrelationsverhältnis besteht, weswegen Prostitution allemal in Kriegs- und Revolutionszeiten in frenetisch gesteigertem Maße in Erscheinung tritt. Ursprünglich denkt die Frau ausschließlich an Aufbau und Erhaltung. So beginnen denn immer mehr Frauen zu fühlen, dass das männliche Prinzip im Begriff ist, sich ad absurdum zu führen, dass es in seinen Zielsetzungen wie in den angewandten Mitteln unaufhaltsam immer lebensfeindlicher wird und an der Grenze des Möglichen die Fortexistenz des Lebens überhaupt gefährdet. Sie fühlen zugleich, dass der Mann anderes und neues von ihnen erwartet, weil er allein aus der vitalen Sackgasse, in die er hineingeraten ist, nicht mehr hinausfindet. Sie fühlen und sehen aber vor allem dies: dass die Männer innerlich — trotz aller äußeren Leistung und offenbar wegen deren Übermaßes — immer schwächer werden. Immer schwerer fällt es Frauen, zu Männern aufzuschauen, was doch ihrem Elementarbedürfnisse entspricht. Mit Grauen und verständnislosem Entsetzen gewahren sie, dass die Übersteigerung nur männlicher Ideale wenn nicht der körperlichen, so doch der geistig-seelischen Entmannung des Mannes zuführt, dass es unter der jungen Generation starke, geschweige denn große Männer kaum mehr gibt. Wobei es sich um anderes handelt als die Tatsache, dass die heutigen Kulturvölker im Verlauf ihrer Differenzierung im allgemeinen unvitaler geworden sind, als sie noch im XVII. Jahrhundert waren — die Reserven sind wenn nicht aufgebraucht, so doch voll eingesetzt. So beginnen die Frauen von ihrem Unbewussten her immer deutlicher vorauszufühlen, dass diese Epoche in Äquivalentes ausklingen kann, wie die kurze Begattungszeit des Frühjahrs für die männlichen Frösche. Sie merken dies immer mehr auf allen Ebenen, auf derjenigen der physischen Potenz nicht weniger als derjenigen des schöpferischen Geists und der starken und sicheren Lebensführung. Denn wirklichen Sinn für das Leben als Kunst hat nur der Mann, die ganz sich selbst überlassene Frau ist typischerweise gâcheuse. Es ist nicht anders: die äußerlich stärksten unter den Männern die ich meine, sind innerlich hohl, schwach und ängstlich und sehnen sich nach Bemutterung; wo die Frauen einen Helden verehren zu dürfen erwarteten, erleben sie es allzuoft, dass er sich nur in ihrem Schoße ausweinen und von ihr getröstet werden möchte. Oder aber der Mann entwickelt der Frau gegenüber eine Domestiken-Mentalität, wie dies für das Amerika, das ich persönlich gekannt habe, typisch war — dort als Ergebnis der Erschöpfung durch ein alle Schranken der gesunden Natur überwucherndes Erwerbsstreben. So bereitet sich als Kompensation und Rettung zugleich der übermännlichten gegenwärtigen Epoche eine solche vor, in welcher das weibliche Prinzip mehr zu bedeuten und zu bestimmen haben wird, als je seit matriarchalischen Zeiten. Und die Frauen merken auch schon immer mehr, dass sie selbst mit schuld an dieser Entwicklung sind wegen Befürwortung der Übermännlichung und der nicht-Achtung des Fraulichen in sich und in ihrem sich-herabsenken-Lassen auf die Stufe des reinen Triebwesens, welches alles dem geistig entmannten Mann entspricht, erkennen sie immer deutlicher Selbstprostituierung. Da sehnt sich das Mütterliche in der Frau danach, dem Verderben zu steuern, den Mann verstehend umzuerziehen, bevor es dafür zu spät geworden ist.

Hermann Keyserling
Reise durch die Zeit · 1948
III. Wandel der Reiche
© 1998- Schule des Rades
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