Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

Vorwort

Vorwort zur achten Auflage

Endlich, endlich geht mein seit Jahren gehegter Wunsch in Erfüllung: mein Reisetagebuch erscheint in einer Ausgabe, welche den meisten Freunden ernster und besinnlicher Dinge erschwinglich sein dürfte…

Es hat seither seinen Aktualitätscharakter verloren. Allen guten Geistern sei Dank dafür. Zeitströmungen soll man freilich niemals gram sein. Ohne Wind kein Segeln, und keinem, welcher in die Weite wirkte, blieb es erspart, zeitweilig modern zu sein. Aber meine Modernität entsprang einer allzu zufälligen Konjunktur: dass sich das erste Nachkriegs-Deutschland für den Osten interessierte. Das habe ich eigentlich niemals getan; d. h. mir war der Osten nur Weg, niemals Ziel. So konnte ich, von dem Rabindranath Tagore einmal sagte, von allen Okzidentalen, welchen er begegnet, sei ich der extremste, nicht umhin, ein ärgerliches Missverständnis darin zu sehen, dass ich als Prophet des Ostens rubriziert wurde. Heute nun ist dieses Mode-Interesse verflogen. So darf ich hoffen, dass neue Leser an mein Reisetagebuch von Hause aus in richtigerer Einstellung herantreten werden, als es die ersten taten.

Das Reisetagebuch schildert den Weg eines denkend-strebenden Menschen zu sich selbst. Dass dieser Weg über den Orient führte, ist in bezug auf den eigentlichen Sinn des Buchs ein zufälliges Moment. Es ist zufällig im gleichen Verstand, wie das Südamerikanische an meinem jüngsten Werk, den Südamerikanischen Meditationen, die mein Streben und Schaffen vom Weltkrieg an bis heute in ähnlichem Sinn zusammenfassend abschließen, wie das Reisetagebuch mein Vorkriegsleben abschließt: es liegt in meiner Natur, in bezug auf äußere Gegebenheit und Begebenheit des innerlich Wesentlichen und zeitlos Gültigen bewusst zu werden. Von mir aus gesehen, ist das Reisetagebuch ein Jugendwerk. In mir entstand und reifte es in den Jahren 1911 und 1912. Trotzdem stellt es tatsächlich das Fazit eines ganzen Lebens dar, so wie es vielfach beurteilt worden ist: nämlich das Fazit meines Lebens als Erben der Vergangenheit. Nach dem Weltkrieg, in gänzlich veränderter Welt, der Heimat verlustig, zu neuer Lebensart gezwungen, habe ich neu angefangen. Das später Geleistete stellt so naturnotwendig ein Jüngeres dar, als es das Reisetagebuch tut. Ich war vor zwanzig Jahren abgeklärter und fertiger, als ich heute bin. Das klingt freilich paradox und ist es auch. Doch sollen wir’s dem Schöpfer nicht danken, dass es ebensowenig absolute Jugend und absolutes Alter gibt, wie absoluten Raum und absolute Zeit?…

Der missversteht, in der Tat, die Sonderart dieses seltsamen Lebens, der nicht anerkennen mag, dass das Fertigste ebensowohl am Anfang wie am Ende liegen kann. Und so mag das, was einer längst überlebten Periode angehört, zugleich ein letztes Wort bleiben. Dies gilt für mich, auf seiner besonderen Ebene, in seinem besonderen Rahmen, vom Reisetagebuch. Es gibt wahren Fortschritt nur nach innen zu. Der Weg zu tieferer Sinneserfassung und -verwirklichung führt allemal über ein Durchschauen dessen, was ehedem als letzte Gegebenheit erschien. Diese Wahrheiten habe ich in späteren Werken, zumal in Schöpferische Erkenntnis und Wiedergeburt begrifflich schärfer gefasst; im ersten und letzten Kapitel von Menschen als Sinnbilder habe ich deutlicher gesagt, worum es mir zu tun ist. Aber das Reisetagebuch stellt heute noch den anschaulichsten Ausdruck dessen dar, was ich vor den Südamerikanischen Meditationen zu zeigen und zu sagen hatte. Was es nicht expliziert, das impliziert es.

Möchte das Reisetagebuch nunmehr in weiteste Kreise dringen und als das wirken, was es sein soll und ist: die Bekenntnisschrift eines rastlos Strebenden, für den es kein letztes Wort auf dieser Erde gibt.

Darmstadt, am 29. Februar 1932 Hermann Keyserling
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
Vorwort
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