Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

I. Nach den Tropen

Im Indischen Ozean: Vom Verwenden fremder Gehirne

Ein Forscher, den sein Beruf durch alle Provinzen Indiens führt und ein hervorragender Kenner von Land und Leuten zu sein scheint, schlägt mir vor, mich ihm anzuschließen: so würde ich tieferen Einblick in das Inderleben gewinnen. Ich muss lächeln über das seltsame Verhältnis, dass eine bonne fortune wie diese mich, im Falle ich sie ausnützte, um den ganzen Zweck meiner Reise brächte. Was gehen mich die Tatsachen als solche an? Und wenn sie mich angingen, würde ich deshalb reisen? Überall sind Berufene schon gewesen, ihre Feststellungen liegen jedermann vor; die Beobachtungen, die ich persönlich anstellen könnte, hätten sicher weniger Wert als diejenigen anderer, besser hierzu veranlagter. Das selbst zu tun, was andere besser täten, ist Kräfteverschwendung und Zeitverlust. Junge, begabte Leute verkünden gern: der Mensch muss alles können. Er kann aber nun einmal nicht alles, und was er wirklich kann, das leidet unter der Zerstreuung der Aufmerksamkeit. Es ist merkwürdig, dass von allen Menschentypen die politischen allein, die doch sonst die am wenigsten metaphysisch-besonnenen sind, zwischen sich und dem verwandten Gehirn zu scheiden wissen; ihnen allein gilt es gleich, wer eine Arbeit praktisch leistet, wenn sie nur gut geleistet wird. Der Philosoph aber schämt sich meist der bloßen Möglichkeit, dass sein Gehirn nicht allvermögend sein könnte, und statt durch richtige Selbsteinschätzung seine Leistung aufs äußerste zu steigern, indem er das selbst vornimmt, wozu er Organe besitzt, zur Bewältigung ihm weniger liegender Probleme jedoch geeignetere Gehirne verwendet, verdirbt er sein Werk durch die Vorspiegelung, er sei der liebe Herrgott in Person. Diese Schutzgebärde der Eitelkeit kann ich bei kleinen Leuten gut verstehen; aber der Philosoph ist Organisator im ganz Großen, er könnte es sich leisten, innerlich freier zu sein. Nun, ich selbst bin es — so weit ich’s bin — auch erst seit gestern. Was habe ich nicht alles unternommen in den ersten Zeiten des Flüggeseins! Die Jahre machen einen weiser. Heute ziehe ich die Augen anderer meinen eigenen vor, wenn es gilt, exakt zu beobachten; wo ein Experiment durch die Eindrucksfähigkeit des Experimentators an Beweiskraft verlieren könnte, ersetze ich mein Nervensystem durch ein robusteres; ist eine logische Kette zu konstruieren, um eine erkannte Prämisse mit einem erahnten Ergebnis zu verbinden, so überlasse ich das, wo es immer geht, besseren Logikern, als ich einer bin, und alle Intuitionen, die Spezialgebiete betreffen, gebe ich, sofern sie irgend beachtenswert erscheinen, als Anregungen den Herren vom Fache weiter. Ich für meine Person beschränke mich darauf, mich in den Sinn der Dinge zu versenken. Hierbei nun wirkt der Andrang zu vieler Tatsachen nicht fördernd, sondern hinderlich. Die Grundtöne einer Welt sind dem, der sie überhaupt heraushören kann, aus wenigen Akkorden vernehmlich; zuviel Musik verwirrt das Ohr.

Die Notwendigkeit der Beschränkung wird, was das Objekt betrifft, wohl von allen theoretisch anerkannt. Die wenigsten aber scheinen zu wissen, dass auch das Werkzeug, das Ich, der Beschränkung bedarf, vor allem bezüglich der Einflüsse, denen es ausgesetzt wird; daher verschreit man unsereinen so oft als Sonderling, Egoisten und Eigenbrötler. Mir z. B. wird es an Bord als Hochmut ausgelegt, dass ich mich von meinen Mitreisenden soweit als tunlich fernhalte. Die wahre Ursache ist die, dass ich mein spezifisches Geistesvermögen nur in vollendeter Abgeschiedenheit ausüben kann. Wenn ich leisten soll, wozu ich da bin, muss mein Nervensystem reingestimmt, die Aufmerksamkeit unbefangen, mein Gemüt seren sein; und diese Bedingungen sind ihrerseits an Vorbedingungen geknüpft. Es mag wohl sein, dass solche Rücksichtnahmen den Menschenwert auf die Dauer beeinträchtigen, aber dieser Einwand bedeutet nichts: der Geistesarbeiter muss so weit selbstlos sein, dass er die mögliche Schädigung auf sich nimmt; er muss um das Verhältnis durch eine mythisch-extreme Formulierung desto eindringlicher darzustellen — seine ewige Seligkeit zu verscherzen bereit sein, sofern er dank unheiligem Leben zu tieferen Erkenntnissen gelangt; er muss im selben Sinn ausschließlich seiner Aufgabe leben, wie eine gute Mutter ihrem Kind. Leider ist es ja nicht wahr, dass alle Vollkommenheiten in einer Richtung belegen seien; die Vollendung eines Werks erfordert andere Bedingungen als die persönlichen Daseins. Wo es nun zu wählen gilt zwischen einer mittelmäßigen Selbstverwirklichung im Leben und einer bedeutenden im Werk, ist diese jener vorzuziehen. Eine tiefe Erkenntnis, von einem unvollkommenen Menschen gefunden und ausgedrückt, kann der ganzen Menschheit zum Heil werden. Die menschliche Vollendung in dem Sinn über die anderen zu stellen, wie dies gemeiniglich geschieht, ist ein Beweis primitivsten Egoismus nicht allein, sondern auch grundsätzlichen Missverstehens. Wer lebt denn buchstäblich sich selbst, wer kann es tun? Keiner. Zwischen dem, der seiner persönlichen Vollendung lebt, seinem Werk, seinen Mitmenschen oder seinem Kinde, besteht vor Gott kein Unterschied. Jeder lebt einem Überindividuellen. Denn ja auch das, was wahrscheinlich den Tod überdauert, jenes Ich, dessen Unsterblichkeit der Christ postuliert, ist nicht die Person: es ist die Frucht, die sie nur austrägt und gebiert.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
I. Nach den Tropen
© 1998- Schule des Rades
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