Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

In den Himalayas: Spielregeln

Des Abends versammeln sich die Tibetaner gern bei Fackelschein zur Mummenschanz. Sie sind reich an Humor, wahre Meister der Pantomime und zumal wenn sie als Drachen verkleidet tanzen, so stilgerecht, dass jede Bewegung wie naturnotwendig wirkt, den Geist der Kreidezeit recht eigentlich zurückbeschwörend, dann stimme ich laut mit ein in den Applaus der Menge. — Es wirkt auf mich wie das Erlebnis eines Mythos, dieses nächtliche Spiel in der Bergwelt der Himalayas. Mir kommen die indischen Sagen vom Weltanfang und Weltende in den Sinn. Spielend, heißt es, und wie zum Spiel, hat Brahma die Welt erschaffen; ohne Zwang, ohne Absicht, ohne Vorbedacht, eben wie ein Kind, das spielt. Und im Spiel wird sie einmal vergehen. Am jüngsten Tag wird Shiva einen wilden Tanz beginnen, bacchantenhaft, jauchzend, immer frenetischer, bis schließlich das Universum zertanzt ist.

Wie sublim ist dieser Mythos! Wieviel größer als der vom bedachtsamen Greis, der sich sechs Tage lang absichtsvoll abmühte und dann am siebenten so sehr mit sich zufrieden war; der zum Schluss eine Generalabrechnung plant, bei der jeder Posten bis zum geringsten durchgenommen werden soll. Da lobe ich mir Brahma, den Spieler. Wahrscheinlich spricht der indische Mythos wahr. Hat diese Welt einen Anfang, liegt eine intelligente Ursache ihr zugrunde, dann muss sie zweck- und absichtslos entstanden sein, so wie im Dichtergeist das Kunstwerk entsteht. Nur in dem Fall kann sie als Meisterwerk gelten; vom Standpunkt jedes Zwecks, der nicht sie selbst wäre, ist sie verfehlt. Hat aber Brahma gespielt, als er die Welt erschuf, dann ist die Schöpfung freilich zu loben. Wie abwechselungsreich ist das Geschehen! Wie überraschungsvoll greift eines in das andere! Und wie so sinnvoll sind die Spielregeln erdacht!

Ist der Mensch nicht im Irrtum, indem er das Leben tragisch nimmt? Wäre es nicht das Höchste, wenn auch er sich wie Brahma verhalten könnte? Denn was unterscheidet das Spiel von der Arbeit? Nicht der Ernst dieser: ich kenne nichts Ernsthafteres, als die Art, wie echte Kinder spielen. Es ist das Zweckhafte der Arbeit gegenüber dem Absichtslosen des Spiels. Nun ist das Leben an sich vollkommen zweck- und absichtslos. Es ist ein reines Ausströmen, Wachsen, Geben, ein reines Streben nach immer vollerem Ausdruck, wobei Zweckvorstellungen und Zwecke nur hinderlich sind. Je ursprünglicher also ein Wesen, je wahrhafter, lebendiger, echter, desto mehr gleicht sein Dasein einem Spiel. So ist ein Götterdasein nur als Spiel zu denken.

Ich versetze mich in den Bewusstseinszustand hinein, der ihm entspräche: was fehlte mir, wenn ich so weit wäre? Ich stände über dem Schicksal, über der Sorge, über mir, über allem was mich anginge. Wie scharf ich auch hineinblickte in die Welt, nichts Übles könnte ich in ihr entdecken. So sah Shakespeare sie an in den Stimmungen, in der er die Komödien schuf. Die sind das Werk eines Gottes, keines Menschen; eines Wesens, für das es keine Tragik mehr gibt, dem Gesetz und Schicksal leere Worte sind, weil es nur mehr Spielregeln kennt

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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