Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

III. Indien

Calcutta

Es war bei den Tagores, in altertümlichem Palaste. Auf seidenen Teppichen lagerten die Musikanten und trugen auf seltsamen Lauten uralte Weisen vor. Ihre Musik ließ sich weder in den Rahmen einer Melodie einspannen, noch auf bestimmte Harmonien beziehen, noch nach eindeutigem Rhythmus zergliedern; sogar die Einzeltöne schwankten in ihren Umrissen. Dennoch stellte jedes vorgebliche Ganze eine wirkliche Einheit dar: die Einheit des Zustands, welcher andauert, bis er in einen andern übergeht. Die Theorie, fast möchte ich sagen: die Mythologie dieser Musik ist gar wundersam. Seit Urzeiten entsprechen bestimmte Tonfolgen bestimmten malerischen Themen; zu jedem Bildmotiv weiß der Kenner den korrespondierenden Rāg. Und jeder Rāg entspricht einer bestimmten Jahreszeit, und darf nur zu bestimmter Stunde gespielt werden. Es gibt Rāgs für jede Stunde des Tages und der Nacht. Wie gestern, dem Winterabend, auf meinen bestimmten Wunsch, eine Hochsommermittagsweise erklingen sollte, wurden die Musiker unruhig; sie konnten sich nicht vorstellen, wie das nur möglich sei.

Es ist nicht leicht, in Worten klar zu machen, was die indische Musik bedeutet, denn mit der unsrigen hat sie wenig gemein: sie ist wesentlich eines Sinnes mit dem indischen Tanz. Keine Absicht, keine umrissene Gestaltung, kein Anfang, kein Ende; ein Wallen und Wogen des ewigfließenden Lebensstroms. Daher die gleiche Wirkung auf den Hörer: sie ermüdet nicht, könnte ewig fortdauern, denn des Lebens wird keiner je satt. Aber was vom Nautsch mehr im allgemeinen gilt, ist in dieser Musik bis ins Feinste, Intimste durchgeführt. Nicht die Zeit überhaupt, sondern die bestimmten Zustände des Lebens erscheinen in ihr auf den Hintergrund der Ewigkeit hinausprojiziert.

Die Programm-Musik Europas irrt, wo sie Qualitäten, die nicht Musik sind, in Tönen darstellen will. Für musikalische Qualitäten gibt es keine Äquivalente in anderen Sphären; Musik kann nur unmittelbarer Ausdruck sein. Im Tristanvorspiel scheint das Verlaufen der Wogen auf dem Sande greifbar wiedergegeben, aber nur deshalb, weil der Hörer das Ufer vor Augen hat oder weiß, was er vorstellen soll; an sich entsprächen seine Harmonien dem Waldesrauschen schwerlich schlechter. Wirklich bringt diese Musik nur eine bestimmte Zuständlichkeit zum Ausdruck, die durch kein Gegenständliches zu definieren ist. Ebensowenig würde ein Sommermittags-Rāg mit Notwendigkeit die Vorstellung lähmender Hitze hervorzaubern. Aber das haben die Inder auch nie von ihm verlangt: der Sommermittagsrag soll seinem Gegenstand nur soweit entsprechen, dass er dem wirklichen Zustand, indem man ihn durchlebt, einen steigernden Spiegel vorhält — und das vermag Musik. Ein französischer Künstler hat einmal von der indischen, welche dies mehr als jede andere kann, bemerkt: c’est la musique da corps astral. Das, gerade das ist sie (sofern es ein Astralreich gibt, das den überlieferten Vorstellungen entspricht): eine weite, unermeßliche Welt, in welcher Zustände die Stelle der Gegenstände einnehmen. Man erlebt nichts bestimmtes, nichts Greifbares, indem man ihr lauscht, und doch fühlt man sich aufs Intensivste leben. Man hört eben, indem man dem Wechsel der Töne folgt, in Wahrheit sich selber zu. Man fühlt wie der Abend zur Nacht und die Nacht zum Tag wird, wie auf den taufrischen Morgen der lastende Mittag folgt, und anstatt stereotype Bilder an sich vorüberziehen zu sehen, die einem die Erfahrung so leicht verleiden, wird man sich im Spiegel der Töne der immer neuen Nuancen bewusst, mit denen das Leben auf die Reize der Welt reagiert. Wie soll einem die Zeit da lang werden? Wie soll einer es müde werden, zuzuhören? Da ich blind war, überraschte mich die Entdeckung, dass der Augenlose keine Langeweile kennt. Die Zeit, die wir sonst am Verhalten der Gegenstände abmessen, die sich selten so schnell verändern, als wir’s wünschten, wird jetzt am Wechsel der Vorstellungen abgeschätzt. Da nun die Seele unaufhaltsam produziert, rastlos Bilder auf Bilder häuft, kann kein Bewusstsein der Einförmigkeit aufkommen. Dieser Trost, den die Natur dem Erblindeten schenkt, hat die indische Musik zum Gemeingut aller gemacht, welche Ohren haben zu hören.

Es gibt Variationen zu jedem Rāg; diese heißen Rāginis, weibliche Rāgs, und solcher sind viele jedem männlichen zugewiesen. Deren Verhältnis zueinander prägt sich in der Musik höchst merkwürdig aus. Wohl handelt es sich zum Teil um musikalische Verwandtschaft, aber das Eigentliche des Verhältnisses der Rāgs zu den Rāginis erweist sich in der spezifischen Wirkung, in den besonderen Zuständen, die sie wecken. Frauen wirken nämlich anders als Männer. Die indische Musik liegt, was ihr Eigenstes betrifft, geradezu in einer anderen Dimension als die unsere. Unser Objektives existiert für sie kaum. Anschließende Töne sind nicht notwendig harmonisch verknüpft, Taktabteile fehlen, Tonart und Rhythmus wechseln immerfort; ein indisches Musikstück wäre, seinem wahren Charakter nach, in unserer Schrift nicht zu objektivieren. Das Objektive der indischen Musik, das einzig Bestimmende ist das, was in Europa subjektivem Ermessen überlassen bleibt: der Ausdruck, der Vortrag, der Anschlag. Sie ist reine Ursprünglichkeit, reine Subjektivität, ganz reine durée réelle, wie Bergson sagen würde, unbeeinträchtigt durch äußerliche Bindungen. Nur als Rhythmus ist sie allenfalls objektiv fassbar, wie denn der Rhythmus den Indifferenzpunkt gleichsam bezeichnet zwischen Gegen- und Zuständlichkeit. So ist diese Musik einerseits jedem verständlich, andrerseits aber nur dem seelisch Höchstgebildeten. Jedem insofern als jeder lebendig ist, und sie unmittelbares Leben verkörpert; nur dem Höchstgebildeten, als ihren geistigen Sinn nur der Yogi zu fassen vermag, der seine Seele kennt. Der Musikalische nimmt gegenüber dieser Kunst kaum eine Vorzugsstellung ein. Wohl aber tut es der Metaphysiken Der Metaphysiker ist ja der Mensch, der die Ursprünglichkeit des Lebens als solche im Geiste spiegelt, und eben das tut die indische Musik. Indem er ihr lauscht, vernimmt er sein eigenstes Wissen, herrlich wiedergeboren in der Welt der Sonorität. Sie ist in der Tat nur ein anderer farbigerer Ausdruck der Indischen Weisheit. Wer sie ganz verstehen will, muss sein Selbst realisiert haben, muss wissen, dass der Einzelne nur ein flüchtiger Ton ist in der Weltensymphonie, dass alles zusammengehört, nichts losgelöst werden kann; dass nichts Gegenständliches wesentlich mehr ist als ein Zustand, und kein Zustand mehr als ein Augenblicksbild des dunklen, stetig dahinfließenden Lebens. Er muss wissen, dass das Sein jenseits aller Gestaltung west, die nur dessen Ausdruck oder Abglanz ist, und dass die Erlösung darin besteht, sein Bewusstsein im Sein zu verankern. — So empfanden, so begriffen die Inder, deren Gast ich war, diese Musik. Die Vortragenden glichen Ekstatikern, die mit der Gottheit kommunizieren. Und die Hörer lauschten mit der Andacht, mit der man göttlicher Offenbarung lauscht.

Es war eine denkwürdige Nacht. In den hohen Saal, von altertümlichen Gemälden behangen, passten die edlen Gestalten der Tagores, mit den feinen, durchgeistigten Gesichtern, in den malerisch gefalteten Togas, prachtvoll hinein. Abenindranath, der Maler der Familie, ließ mich der Typen gedenken, die einstmals Alexandrien geziert haben; Rabindranath, der Poet, beeindruckte mich gar wie ein Gast aus einer höheren, geistigeren Welt. Nie vielleicht habe ich soviel vergeistigte Seelensubstanz in einem Manne verdichtet gesehen… Und nun übersehe ich mit einem Blick die indische Lebensgestaltung, die indische Weisheit und die indische Musik. Diese Musik ist, im Vergleich zur unserigen, monoton; oft umspannt eine lange Komposition nur wenige Töne, oft ist es eine einzige Note, die eine ganze Stimmung trägt. Das Eigentliche dieser Musik liegt anderswo; der Dimension der reinen Intensität; da bedarf es keiner weiten Oberfläche. — Auch die indische Metaphysik ist monoton. Sie spricht immer nur vom Einen, ohne ein Zweites, in dem Gott, Seele und Welt zusammenfließen, dem Einen, dass aller Vielheit innerstes Wesen ist. Auch sie meint ein rein Intensives, das Leben selbst, jenes letzte ganz Ungegenständliche, aus dem die Gegenstände gleich Einfällen hervorgehen. Vom Nicht-Extensiven ist in der Sprache der Extensität nur in Form des Einfachen zu reden, das Extensive als solches interessiert sie nicht. Aber das Eine hat keine Weisheit klarer erkannt als sie. — Und nun die Inder selbst. Auf das Wesenhafte allein bedacht, haben sie der Erscheinung wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Diese hat bald vegetationsartig gewuchert, bald kümmerlich ihr Leben gefristet, ununterstützt vom bewussten Geist. So fehlt es der indischen Persönlichkeit auffallend an Weite und Breite. Sie wirkt sogar im Höchstfall als arm im Vergleich mit gleichwertigen aus dem Westen. Dafür kennt sie Modulationen in der Intensität, eine Mannigfaltigkeit in der Tiefendimension, wie keine sonst. Von aller Lyrik dieser Zeit verkörpert die Rabindranath Tagores die farbenreichste, farbenprächtigste Tiefe.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
III. Indien
© 1998- Schule des Rades
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