Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

IV. Nach dem fernen Osten

Penang

Die Vegetation der malayischen Halbinsel beeindruckt mich, als sähe ich ihresgleichen zum erstenmal. Voll Entzücken betrachte ich die naive Selbstsicherheit der Schößlinge, die kluge Geschmeidigkeit der Schlingpflanzen, das sanftausdauernde Werben der Blätter um einen Platz am Licht — jenes wundersame tropische Vegetieren, das in der Stille den Eindruck größerer Bewegtheit macht, als die Unrast einer Menschenmenge. Wohl fehlen, dank der überstarken Belichtung, die Farben- und Formnuancen, von dem die Schönheit eines Waldes im Norden abhängen würde; nur mit Mühe gelingt es, aus dem Grün eine Einzelgestalt herauszulösen. Aber gerade deshalb lebt das ganze desto mehr; im ganzen geht alles Einzeldasein auf. Wie tausend Bächlein zusammen einen Strom ergeben, so spürt man in den Tropen die Natur als unteilbare grandiose Lebenseinheit. Diese Flora ist unwahrscheinlich reich, üppiger noch als die von Ceylon. Und schöner ist sie insofern, als hier hochragende Stämme wieder und wieder die Wirrsal des Dschungels durchsetzen, so dass das zügellose Wuchern der Gewächse als Füllung einer klaren Umrisszeichnung wirkt. Zumal das lichte Grau der abgestorbenen Baumriesen hilft dem Auge das Grün übersehen. Hier hat der Tod gleichsam die Taktstriche eingezeichnet in eine sonst allzu verwobene Partitur.

Welch’ wundersamen Zauber besitzt die Pflanzenwelt! Die stille, wie unvermeidliche Vollendung, das selbstverständlich-harmonische Zusammenbestehen, die bewusstlose Schönheit der Gewächse, ja ihr problemloses Dasein als solches, welches trotzdem das Lebensproblem vollkommen löst, wirkt auf mich allemal wie die Versicherung, dass auch ich meinem Ziele nicht mehr fern bin. Ich selber wurzele ja tief im Pflanzenleben, so kann ich es verstehen; es ist der beharrende Unterbau meiner Bewegtheit. Und je mehr ich mir dessen bewusst bin, desto geborgener fühle ich mich. Hier nun hüllen mich die freundlichen Gewächse beinahe stürmisch in ihre Wesensluft ein. Sie reden mir zu, dass ich die Gewissheit schon habe, nach der ich blind kämpfend noch immer suche, dass ich ja schon am Ziele bin, dass alles zum besten steht. — Wie sollte gerade der tätige Mann an der Pflanze nicht seine liebste Ergänzung finden? Fürst Bismarck weilte nirgends so gern wie im friedvollen Sachsenwald. Man redet von trotzigen Eichen, hehren Fichten: solche Bezeichnungen sind nicht gegenständlich. Das für uns Wesentliche an der Pflanze ist gerade, dass kein Wort noch Begriff aus dem tätigen Mannesleben auf sie übertragen werden kann. Aber dem Frauenleben ist sie vergleichbar, oder genauer gesagt: das Leben der Frau hat mit dem der Pflanze Ähnlichkeit; es ist ein gleiches Motiv, das den kämpfenden Mann zur stillen Frau und zur gleichmütigen Pflanze zieht. In beiden tritt die Modalität des Lebens zutage, die von vornherein am Ziele ist; die ist es, nach der seine rastlose Seele sich sehnt. So haben wir Männer denn auch, so lange wir zu bestimmen hatten, das Vegetative bei der Frau akzentuiert. Des aktiven energischtätigen Weibes bedürfen wir nicht.

Dieser Planet muss wonnig gewesen sein dazumal, als die Pflanzenwelt auf ihm noch dominierte. War es nötig, dass das Leben überhaupt den schweren Gang tätigen Werdens antrat? Dem Sinne nach weiter als die Rose wird kein Übermensch jemals gelangen. Wozu die beschwerliche Spirale? Diese Frage, die ich so oft verstimmt gestellt, wenn ich von der Spitze eines endlich erstiegenen Turms auf die verflachte Landschaft niederschaute, ich stelle sie heute voll Wehmut. Ich weiß es: der Aufstieg ist unser Schicksal; ich selber würde verzweifeln, wenn ich rasten sollte. Aber wenn ich an die Aussicht zurückdenke, die sich auf den frühesten Stufen vor mir entrollte, an die Freuden, die mir das Leben damals bot, dann bedauere ich es doch, dass ich habe aufsteigen müssen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
IV. Nach dem fernen Osten
© 1998- Schule des Rades
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