Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Canton: Formensinn

Immer mehr frappiert mich die unerhörte Formen- und Farbenschönheit der Straßen Cantons; höchste Sinnenkultur spricht aus aller Gestaltung; kaum ein Nutzgegenstand, kaum eine Arabeske, die in der Idee nicht künstlerisch wertvoll wäre, so oft die Ausführung versagt. Nach Sonnenuntergang aber wirkt die Stadt wie eine Féerie, wie eine ungeheure Symphonie in Schwarz und Gold. Überall heben sich vom schwarzen Grunde der Nacht schöngeformte Lichtkörper ab, allenthalben leuchten feurige Ideogramme.

An diesen könnte ich mich nimmer satt sehen. Sie sind dermaßen schön in der Form, dass chinesische Straßen allein dank ihren Reklame- und Ladenschildern das Auge entzücken. Wie sollte hier Schreiben und Malen nicht gleich geachtet werden? Schon der Idee nach steckt in den Hieroglyphen höchste Kunst; und um sie so darzustellen, wie dies immer verlangt wird und häufig geschieht, bedarf es der Hand eines echten Künstlers. Für eine schöne Handschrift wird von Kennern oft ebensoviel bezahlt, wie für ein Meisterwerk der Malerei.

Ich gehe schwerlich fehl, wenn ich das hohe Kulturniveau der Chinesen, was die sichtbare Form betrifft, zum sehr großen Teil auf das Dasein ihres Schriftsystems zurückführe. Nicht nur leben sie alle von klein auf in einer Umgebung, die den Formensinn ausbilden muss — es bedeutet eine Lebensnotwendigkeit für sie, auf die Form genau acht zu geben. Eine chinesische Sprache im vokalen Sinn gibt es nicht; in jeder Region wird ein besonderer Dialekt gesprochen, der eine vom anderen oft nicht weniger verschieden, als es das englische vom deutschen ist. Nun benutzen aber alle Chinesen gleiche Schriftzeichen und können sich vermittelst ihrer noch dort verständigen, wo sie mündlich übereinander hinwegreden würden: wie sollte die Buchstabenschrift da nicht gründlich studiert werden? Ist dieses nun geschehen, dann ergeben sich weitere Vorteile von selbst. Die wesentliche Schönheit der Ideogramme bildet unwillkürlich den Geschmack, desto mehr als es für ungezogen gilt, nicht kalligraphisch schön zu schreiben, und die Notwendigkeit, eine große Anzahl solcher, deren Kennzeichen oft in winzigen Details besteht, augenblicklich voneinander zu unterscheiden, schärft Auge und Blick. Die Unfähigkeit gebildeter Chinesen, etwas Häßliches hervorzubringen, und der unerreicht hohe Formensinn, welchen die Masse in China besitzt, sind ohne Zweifel die unmittelbare Folge der Herrschaft dieses Schriftsystems.

Aber dessen Vorzüge sind mit den aufgezählten nicht erschöpft; ich bewundere es vor allem um seiner geistigen Bedeutung willen. Ein Gedanke kann innerhalb seiner meist nur symbolisch ausgedrückt werden, nicht gegenständlich oder an und für sich; es wird ein Beziehungssymbol hingemalt, aus dessen Zusammenhang mit an- oder nebenstehenden sich der Sinn des Gemeinten ergibt. Unter solchen Umständen ist es erstens unmöglich zu lesen, ohne dabei zu denken; hierher rührt das überraschende Kombinationsvermögen noch so niedriggestellter Chinesen, die aber des Lesens und Schreibens noch mächtig sind. Dann aber lässt sich vermittelst der Ideogramme viel mehr sagen, als mit artikulierteren Ausdrucksmitteln. Nur Leute, die nie einen tiefen Gedanken gefasst haben, behaupten, was man meint, das wisse man unter allen Umständen zu bestimmen; die Sprache gibt es nicht, die das Wunder ermöglichte; jede Epoche hat ihre spezifischen Schranken, aus welchen kein Genius ausbrechen kann, außerdem aber jede besondere Sprache an und für sich. Und dass je eine erfunden werden sollte, in welcher sich alles wird gegenständlich aussprechen lassen, scheint desto unwahrscheinlicher, als die Entwickelungstendenz aller der Expliziertheit und damit der Verarmung zustrebt; im Französischen lässt sich nicht ebensoviel sagen wie im Deutschen, im modernen Englisch nicht so viel als in dem des elisabethanischen Zeitalters. Soviel gilt schon davon, was sich, prinzipiell gesprochen, explizieren lässt: was aber von dem, was über alle möglichen Ausdrucksformen hinausgeht, und doch das Wirklichste vom Wirklichen ist — den Objekten des metaphysischen Sinnens und des innerlichst-religiösen Erlebens? die sind in unseren Sprachen schlechterdings nicht darstellbar. Aber sie sind es in der chinesischen Schrift. Es ist möglich, Beziehungssymbole auf die Weise nebeneinanderzustellen, dass sie das Unendliche sowohl einschließen als qualifizieren, wie ein offener Winkel den unendlichen Raum definiert. Wo ein Wissender diese Zeichen vor sich sieht, weiß er sofort was gemeint ist und erfährt, wo er es nicht vordem wusste, mehr, als die längste Auseinandersetzung ihn lehren könnte. Ein Beispiel. Der ganze Konfuzianismus ist in drei (im Zusammenhang zu lesenden) Symbolen darstellbar, wovon das erste sich konzentrieren, sich anstrengen bedeutet, das zweite Mittelpunkt, und das dritte Harmonie nach außen zu. Damit ist wirklich alles ausgesprochen, was in den vier Büchern enthalten ist, außer dem aber das, was dem Konfuzianismus in der Idee zugrunde liegt, dessen Begründer aber wahrscheinlich gar nicht gewusst hat. Was, in der Tat, vermöchte ein Sterblicher mehr, als sich vollkommen zu verinnerlichen durch äußerste Anspannung seiner Seelenkräfte, und die erreichte

Verinnerlichung in der Harmonie der äußeren Erscheinung auszuprägen? Das ist nicht nur die Essenz des Konfuzianismus, das ist mehr, als Konfuzius je geahnt hat, das höchste Ideal menschlichen Strebens überhaupt. O, wenn ich doch chinesisch zu schreiben verstünde! gern gäbe ich dann alle anderen Ausdrucksmittel preis. Nachdem alle Worte verweht sind, werden selige Geister in Fragmenten chinesischer Graphik noch die Wahrheit von Angesicht schauen

K a l i g r a p h i eDie chinesische Ausdrucksweise ist nicht gegenständlich sondern suggestiv, setzt also einen sympathetischen Hörer oder Leser voraus, wie die uneigentliche Ausdrucksweise von Frauen. Das ist in vielen Hinsichten ein Übelstand: nicht allein, dass er praktische Abmachungen erschwert — ohne Zweifel ist es weniger, anzudeuten als deutlich auszusprechen was man meint; unsere auf suggestive Wirkungen hinzielenden Dichter und Schriftsteller stehen denn auch nicht über sondern unter den expliziten, so Stéphane Mallarmé unter Baudelaire. Besonders äußert sich dieser Übelstand in der Philosophie, deren eigentliche Aufgabe es ist, das deutlich zu machen, was alle vielleicht undeutlich ahnen. Dementsprechend sind wissenschaftliche Erkenntnisse in der chinesischen Schrift nur unvollkommen darstellbar. Dennoch wäre es verfehlt, dieser die Vorwürfe zu machen, welche die weibliche Ausdrucksweise Mallarmés verdient, denn die Ideogramme sind ein Ausdrucksmittel anderer Art als die Worte oder unsere Schrift: sie sind mathematischen Formeln vergleichbar. Solche mag der unzulänglich nennen, welcher töricht genug ist, zu verlangen, dass sie jedes bestimmte Ergebnis, dessen Gesetz sie bestimmen, an sich definierten: in Wahrheit sind sie genauer, als irgendeine sprachliche Fassung sein könnte, und umfassen überdies sehr viel mehr. Eben das gilt, sofern man sie zu lesen versteht, von den chinesischen Formulierungen. Allerdings bestimmen sie nicht unmittelbar, aber sie definieren das Mögliche so scharf, dass sich aus dem Zusammenhang mit anderen Möglichkeiten das Wirkliche eindeutig ergibt. So steht die chinesische Schriftsprache für viele Zwecke nicht unter sondern über der unseren, eben weil sie, gleich der Mathematik, Verhältnisse unmittelbar zum Ausdruck bringen kann, die aller sprachlichen Fassung entrinnen. Welcher Sinn steht denn vereinzelt da? Tausend Ober- und Untertöne klingen mit, die wir abtöten müssen, wenn wir klar sein wollen; die chinesische Schrift bleibt eindeutig, obgleich sie keinen Oberton dämpft. Dabei nimmt sie dem Wirklichen nichts von dessen Farbigkeit, wie dies das Verhängnis mathematischer Formeln ist. Alle Aussprüche chinesischer Weisen sind ausgezeichnet durch einen gewissen Zug zur Paradoxie. Das ist insofern wohl selbstverständlich, als alle Wahrheit dem Nicht-Wissenden paradox erscheinen muss und zumal abliegende nur in starker Kontrapunktierung darzustellen sind — aber es ist doch zugleich höchst merkwürdig wegen der Art der Paradoxie: sie ist humoristisch gefärbt; ich wüßte keinen Anspruch chinesischer Weisheit, über den ich in gewissen Stimmungen nicht herzlich lachen könnte. Woran liegt das? Wenn ich von der Nationalanlage absehe oder diese auf allgemeine Prinzipien zurückführe, so finde ich, dass in jenen Aussprüchen die Farbe freundlichen Lebens auf den Kosmos übertragen scheint. Humor ist ein überaus Tiefes; Humor hat der, welcher einen tieferfassten Gegensatz vom Standpunkt eines wohlwollend-serenen Gemütes zum Ausdruck zu bringen weiß. So fasst die chinesische Hieroglyphenschrift den ganzen Kosmos ein, und damit wird aus der mécanique céleste ein Epigramm.

So lange China sein Schriftsystem behält, besteht keine Gefahr, dass in einer Hinsicht zum mindesten der Sinn durch den Buchstaben ertötet wird: denn hier schafft die Bedeutung erst den Tatbestand. Ich glaube auch nicht, dass es je durch ein modernes verdrängt werden wird, wenn auch zu erwarten steht, dass China sich, gleich Japan, zu geschäftlichen Zwecken nebenbei ein handlicheres anlegen wird. Jedenfalls wäre es Torheit zu glauben, dass die Ersetzung der chinesischen Schrift durch die unsere einen Fortschritt bezeichnen würde, denn was man Fortschritt heißt, ist nicht Sieg des Geistes über die Materie sondern dessen Gegenteil. Was könnte wohl einen größeren Triumph der Materie bedeuten, als dass der Geist gezwungen wird, sich ganz ihr anzupassen?

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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