Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Durch Shantung: Unendlichkeit

Jetzt bin ich in Asien. Ich bin nicht mehr in dem Orient, der von Griechenland über Ägypten, Kleinasien und Persien bis nach Indien und Süd-China reicht; ich bin in dem Asien, das in Russland beginnt und alle Völker des weiten Binnenlandes zu einer großartigen Einheit verknüpft. Psychologisch ist der Russe dem Inder näher verwandt als dem Chinesen; in vielen Hinsichten schwingt die russische Seele unisono mit der alt-indischen, beide Völker stehen im gleichen Grundverhältnis zu Gott und Natur. Aber den Hintergrund hat der Russe mit dem Chinesen gemein. Der Hintergrund aller Asiaten ist die konkrete Unendlichkeit, die Unendlichkeit im Raum und in der Zeit. Den hat kein Europäer, kein Inder. Vergleicht man einen bedeutenden Deutschen mit einem ihm gleichwertigen Russen, so frappiert der weitere Hintergrund, von welchem dieser sich abhebt: das ist das Asiatische an ihm Hinter dem Europäer steht nie mehr als seine Geschichte, die ihm freilich, wo sie groß und reich und bedeutsam ist, ein Relief verleiht, wie kein anderer Mensch es besitzt. Aber dieser Hintergrund ist immerhin ein endlicher und die klarsten Umrisse ersetzen die Weite nicht. Hinter dem Orientalen steht die Legende oder das Märchen: das ist insofern mehr, als das Mögliche immer mehr als das Wirkliche ist, aber andrerseits doch weniger, da sich dran zweifeln lässt. Deshalb hat der Orientale etwas Irreelles: er wirkt wie ein quasimodogenitus, der zugleich unendlich alt wäre. Der Hintergrund des Asiaten ist die unermeßliche Natur, das endlose Weltgeschehen. So hat der Inder den Menschen wohl erschaut, aber seine Erkenntnis hat sich in Leben nicht umgesetzt; die Natur, die er so tief verstand, hat in concreto für ihn kaum existiert. Wie sehr existiert sie für den Russen! Keiner fühlt sich so eins mit ihr, wie der einfache Mushik, kein Künstler hat den Menschen so plastisch im Zusammenhang des Lebens dargestellt wie Leo Tolstoy. Die weiche, zarte Seele des Slaven steht in unmittelbarer Sympathie mit dem All, das ihm zum Hintergrunde dient. — Sympathievermögen in diesem Sinn besitzt der Chinese wohl nicht, der nüchtern-trockene; dennoch hat er den gleichen lebendigen Hintergrund. Bei ihm, dem sozialen Genie, tritt der Welt-Sinn in der Ordnung des Lebens zutage. Wer sonst ist darauf gekommen, die Zeremonien, die der Himmelssohn vollführt, den Ablauf der Jahreszeiten und das Gemeinschaftsleben in einem Zusammenhang zu sehen? Wer hat dieses auch nur annähernd so tief erfasst? Auch dem Chinesen erscheint es auf seine Art selbstverständlich, dass alles zusammenhängt. Der Asiate hat den Menschen der Natur nie fremd gegenübergestellt, sondern als Teil ihrer betrachtet. Wie ergreifend wirkt es in der Anna Karenina, dass der Tod der Heldin in ihr nicht anders beurteilt und dargestellt wird, als der des edlen Rennpferdes vorher! Wie großen Stil verleiht ihr nicht-anthropomorpher Charakter der chinesischen Kunst! Wohl ergibt es ein wunderschönes Bild, wenn die Natur so auf die Fläche gebannt wird, wie ein Homer und ein Goethe dies vermocht haben. Aber tiefsinniger ist wohl, zwischen Mensch und Natur nicht zu scheiden und beide von innen her als unauflösliche Einheit zu verstehen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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