Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

II. Ceylon

Kandy

Zauberhaft sind die Landschaftsbilder, die sich wieder und wieder vor dem entzückten Reisenden entrollen, den die Spirale der Bergbahn vom schwülen Colombo zum kühleren Kandy hinanführt. Der Reichtum der Flora ist überschwenglich allerorts, aber jede Höhenlage ist besonders bestanden, so dass das Auge bei weiteren Ausblicken nicht eine Natur, sondern viele Naturen auf einmal überschaut, die bald schroff gegeneinander abgrenzen, bald nuanciert ineinander übergehen, und überall in der vollkommenen Schönheit, die das vollkommen Sinngemäße auszeichnet. Und nun Kandy! Dieser friedliche See, umrahmt von dunkelgrünen Bergen, umstanden von Bäumen, die gleich Blumen blühen, eingebettet in üppigste Matten — dieser See mit seinen unsicheren, nebelhaften Farben, in dem das grelle Sonnenlicht sich nur wie im Echo widerspiegelt, wirkt wie ein Mondstein auf dunklem Sammetgrund. Wie ich ankam, ward ich dermaßen begeistert, dass ich alsbald einen langen Streifzug unternahm. Und wie ich dann heimkehrte und mich müde niederließ, in kosigem Liegestuhl auf schattigem Balkon, da dachte ich mir: du bist im Paradies. Hier sind alle, auch deine kühnsten Erwartungen übertroffen; deine maßlosesten Wünsche sind erfüllt. Jetzt solltest du vollkommen glücklich sein.

Bin ich’s? Es ist undankbar von mir, allein ich bin es nicht. Ich bin es nicht, gerade weil jeder Wunsch erfüllt erscheint. In der Erfüllung ist die Sehnsucht aufgehoben, und mit der Sehnsucht hört das Leben, das ich meine, auf; meine eigenste Lebensmöglichkeit fühle ich mir abgeschnitten. Noch nie habe ich in einer Welt geweilt, deren anregende Kraft geringer wäre. Im Augenblick regt sie mich natürlich an, doch das liegt nicht an ihr, sondern an dem, dass sie mir fremd ist und Sinne und Verstand immerfort zu neuem in Beziehung treten. Ich kann mir auch vorsteilen, dass maßlose Naturen, wie Gauguin und Stevenson, an ihr dauernde Anregung finden mochten, denn den Maßlosen befriedigt selbst das Übermaß nicht. Was mich aber betrifft, so bin ich des gewiss, dass meine Einbildungskraft hier bald erlahmen würde. Wo alles Erfüllung ist, erscheint der Sehnsucht der Boden entzogen.

Sehnsucht und Erfüllung! Enthält das normale Verhältnis dieses Begriffspaares nicht die Lösung des ganzen Problems, weswegen die gemäßigte, nicht die heiße Zone der Schauplatz aller Großtaten des Geistes gewesen ist? Wo alles vorhanden, dort sucht man nicht, und das Äußerste hat keiner je gefunden, der nicht ein Suchender gewesen wäre; wo alles gegeben, dort fehlt dem Willen der Ansporn, und aus der Trägheit geht keine Heldentat hervor; wo alles nur Mögliche verwirklicht ist, dort bleibt kein Idealismus lebendig. So tragen die originalen Schöpfungen des Tropengürtels allesamt seltsam ungeistige Züge. Im Tropenklima vegetiert, wie alles, auch die Phantasie. Wohl treibt sie manchmal wunderherrliche Blüten, bald wild-phantastisch, wie die volkstümlichen Göttermythen, bald duftigschwül, wie die Lyrik verfeinerter Hofdichter; sie bringt auch hie und da Gebilde hervor, die, gleich der Palme, fest und stark in der Linie sind. Aber alle diese Schöpfungen, so schön sie seien, verbleiben in der Sphäre des Naturhaften; sie sind nicht aus geistiger Tiefe neubeseelt, nicht aus dem Geiste wiedergeboren. Sie sind Geistesausdruck nur im Sinn der Blume. Die Natur als solche kann eben, so üppig sie sei, zu den Höhen der Geistigkeit nicht hinanwachsen; dorthin gelangt nur der Mensch, der sich in kraftvoller Anstrengung über die Sphäre seines Ursprungs hinauferhob. Aber dem Tropenbewohner fehlt der Anlass, sich anzustrengen, denn alles Mögliche geschieht ja schon von selbst. Und zum Begehren des Unmöglichen fehlt ihm die Energie.

Sein Bewusstsein muss erschrecklich arm sein. Bewusst wird nur das, was nicht von selbst geschieht; wo alles automatisch verläuft, was bleibt? Er kann auch die Liebe nicht kennen. Was wir Liebe heißen, beruht rein auf Einbildungskraft. Wo der Wunsch dem Genuss, die Vorstellung der Wirklichkeit vorauseilt, dort entsteht jenes wundersame Gebilde, und es wird reicher und zarter und schöner, je weiter der Abstand zwischen Sehnsucht und Erfüllung ist. Daher hat die Liebe im Norden, wo der Geist gern im Traumlande weilt, so viel köstlichere Blüten getrieben als im Süden mit seinem größeren Wirklichkeitssinn. Je südlicher die Zone, die sie bewohnen, desto animalisch-sinnlicher sind die Menschen, desto weniger aktiv ist ihre Phantasie. Der Weg zwischen Sehnsucht und Erfüllung wird zuletzt so kurz, dass psychische Bildungen kaum entstehen können. Das Erleben geht über das Begehren nicht hinaus; es kommt nicht zu dem Dichtungsprozesse, welcher Liebe im nordischen Sinn zeugt. In den Tropen erscheint es selbstverständlich, dass die sich haben, die sich erotisch angezogen fühlen. Wo die indischen Dichter Sehnsucht schildern, da handelt es sich um den Schmerz getrennter Gatten, die im Genießen aussetzen müssen, nie um ein Sehnen nach dem Unerreichbaren, dem Unbekannten. Unser Sehnen kennen die Tropen nicht.

Nur eine Sehnsucht kann in ihnen Nahrung finden, lebendig bleiben und anwachsen, bis dass sie dasteht als weltbewegende Macht: die Sehnsucht aus der Fülle hinaus. Auch im Norden sind manchmal Geister aufgetaucht, die sich abweisend zur Wirklichkeit stellten, aber ihr Motiv war nie Befreiungsdrang, sondern Unbefriedigtheit mit dem Gebotenen. So fehlte ihrem Verneinen der tiefe Grund; es ist im großen nie produktiv geworden. In den Tropen hat gerade die Sehnsucht hinaus aus der Welt sich als die schöpferischste bewährt; sie allein hat das Tiefste im Menschen an die Oberfläche gebracht, denn sie allein wurzelt in der Tiefe. In der Tat, wo nichts zu wünschen übrig bleibt, dort beengt die Fülle ebenso, wie sonst der Mangel; sie hindert die Kraftentfaltung, schwächt das Lebensgefühl, droht das Selbstbewusstsein zu ersticken. Gerade der Kraftvolle ist dort am weltfeindlichsten. So kommt es, dass eben die Lehren, die bei uns als die schwächlichsten wirken, als Ausgeburten verkommenden Lebens, die Lehren von dem Unwerte des Daseins, in den Tropen Kraftfülle atmen. Dass hier Geist nur da gewaltig am Werke erscheint, wo es nicht Wirklichkeit zu schaffen, sondern zu verneinen gilt. — Die Mondsichel spiegelt sich im See. In den Palmenwipfeln zirpen tausend Insektenstimmen. Wie ich mich nach dem Nirwana sehne! Nach einem Dasein, wo die Schöpfung nicht übermächtig wäre, wo die Natur den Geist nicht überwucherte! Nach einem Zustand des nichtindividuellen, nicht-bestimmten Seins, in dem ich frei wäre von allem, was mich bindet, von Freud und Leid, von Göttern und von Menschen, und von mir selbst…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
II. Ceylon
© 1998- Schule des Rades
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