Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Chinesische Religiosität

Die Ähnlichkeit zwischen dem konfuzianischen und dem protestantischen Menschen ist wirklich frappant. Die Nüchternheit, die Verständigkeit des Chinesen, seine Unplastizität, seine seelische Trockenheit finden sich in nur wenig veränderter Gestalt im protestantischen Europa und Amerika wieder. In beiden Fällen fußt die Weltanschauung auf einem seltsamen Gemisch von Autoritätenglauben und Selbstbestimmung; beide Typen sind ausgezeichnet durch auffallende seelische Undifferenziertheit und eine gleich auffallende Gestaltungskraft nach außen zu. Die Psyche des gebildeten Katholiken ist ja, so paradox dies dem Aufgeklärten klingen mag, viel reicher als die des Protestanten; die Erziehung durch ein System, wie das katholische, das den vielfältigsten Regungen der Seele Rechnung trägt und allen Verständnis entgegenbringt, dessen Formen gehaltschaffend sind und umgekehrt Formensinn erzeugen, kann nicht umhin, die Seele zu entfalten; während der unkomplizierte und grobe dogmatische Unterbau des Protestantismus dem Menschen wohl einen starken moralischen Halt und einen einzigartigen Ansporn zur Betätigung gibt, aber sehr wenig Selbsterkenntnis und fast gar keine psychische Bildung. Der Chinese ist in eben dem Sinne dem Inder unterlegen, wie es der Protestant dem Katholiken ist. Es ist außerordentlich langweilig, mit Chinesen über psychologische und metaphysische Probleme zu verhandeln. Immer wieder kommen sie einem mit den konfuzianischen Grundprinzipien, wie Pastoren mit der augsburgischen Konfession; sie scheinen unfähig, sowohl psychische Tatsachen als solche ins Auge zu fassen, als den metaphysischen Sinn der Gestaltung als mögliches Problem zu erkennen; ihr Verständnis für das Religiöse gar ist minimal. Gleich der durchschnittlichlutherischen bedeutet auch die durchschnittlich-chinesische Religiosität nicht mehr als das feste Glauben an bestimmte Offenbarungstatsachen und das feste Befolgen einer bestimmten Lebensroutine; ein echtes religiöses Erleben kennen sie nicht. Auch die konfuzianische Kirche (sofern solche Bezeichnung statthaft ist) ist, gleich der lutherischen, eines Sinnes mit der Obrigkeit. Aber freilich: im gleichen Sinne, wie die Protestanten den Katholiken, sind die Chinesen den Indern auch überlegen. Ich kenne wenig Roheres, geistig Unbefriedigenderes, als die Glaubensvorstellungen des Calvinismus; der Glaube des katholischen Köhlers steht geistig höher als der des gebildeten Puritaners: dennoch hat dieser einen Menschentypus erschaffen, der an moralischem Wert alle übrigen christlichen schlägt. Zum tätigen Leben kommt es eben nicht auf umfassende Einsicht, sondern einen möglichst eindeutigen Charakter an, und einen solchen schafft eine simplistische Lehre am ehesten. So sind die Chinesen eben deshalb moralisch so fabelhaft gebildet, weil sie sich über das Moralische nur wenig den Kopf zerbrechen und statt dessen die konfuzianischen Grundsätze, die freilich ewige Wahrheiten zum Ausdruck bringen, von sich ganz haben Besitz ergreifen lassen. Solche Methode macht uninteressant, allerdings; aber sie macht tüchtig.

So viel zum Problem des Glaubens. Was nun das Postulat der Selbstbestimmung angeht, so gilt auch das in China nicht minder als bei uns. Nur scheint es mir in der konfuzianischen Welt auf einer höheren Stufe ins Leben einzugreifen. Bei uns äußert sich das Bekenntnis zum Ideal der Autonomie gar leicht dahin, dass der Mensch nichts anerkennen will, was er nicht versteht, wemzufolge er die Abstufungen in der Gesellschaft abweist und die Autorität auch dessen nicht gelten lässt, welcher nachweislich kompetenter ist als er. So günstig diese psychische Einstellung der Ausbildung der Initiative sei, so nachteilig ist sie der Kultur; wer keinem glaubt außer sich selbst, entäußert sich aller der Bildungsmöglichkeiten, welche die Erfahrung anderer enthält; er verschließt sich ferner dadurch, dass er die Schranken durchbricht, die seinem Streben von der Natur her gesetzt sind (denn es kommt doch sehr selten vor, dass einer zu größeren Dingen berufen ist, als ihm der angeborene Lebensrahmen zu vollbringen gestattete), recht eigentlich das Tor zur Vollendung, denn Vollendung ist nur innerhalb gegebener Grenzen möglich. Deshalb steht der noch so abergläubische Katholik kulturell so häufig höher als der Aufgeklärte. In China nun bedeutet Selbstbestimmung immer nur Selbstbestimmung innerhalb eines gegebenen Rahmens. Der Chinese denkt für sich selbst, urteilt für sich selbst, tut was ihm recht erscheint — aber nur innerhalb einer bestimmten Sphäre. Wer daraufhin an der Autonomie als Postulats des chinesischen Bewusstseins zweifeln sollte, der versuche es, chinesische Dienstboten so herumzukommandieren, wie dies mit europäischen üblich ist: er wird wenig Erfolg damit haben. Er wird entdecken, dass der chinesische Diener, bei allem Respekt, bei aller Dienstbeflissenheit und Treue, nur das tut, was er für richtig hält; er gehorcht nicht eigentlich in unserem Sinne: seine Stellung ist die eines Gehorchenden, aber innerhalb dieser ist er autonom; im einzelnen will er entscheiden können, was er zu tun und was zu lassen hat. Gleiches gilt, mutatis mutandis, von allen Berufen. — Meiner Ansicht nach ist hiermit im Prinzip des bestdenkbare Gleichgewichtsverhältnis zwischen Auto- und Heteronomie erreicht. Gott allein frommt absolute Autonomie. Der Mensch darf sich nur innerhalb von Grenzen selbst bestimmen, wenn er an seiner Seele nicht Schaden nehmen will, welche Grenzen enger und immer enger werden von oben nach unten zu.

Man darf die Parallele zwischen Konfuzianismus und Protestantismus nur nicht zu weit durchführen wollen; vielleicht bin ich schon zu weit gegangen darin; Ku Hung-Ming, mit dem ich letzthin häufig zusammenbin, und der in Vergleichen dieser Art wie wenige ausschweift, mag mich angesteckt haben. Zum Schluss denn noch einige Punkte, in bezug auf welche Konfuzianismus und Protestantismus ganz unvergleichbar erscheinen. Jenem fehlt das Pathos, das der Glaube an einen allmächtigen persönlichen Gott dem Protestantenleben verleiht. So heroisch Konfuzianer sein mögen — ihr Heroismus hat nie den grandiosen Zug, der den strenggläubigen Protestanten und Muslim auszeichnet; es handelt sich beim Konfuzianer auch im Höchstfall mehr um die Hartnäckigkeit des Prinzipienreiters als die Opferfreude eines großen Glaubens. Dieser Unterschied ist so groß, dass er das ganze Bild verändern würde, wenn nicht jenes Pathos den Protestanten unserer Tage ebenso fehlen würde, wie den Chinesen… Der zweite radikale Unterschied zwischen Konfuzianismus und Protestantismus geht auf den unkünstlerischen Charakter dieses zurück; der Protestantismus erkennt keinen Zusammenhang an zwischen religiösem und künstlerischem Erleben, schafft keine notwendige Beziehung zwischen Ausdrucksform und Gehalt. So hat der echte Protestant in der Regel wenig Formensinn. Der Konfuzianer besitzt solchen von allen Menschen vielleicht am meisten. So fand ich mich mit dem Mandarin, der mich jüngst zu den buddhistischen Klöstern begleitete und mich schier zur Verzweiflung brachte durch sein Unverständnis für Probleme der Religion, augenblicklich wieder, als ich mit ihm in seinem Haus, bei nicht endenwollenden Tassen Tees, über das Problem des Stils unterhandelte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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