Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Chinesische Kulturentwicklung

Viele Stunden jedes Tages verbringe ich mit Ku Hung-Ming und dessen Freunden und Anhängern. Der Mann ist überaus geistreich und so feurigen Temperamentes, dass ich manchesmal an einen Romanen gemahnt werde. Heute setzte er des Langen und Breiten auseinander, wie unrecht die Europäer, und besonders die Sinologen täten, die chinesische Kulturentwicklung ganz für sich, ohne Vergleich mit der okzidentalischen, zu betrachten: denn tatsächlich seien beide nach einem identischen Schema abgelaufen. In beiden habe es ein gleichsinniges Altertum und Mittelalter gegeben, Renaissance und Aufklärung, Reformation und Gegenreformation, in beiden hätten Hebraismus und Hellenismus (um mit Matthew Arnold zu reden), Rationalismus und Mystizismus abwechselnd vorgeherrscht; ja, die Parallele ließe sich bis ins Einzelne verfolgen: so hätte es z. B. auch in China einen Bayard gegeben. Ich kenne die chinesische Geschichte nicht genügend, um die Stichhaltigkeit der Vergleiche nachzuprüfen und habe Ku Hung-Ming, gleich den meisten seiner Landsleute, im Verdacht, einem etwas zu billigen, an den süditalienischen gemahnenden Intellektualismus zu huldigen. Aber soviel ist allerdings wahr: alle historischen Zustände sind durch besondere Umstände bedingte Sondererscheinungen der einheitlichen Naturformen des Menschenlebens, und da die möglichen Konstellationen von Umständen um einige wenige Typen herumschwanken, deren Folge einer Regel unterworfen scheint, so kann es nicht fehlen, dass alle Völker von vergleichbarer Anlage auch durch vergleichbare Stadien hindurchgehen. Nun sind West-Europäer und Chinesen durchaus vergleichbar; sie gehören in einer wesentlichen Hinsicht einem identischen Grundtypus an, dem des Ausdrucksmenschen, zu dem die Inder z. B. und die Russen nicht gehören. Also kann es nicht fehlen, dass sich in der Geschichte Parallelen nachweisen lassen. Immerhin stehe ich dem Wert solcher Vergleiche recht skeptisch gegenüber. Die Zeit mag einsinnig sein an sich selbst — sicher ist sie es nicht in bezug auf den Menschen; die Chinesen sind langatmig, wir kurzatmig, uns ist die Bewegtheit, jenen die Ruhe der Normalzustand: wie soll man da gegenständlich vergleichen? Wir brüsten uns unseren schnellen Fortschreitens: eben dank dem werden wir vielleicht auf immer Barbaren bleiben, da Vollendung nur innerhalb eines gegebenen Rahmens möglich ist und wir den unserigen fortwährend wechseln. Auch halte ich es noch nicht für ausgemacht, dass wir lange im gleichen Tempo fortschreiten werden: jede Lebensrichtung ist innerlich begrenzt, auch wir werden irgendeinmal am Ende sein, und wahrscheinlich früher als wir denken. Oft habe ich, zumal in, Indien, das Urteil vernommen: da alle Kulturen, die wir nachweisen können, in relativer Höhe anheben — und das ist richtig — so müsste als Grundlage derselben eine außerordentlich lange Zeitspanne langsamen Aufsteigens vorausgesetzt werden. Mitnichten. Jedem geistigen Einfall sind seine sämtlichen Konsequenzen nicht nur in der Theorie, sondern de facto eingebildet; sie drängen ins Aktuelle hinaus, verkörpern sich, wo der Stoff es nur irgend erlaubt, so dass, sobald der Geist überhaupt in Bewegung gerät, der Prozess mit großer Geschwindigkeit abläuft. Daher kommt es, dass, wo das Bewusstsein schlummert, Äonen vergehen mögen, bis irgend etwas Neues geschieht, sei es im Urzustand oder, wie in China, auf einer bestimmten einmal erreichten Kulturhöhe; wo es aber einmal erwacht ist, die Entwickelung ungeheuer schnell verläuft. Wie lange hat es gewährt vom Erwachen des Griechengeistes bis zu seiner Vollendung? hundert Jahre. Wie lange von der Entdeckung des Gleitflugprinzips bis zu seiner vollendeten praktischen Anwendung? keine zehn. Im gleichen Sinn mag es wohl sein, dass auch wir demnächst am Ende sein werden, Halt machend auf einer Entwickelungsstufe, die derjenigen Chinas nicht entfernt so weit voran sein wird, als wir erwarten. Denn im modernen Sinne fortschrittliche Menschen sind ja auch wir erst seit einem Jahrhundert.

Ku Hung-Ming lässt übrigens keine Gelegenheit verstreichen, wo er Laotse eins am Zeuge flicken kann. Seine Grundthese ist die, dass Konfuzius deshalb der sehr viel Größere sei, weil er den Sinn ebenso tief verstanden habe wie jener, sich aber nicht zurückgezogen habe aus der Welt, sondern in ihrer Meisterung seine Tiefe zum Ausdruck gebracht hätte. Wenn Konfuzius das wirklich gewesen wäre und geleistet hätte, was Ku von ihm behauptet, dann wäre er freilich der ungleich Größere. Allein das war er nicht. Es scheint den Naturnormen zu widersprechen, dass ein gleicher Mensch ganz in der Tiefe lebte und sich als mächtiger Gestalter der Oberfläche erwiese; zu jeder dieser Aufgaben bedarf es einer besonderen physiologischen Organisation und ich wüßte von keinem beglaubigten Fall, wo ein Mensch beide in gleichem Maße besessen hätte. Kung Fu Tse und Lao Tse stellen die entgegengesetzten Pole möglicher Vollendung dar; jener die Vollendung in der Erscheinung, dieser die Vollendung im Sinn; jener diejenige im Gestalteten, dieser die im Ungestalteten; daher sind sie mit einem Maße nicht zu messen. Aber freilich muss Konfuzius den Chinesen größer erscheinen, weil sie als Nation extreme Praktiker sind und insofern zum Tiefen als solchen kein unmittelbares Verhältnis haben. Je mehr ich von den Chinesen sehe, desto mehr fällt mir auf, wie uninteressant ihre Gedanken sind. Das Denken ist eben nicht ihr Eigentliches: ihr Dasein ist der Ausdruck ihrer Tiefe. So ist auch Ku Hung-Ming als Mensch viel bedeutender denn als Schriftsteller und Denker.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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