Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Irreligiosität der Chinesen

Überhaupt fehlt es hier, was immer von der Irreligiosität der Chinesen behauptet wird, nicht an Männern und an Vereinen, die ihre Kraft in den Dienst einer religiösen Erneuerung Chinas gestellt haben. Dennoch kann ich jetzt vollkommen verstehen, dass die Missionare die Chinesen als irreligiös beurteilen: denn kirchlich-religiös ist keiner, selbst unter den eifrigsten Reformern nicht; keiner scheint einer neuen Konfession zum Siege verhelfen zu wollen. Wahrscheinlich ist solches Militieren dem Chinesentemperamente zuwider: so intransigent-konservativ der Konfuzianismus gesinnt sei — praktisch hat er den Buddhismus so bekämpft und schließlich überwunden, dass er die fremde Lehre in sich hineinbezog, dass er behauptete, sie sei ein Ausdruck eben seiner, der konfuzianischen Weltauffassung. Wohl sind von Zeit zu Zeit Verfolger und Eiferer aufgetreten, und man hat sie gewähren lassen, wie alles in diesem Reich, bis dass sie von selber aufhörten; aber der durchschnittliche gebildete Chinese ist nicht weniger tolerant als der Inder. Immer muss ich an ein Gespräch zurückdenken, das ich mit einem ungewöhnlich eifrigen, polternden alten Konfuziuspriester hatte: freilich, sagte er, sei der Konfuzianismus der absolut vollkommene Ausdruck für die Wahrheit; aber die Wahrheit an sich, dem inneren Sinn nach, besäßen wir Christen selbstverständlich auch; darüber sei kein Wort zu verlieren. Man halte solche Gesinnung der eines lutherischen Pastors gegenüber, der mit einem Katholiken zu verhandeln hätte!

Die neuen religiösen Stimmungen in China scheinen mir nun ganz wesentlich durch ihr Akonfessionelles, durch ihre Unkirchlichkeit ausgezeichnet. Das ist die natürliche Folge jener typischchinesischen Auffassung, auf die ich schon in Kanton hinwies, dass die Kirche als Anstalt betrachtet wird, als eine praktische, äußerliche Institution, die mit der religiösen Gesinnung nichts innerlich zu schaffen hat. Wie protestantisch ist auch dieser Zug! Dem Protestantismus war die Kirche immer eine Anstalt, von Gott eingesetzt, um die Welt in Ordnung zu erhalten; so konnte es nicht fehlen, dass jede Neubildung im Zeichen der Innerlichkeit die Tendenz zur Loslösung von der Kirche in sich trug, was innerhalb des Katholizismus, dem der Kult ein Innerliches bedeutet, nie der Fall war. Was im Schoß des christlichen Protestantismus wohl mehr und mehr geschieht, aber nur selten offen eingestanden wird, ist der selbstverständliche Weg des chinesischen. Hier sieht man, wie nüchterne Überlegung unter Umständen zum gleichen Ziel führen kann wie schöpferische Intuition. Unzweifelhaft ist das religiöse Gefühl beim Chinesen schwach entwickelt; dennoch hat er von allen Völkern vielleicht am klarsten erfasst, was für die Religion nicht wesentlich ist. Im Prinzip hat die Kirche mit der Religion tatsächlich gar nichts zu schaffen; die Verknüpfung dieser zwei Dinge ist (im begrifflichen Verstände) ein Sekundäres; Gottesdienst ist unter allen Umständen Magie. Nun ist Magie eine überaus wichtige Naturwissenschaft und in der Ausübung ein edles Kunstgewerbe, aber sie hat keine religiöse Bedeutung. Religiös sein heißt nach höchster Selbstverwirklichung streben; mit dem göttlichen Licht alle Erscheinung durchleuchten wollen. Solches Streben kann durch Magie gefördert werden, aber diese an sich bleibt ein rein Technisches. Wo nun die Grundanlage eine nüchterne ist, wie beim Chinesen und beim Nordeuropäer, wo überdies das Selbständigkeitsgefühl so hoch entwickelt ist, dass der Mensch nicht mehr Hilfe annehmen will, als er schlechterdings nicht entraten kann, dort führt die Entwickelung mit Unvermeidlichkeit immer weiter fort von der Magie; mithin von Kirche, Kult und Konfession.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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