Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Peking: Ideal der Norm

Weshalb erreicht der konfuzianische Mensch so oft einen so hohen Grad der Vollendung? diese Frage drängt sich mir mehr und mehr auf, mit je mehr gebildeten Chinesen ich zusammenkomme. Einen wahrhaft großen Mann, einen Edelen nach dem Sinn des Konfuzius, habe ich bisher wohl nicht kennen gelernt; von keinem meiner Bekannten kann ich behaupten, er hätte mir als Natur imponiert. Aber befremdlich viele unter den Herren stehen doch auf einer menschlichen Höhe, wie ich solcher in anderen Breiten nur ausnahmsweise begegnet bin. — Das muss wohl am Konfuzianismus liegen. Ich will diese düstere Dämmerstunde eines Tages, an welchem plündernde Soldaten ein Ausfahren nicht ratsam erscheinen lassen, mit der Durchdringung dieses Problems verbringen.

Der chinesische Idealmensch wird definiert durch das Kulturideal seiner Nation: das Ideal der Konkretisierung; der innerste Sinn soll in der Erscheinung erschöpfend zutage treten. Nun hat jeder Einzelne am Tao teil, und bezeichnet als besonderes Phänomen ein Glied der universalen Harmonie: also kann er sich selbst nur dann verwirklichen, wenn er im Einklang mit der Weltordnung handelt, und das will weiter sagen: indem er sein Leben strikt nach objektiven Normen regelt. Darf ich nun weiter voraussetzen, dass das Befolgen der Normen, die ich anerkenne, tatsächlich das höchste Maß von Selbstverwirklichung bedingt, dann kann nicht ausbleiben, dass ich, indem ich ihnen gemäß handele, vollendet werde, wer immer ich als Individuum sei. Hiermit wäre mein Problem wohl gelöst: der konfuzianische Mensch steht so häufig auf einer ungewöhnlich hohen Kulturstufe, weil sein höchstes Ideal ein Ideal der Norm ist, so dass jeder Normalmensch prinzipiell als berufen gilt, es zu verwirklichen; und weil ferner die gegebene Fassung des Ideals dem Chinesen unmittelbar den Weg zu seiner Verwirklichung weist.

Alle Völker und Religionen haben Ideale aufgestellt, welche allen vorbildlich sein sollen. Jeder von uns sollte Christus gleichkommen, jeder Inder wie Krishna oder Buddha sein. Aber jeder kann nicht zum Heiligen werden, er strebe noch so inbrünstig darnach, weil es hierzu einer besonderen Begabung bedarf, die er nicht hat, wemzufolge speziell die Christen es für ausgeschlossen halten, dass sie ihr höchstes Vorbild je erreichen könnten. So bleibt es praktisch in der Regel unwirksam. Wirkt es aber, so tut das den meisten nicht gut: keinem tut es gut, sein zu wollen, was zu seiner Natur nicht gemäß ist. Der katholische Priester ist in der Idee dem protestantischen unstreitig überlegen; der Geistliche sollte so weit sein, dass er versuchungslos im Zölibat leben kann, sein Geschlechtstrieb sollte restlos umgesetzt sein, aller natürlichen Bindungen sollte er entraten, rein für andere leben können. Aber in der Mehrzahl der Fälle kann er es nicht, um so seltener, als die religiöse Anlage ausnahmslos mit einer starken Sinnlichkeit zu paar geht, weswegen es gut war, dass mit der Reformation ein anderer, billigerer Priestertypus die offizielle Sanktion erhielt. Der konkrete Wert eines Ideals hängt schlechterdings davon ab, wie es sich zu den gegebenen Möglichkeiten verhält; nur solche, die zur Natur in günstigem Verhältnis stehen, die erreichbar sind im Prinzip — nur solche fördern. Letzteres nun trifft für die Chinesen in wundersamem Maße zu. Ihr Ideal setzt keine außerordentliche, sondern eine durchschnittliche Natur voraus, wie sie jeder sich zutrauen darf, realisiert sich in der vollendeten Ausbildung einer durchschnittlichen Anlage. So schreckt es a priori, keinen ab, ist keinem von Natur aus unerreichbar, verhilft vielmehr jedem, der ihm ernstlich nachstrebt, zur Verwirklichung dessen, was er ist. Es ist höchst merkwürdig, wie Konfuzius alles Abnorme einfach von sich weist. Er sagt:

Das Unerkennbare erkennen, Außerordentliches leisten; überhaupt Taten vollbringen, die den kommenden Jahrhunderten Bewunderung einflößten: das ist etwas, was ich nie versuchen würde. Und anderweitig: der Weg des Tao liegt nicht außerhalb oder abseits vom normalen Menschenleben.

Ausdrücklich rät er ab von einer Überschätzung des Ideals. Im Tschong Young sagt er:

jetzt weiß ich, weshalb wahrhaft moralisches Leben ein so seltenes ist; die Weisen halten das moralische Ideal für etwas Höheres als es tatsächlich ist, und die Toren wissen es nicht zu würdigen; die Edelen streben zu Hohes an, wollen hoch über ihr normales Selbst hinausleben, und die Unedlen sind nicht strebsam genug.

Konfuzius scheint ängstlich darum besorgt, dass das Ideal überschätzt werden könnte. Nicht der Himmelsstürmer sei der Idealmensch, sondern der, welcher das nächstliegende tut, der Bescheidene, der nur vorstellen will, wozu er berufen ist; nicht das Genie sei der höchste Mensch, sondern wer in seiner beliebig beanlagten, aber bis zum äußersten durchgebildeten Person die Norm vollkommen zum Ausdruck bringt, denn das Einzeldasein sei Spiegel der universalen Harmonie. Desto größeren Nachdruck legte er auf den Ausdruck. Ein Weiser, der innerlich hoch stehe, dürfe doch nicht als vollendet gelten: er müsse sich mit Würde geben; der Weise, welcher sich mit Würde gäbe, dürfe auch noch nicht als vollendet gelten: die Würde müsse zur Anmut sublimiert sein. Die Tiefe könne erst als Tiefe gelten, wenn sie die ganze Oberfläche durchleuchte. — Wie soll einer, dem die Lehre Kung Fu-Tse Gottes Wort ist, dessen Erziehung so angelegt ward, dass dieses Wort ihm sein eigenstes Lebensprinzip bedeutet, nicht den Weg zur Vollendung betreten? wie soll er, sintemalen dieses Wort tatsächlich die Essenz aller praktischen Lebensweisheit einschließt, der Vollendung nicht häufig nahe kommen? Jeder Normalmensch muss als Konfuzianer weiter gelangen, denn als Brahmane oder als Christ; nur die Unnormalen bleiben ungefördert. Der Unternormale bleibt tiefer unter der Norm zurück, als er unter christlichen Voraussetzungen bliebe, weil diese ihm mehr Hoffnung geben; die Entwickelung des Übernormalen wird gehemmt; und der Abnorme findet gar kein Verständnis. So sind unter Chinesen die Originale seltener als anderswo, die ungebildete Masse ist stumpfer, die gescheiterten Existenzen sind preisgegeben. Aber die Norm erreicht häufiger einen höheren Grad der Vollendung, als irgendwo in der ganzen Welt.

Ist die konfuzianische Alternative in einer Welt, die nun einmal nicht rund ist, nicht die bestmögliche, einmal gesetzt, dass es ein allgemeingültiges Ideal geben kann? — Vollendung ist das Äußerste, was Sterblichem anzustreben gewährt ist, also muss auf sie aller Nachdruck gelegt werden. Das ist auch das Humanste, was sich tun lässt, denn Vollendung ist jedem prinzipiell erreichbar, ferner das Weiseste insofern, als unter Voraussetzungen, die solche Entwickelung begünstigen, Menschen groß werden können, die es unter keinen anderen würden; man gedenke der Größe und Tiefe, welche unbedeutende Frauen manchmal auszeichnet, jener naiven unschuldigen Größe, vor der sich der weiseste Mann so gerne beugt. Und hier nun komme ich auf das letzte Moment, das entscheidend für den Konfuzianismus spricht: dieser schafft die potenziertesten Menschen. Fast immer ist das Wachstum der weiblichen Seele den äußeren Hemmungen des Familienlebens zu danken gewesen: im gleichen Sinn verdanken die Konfuzianer ihr hohes Menschheitsniveau ihrem ungeheuerlich starren System. Nie wären die Herren, die ich meine, in westlichen Breiten geboren und auferzogen, zu einer annähernd gleichen Durchbildung gelangt; diese danken sie ihrer statischen Weltanschauung. Nach chinesischen Begriffen steht das Weltall still; es ist vollkommen an sich, nicht zu vervollkommnen; so scheint im letzten nichts zu wollen möglich. Nun drängt aber das Leben unaufhaltsam aufwärts, bleibt ein progressiv-dynamisches Prinzip, auch wo es statisch gedeutet wird; so findet trotz allem ein Fortschreiten statt. Nur verläuft es nicht nach außen, sondern nach innen zu. Es kumuliert sich die psychische Energie, die in der Initiative keine Auslösung findet, weshalb durchschnittliche gebildete Chinesen durch eine innere Gespanntheit ausgezeichnet sind, wie im Westen nur hie und da ein Ausnahmemensch.

Die Chinesen danken ihre Überlegenheit ohne Zweifel dem konfuzianischen Ideal der Norm. Ein ersprießlicheres allgemeines Ideal lässt sich nicht denken. Auch dem Westen beginnt dies neuerdings deutlich zu werden: mehr und mehr wird von der öffentlichen Meinung das Normale dem Abnormen vorgezogen, das asketische oder Heroen-Ideal durch das der Naturgemäßheit ersetzt, die Vollendung über den Zustand gestellt. Die Kanonisierung, die Goethe fortschreitend in deutschen Landen erfährt, beruht zum großen Teil auf eben dem Umstände: von allen großen Männern, die wir haben, ist er am meisten Normalmensch gewesen, schließt er am wenigsten Existenzen aus. Wird der Konfuzianismus einmal zu uns gelangen? Unmöglich ist es nicht. Er ist die Weltanschauung der Norm und tief und wesentlich verstanden, dem Geiste und nicht dem Buchstaben nach aufgefasst, zweifelsohne die beste Weltanschauung für alle Massen. Über eines darf man sich aber keinen Illusionen hingeben: die Weltanschauung der Norm zieht nicht hinan, begünstigt keinen hohen Idealismus, steigert nicht. Alles, was den höchsten Stolz des Westens ausmacht, verdankt er dem, dass er Unmögliches begehrt hat; der Konfuzianer will immer nur das Mögliche. Hier muss man sich eben für eine von zwei Alternativen entscheiden: entweder man will den Übermenschen — dann nimmt man keine Rücksicht auf die Masse; so war es bis vor kurzem im Okzident; alle äußersten Ideale, die christlichen inbegriffen, waren auf eine auserwählte Minderheit zugeschnitten. Oder man will die Masse, wie sie ist, der Vollendung zuführen — dann sieht man von den höheren Typen ab. Es ist kaum zu bezweifeln, dass unsere demokratische Welt früh oder spät die letztere Alternative, deren Ideal der vollendete Normalmensch ist, ergreifen wird, falls sie sich überhaupt ein Vorbild konstruiert. Und das wird sie tun. Weniger als je ist sich die Menschheit heute dessen bewusst, dass die Ideale gar nicht Vorbilder sein sollen, die jeder Einzelne nachzuahmen hätte, sondern Verkörperungen der Grundtöne des Lebens, auf die hin jeder seine persönliche Note abstimmen soll; weniger denn je scheint sie heute reif dazu, das Postulat der Uniformität zu verleugnen und sich jenem höchsten Zustande zu nähern, wo jeder Ton nur als er selbst erklingen will, im harmonischen Verhältnis zu den Grundtönen, die ihrerseits mächtig und rein ertönten; ferner denn je ist das moderne Leben dem Ideal einer Symphonie… — Immerhin wäre es selbst dann, wenn das Ideal der Norm zum absoluten proklamiert würde, ein Fehler, den Konfuzianismus, so wie er ist, nach Europa einzuführen: um in Konfuzius die Norm idealisiert zu sehen, muss man Chinese sein. Nur Individuen von geringer Individualisiertheit können so viele Bestimmungen als allgemeingültig anerkennen, nur Geister von geringem Schwung der Phantasie durch ein so nüchternes Vorbild begeistert werden, nur Wesen von großer Ausdrucks- aber geringer Begriffsanlage an einem so dürftigen System Befriedigung finden. So seltsam dies lauten mag: je mehr Menschen, abstrakt verstanden, ein Ideal der Vollendung zuzuführen geschickt ist, desto weniger allgemeinvorbildlich erscheint der jeweilige konkrete Ausdruck. Christus und Buddha verkörpern wahre Menschheitsideale, so wenig ihnen die allermeisten unmittelbar nacheifern dürfen; Konfuzius kann nur Chinesen ein Vorbild sein; unsere Begeisterung weckt er nicht. Das spricht nicht gegen ihn, sondern beweist nur einmal mehr die Ausschließlichkeit alles Konkreten. Engländer verstehen unseren Goethe-Kultus schwer; es befremdet sie, dass ein ausgesprochener Pedant, ein umständlicher, schwerfälliger Kleinstädter einem Volk das menschlich Höchste bedeuten kann; und wirklich war Goethe unter anderem auch das, was jene an ihm auszusetzen finden. Aber in eben dem Sinn erscheint uns ungeheuerlich, dass England seinen Abgott an — Dr. Johnson fand; einem originellen, dickköpfigen Durchschnittsbriten, der mehr Vorurteile hatte, als irgendein Angelsachse nach ihm, dem Begründer jenes Voreingenommenheitskultus, der seither wie nichts anderes zur Charakteristik des englischen Mittelstandes gehört, dem roi des cuistres, wie Sainte-Beuve ihn treffend benannte, dem Manne, der wohl von allen, deren Erinnerung die Menschheit aufbewahrt, mit der größten, tiefsten Überzeugung am meisten Gemeinplätze ausgesprochen hat. — Das ist das Schicksal jedes konkretisierten Ideals der Norm.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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