Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

V. China

Shanghai: Ameisentum

Morgen verlasse ich das Reich der Mitte; was nehme ich mit von dannen? Belehrung mehr, als ich im Lauf von Jahren werde verarbeiten können. Dennoch fühle ich mich unbefriedigt: so viel China mir gegeben, verwandelt hat es mich nicht; ich scheide beinahe als der gleiche, als der ich kam. Entgegen meiner eigensten Veranlagung bin ich hier vom Anfang bis zum Ende Betrachter geblieben; so viel ich mich in die Chinesen hineinversetzt habe — die Periode des Andersseins scheint merkwürdig wenig für mich bedeutet zu haben. Wie seltsam: China hat mich doch mehr beeindruckt, als irgendein Land; es hat mich unermeßlich viel gelehrt; ich habe es überdies von Herzen liebgewonnen. Und doch scheide ich mit einem leichten Gefühl des Ressentiments.

Wenn ich nun nachdenke über dieses Gefühl, so komme ich bald genug auf seinen Grund. Ich habe von China im selben Sinne weniger gehabt als von anderen, objektiv uninteressanteren Ländern, wie Agra für mich bedeutungsarm gewesen ist im Vergleich zur Wildnis der Himalayas und alle Kunst überhaupt und von je im Vergleich zur Natur. Indem ich Menschenkunst, die höchste ausgenommen, betrachte, gelange ich nie aus meinen ursprünglichen Möglichkeiten hinaus; ich lerne wohl neue Sprachen reden, mich in bekannten besser ausdrücken, ich werde mir Seiten meiner selbst bewusst, über die ich sonst vielleicht hinwegfühlte — in meinem Menschentum mit seinen engen Grenzen bleibe ich befangen. Dieses typische Missgeschick nun hat mich in China in ungewöhnlichem Maße ereilt, weil die Chinesen von allen Menschen die — menschlichsten sind; sie haben es von allen am weitesten gebracht in der Ausprägung ihrer Eigenart. Und wenn sie andrerseits auch das Allgemein-Menschliche dem Eigentümlichen, und jenem das mehr-als-Menschliche in vielleicht unerreichtem Grade eingebildet haben, so bringt es doch gerade das Erschöpfende des Ausdrucks mit sich, dass das resultierende Bild ein solches der Allzumenschlichkeit ist. Die moralische Bildung so weit durchzuführen, dass die äußere Ordnung als notwendiges Ergebnis interferierenden freien Wollens erscheint, ist freilich ein Äußerstes — aber zugleich ein Allzumenschliches, denn nur Menschen vollenden sich in der sozialen Gemeinschaft. Das Gefühlsleben so weit zu stilisieren, dass ein objektives Ritual als entsprechender Ausdruck der subjektiven Impulse erscheint — das ist gleichfalls ein Äußerstes, aber auch gleichfalls ein Allzumenschliches: denn Urbanität kommt nur für Menschen in Frage. Wohl hat der Chinese, als der wurzelhafteste Mensch, von allen den universalsten Hintergrund, aber das Universale ist bei ihm ins Rein-Menschliche hineingepreßt, wodurch dieses in unerhörtem Grade potenziert erscheint. Nun bin auch ich, bis auf weiteres, ein Mensch; und weile ich in einer Atmosphäre potenzierter Menschlichkeit, so wird auch meine Beschränktheit potenziert. Ich laufe Gefahr, in meiner Eigenart auszukristallisieren und davor fürchte ich mich.

Wäre die chinesische Zivilisation wenigstens schwer verständlich als Phänomen, wie es die indische in hohem Grade ist, dann besäße sie trotzdem anregende Kraft. Ameisen müssen anderen Ameisen wohl uninteressant vorkommen, weil jede einzelne das Ameisentum so vollkommen erschöpft, wie eine Statue des Phidias die Möglichkeiten hellenischer Körperbildung, so dass keine der anderen etwas Neues bietet, — aber mich fördert ihre Anschauung doch, weil eine Einfühlung in das noch so Allzuameisenhafte mich immerhin aus dem Allzumenschlichen hinauszieht. Zu den Chinesen nun stehe ich wie eine Ameise zur anderen; von allen Nationen sind sie die unmittelbar verständlichste. Die Nüchternheit ihrer Grundveranlagung, das Vorherrschen des gesunden Menschenverstandes über der Phantasie, ihre Freude am Selbstverständlichen, ihr Kult für das klassische Ideal bedingen es, dass keine ihrer Gestaltungen, so verschnörkelt sie aus der Ferne besehen scheint, dem, der sie eindringlich betrachtet, die mindesten Verständnisschwierigkeiten bereitet. Es gibt kein chinesisches Ideal, das nicht jedem Menschen ein Vorbild sein könnte, es gibt sogar keine chinoiserie, der nicht jeder gerecht werden könnte. So gibt es auch nichts in der Atmosphäre der chinesischen Kultur, das den Geist als solchen anregte: sie bestärkt einen, im Gegenteil, in der Routine des Menschentums.

Freilich ist die chinesische Natur überaus großartig; die wenigen Male, da mich ihr Geist erfasste, bin ich innerlich gewaltig gefördert worden. Aber in China hat der Mensch, wie nirgends anderswo, die Natur in den Hintergrund gedrängt; hier herrscht die Kultur souverän. In Europa ist dies nicht halb so sehr der Fall, trotz der größeren Effikazität unserer Kulturmethoden, weil dort der Mensch, um die Natur zu beherrschen, sich in ihren Sinn hineinversetzt und dessen Äußerungen dadurch gesteigert Hat; in China sieht man intensivste Menschenkultur einem gleichsam inerten Boden aufgeprägt. Deshalb hilft die Anschauung der Natur nur ausnahmsweise »über das Menschliche hinaus. Wie tragisch, dass das Höchste an sich selbst den Geist nicht mehr anregt, sondern abstumpft! Die vollkommen ausgedrückte Urkraft spürt man nicht mehr, wo alle Möglichkeiten erschöpft sind, bleibt dem Geiste nichts zu wollen übrig. Der russische Mensch gilt dem heutigen Westeuropäer von allen als der ursprünglichste; das ist, weil er von allen begabten der unfertigste, dem Chinesen am meisten entgegengesetzt ist. Wesentlich ursprünglicher als dieser ist er nicht. Wenn ich in China etwas gelernt, so ist es dies, dass Vollendung die Spontaneität nicht zu beeinträchtigen braucht (so häufig sie es tut); der Zivilisierte braucht nicht unlebendiger zu sein als der Barbar. Der Anschein der wesentlichen Leblosigkeit geprägter Form rührt lediglich daher, dass sie den Beschauer nicht anregt. Pflanzen und Tieren spricht keiner Ursprünglichkeit ab, die doch in ihrer Sphäre vollendeter sind, als irgendein Mensch jemals war, eben weil sie ihn anregen; um sie zu verstehen, muss er von der Erscheinung den Weg zum Sinn selber schaffen, weshalb hier eben das ihn bewegt dünkt, was ihm bei seinesgleichen starr und leblos vorkommt. Aber diese Einsicht ändert nichts an der Tatsache, dass das Vollendete den Geist nicht zum Fortschaffen reizt. Deswegen ist das Gebildete weniger bedeutsam für uns als das Naturwüchsige, deshalb scheide ich mit geringerer Förderung von der zivilisiertesten Menschheit, die es gibt, als ich aus Ceylons Urwäldern schied.

Die Anschauung der chinesischen Zivilisation wirft viel Licht auf das Verhältnis von Natur und Geist. Wie ich’s schon in den Himalayas niederschrieb: die Schöpfung bringt ihr Prinzip wohl zum Ausdruck, aber ist es nicht. Die Erscheinungen der Kultur sind nun als solche ihrem geistigen Urgründe nicht näher als die der Natur; auch sie sind Natur, nicht Geist; auch hier ist es, sobald die Gestaltung vollendet, vorbei mit der Spontaneität. Zwischen toten Institutionen und dem Sternenheer besteht, vom metaphysischen Grunde her betrachtet, kein Unterschied; in der Routine des Rechtsverfahrens äußert sich nicht mehr lebendiger Geist als im Kreisen der Himmelskörper. So ist auch die chinesische Zivilisation in ihrer heutigen typischen Gestalt Natur, nicht Geist; sie ist keine Form von Freiheit.

Alle Freiheit erfüllt sich in der Gebundenheit. Ich aber habe genug zurzeit von aller Erfüllung; ich sehne mich nach der Wollust der Erneuerung; ich sehne mich fort vor allem vom Allzumenschlichen. Fast wollte ich, ich hätte Japan schon hinter mir, und schiffte mich nach der Südsee ein, in der es so wundersame Fische geben soll.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
V. China
© 1998- Schule des Rades
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