Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Im Kloster von Koya San: Objektivierung des Geistes

Es ist mir viel wert, dass ich mit dem japanischen Buddhismus am ersten auf seiner Hochburg persönlich bekannt geworden bin: hier dominiert seine Eigenart absolut über dem, was er mit anderen Buddhismen gemein hat. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass aus Indischem dermaßen - Westliches werden könnte: denn westländisch weit mehr als asiatisch wirkt auf mich die Religion der Mönche von Koya-San. Diese sind mittelalterlich-christlichen dem Typus nach erstaunlich ähnlich; gerade ihr Bestes scheint weit eher eines christlichen als des buddhistischen Geistes Kind, wofern ich diesen aus dem abstrahiere, was ich auf Ceylon und in Birma geschaut. Es gibt so etwas wie einen spezifischen Ekklesiastikerkopf, der sich bei allen Völkern wiederfindet. Immerhin: niemand möchte einen Brahmanen mit seinem katholischen Prälaten verwechseln. Ein japanischer Abt nun könnte ohne weiteres als letzterer passieren; seine Züge sind von naheverwandtem Geist geformt. Dies kommt augenscheinlich daher, dass beide Religionen in verwandtem Sinn Objektivationen bedeuten. Selbst die Tantrikas, die Ritualisten unter den Hindus, welchen strikte Observanz als einziges Heilmittel gilt, sehen die Erscheinung immerhin als Māyā an, nicht als notwendig mit dem Wesen verknüpft. Dem Katholiken ist die Kirche der wahrhaftige Leib des Christentums, von dessen Seele nur durch den Tod zu trennen, und ähnliches scheint beim japanischen Buddhismus der Fall. Zwar bekennt dieser kein entsprechendes Dogma, im Gegenteil: soweit er Weltanschauung ist, nimmt er die Erscheinung nicht ernster als der Brahmanismus; auch in Japan gelten sich ausschließende Konfessionen als gleich orthodox. Aber der hieratische Sinn der Chinesen, deren Urneigung, allen Gehalt in der Erscheinung unmittelbar und restlos auszuprägen, hatte dem Buddhismus schon früh einen hochorganisierten Körper erschaffen, der dann in Japan, unter beweglicheren Menschen, aus einem Kunstwerk mehr und mehr zu einem lebendigen Wesen erwuchs.

Aber die beiden Kirchen — die katholische und die buddhistische — unterscheiden sich doch sehr wesentlich voneinander. Bei jener ist die Objektivation verstandgeboren. So irrational ihre Dogmen sein mochten — deren Verknüpfung und Ausgestaltung hat reine Vernunft besorgt. Es ist ein einziger Geist strengster Vernunftgemäßheit, der alle christliche Gestaltung des Mittelalters beseelt, von der Theodicee bis zur geistlichen Hierarchie, von den Kathedralen bis zur Summa des Thomas von Aquin; nie, weder vor- noch nachher, hat die Menschheit so viel auf Symmetrie gegeben, auf Klarheit und rationalen Zusammenhang. Die japanische Objektivierung des Geistes in der Kirche ist ganz unintellektual, weshalb alle die Vorzüge dieser abgehen, welche Rationalität allein gewährt. Dafür ist sie im höchsten Grade unmittelbar-künstlerisch; ihre Formen sind nie Allegorien, immer Symbole und haben alle Vorzüge eines Ausdrucks, dessen Elemente gefühlsgeboren sind. Ungeheuer- überzeugend wirken sie; wie selbstverständlich erkenne ich sie an; unwillkürlich tritt meine Seele in Koya-San auf buddhistisch zu Gott in Beziehung. Und ich beginne zu ahnen, dass, soweit Konfuzius recht hat, die japanische Kirche als Krönung der indischen Weisheit gelten darf. Kungfutse lehrte, dass nur die Weisheit als vollendet zu betrachten sei, welche als Anmut in die Erscheinung trete: das ist hier geschehen. Es ist der echte Geist des Mahāyāna, allumfassend, ernst und tief, welcher diesen Buddhismus beseelt, — aber seine Erscheinung ist eitel Schönheit und Anmut. Und dies befremdet mich nicht: nie vielmehr habe ich mich dem Tiefsten der indischen Weisheit näher gefühlt, als während der Anschauung japanischer Buddhabilder.

Nur seltsam: was mich so stark berührt, scheint den Japanern gar nichts zu sagen; nirgends spüre ich ein unmittelbares Erleben der Harmonie von Erscheinung und Sinn; es ist, als hätten sie nicht gewusst, was sie taten, indem sie den Geist des Mahāyāna vergegenständlichten: Und indem ich nun nochmals meine Blicke über das Kloster schweifen lasse, mit seinen goldstrotzenden Tempeln, seiner so dekorativen Klerisei. im großartigen Rahmen des Kryptomerienhains, da verwandelt sich mir die Wirklichkeit auf einmal zum Bühnenbild. Nein, diese Kirche in all ihrer Größe und Schönheit ist ganz unsubstanziell. Sie bedeutet doch nichts, außer als Kunst. Das ganze Pathos der katholischen geht ihr ab. Wo der Christ lebt, stellt der japanische Buddhist nur dar. Wobei dieses Darstellen freilich möglicherweise sein äußerstmögliches Erleben bedeutet…

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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