Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Im Kloster von Koya San: Patriotismus

Dieselben Pilger, die beim Besuch der buddhistischen Heiligtümer so wenig Weihegefühl bekundeten, erscheinen bewegt und ergriffen jetzt, wo ein sachkundiger Führer sie durch den Friedhof geleitet. Es ist der beeindruckendste, den ich gesehen; kein Land Europas besitzt ein gleichartiges Denkmal patriotischer Pietät. Wir folgen einer Allee gigantischer Kryptomerien, die eine gute Meile entlang über den Gipfel des Koya hinführt; bei jedem Steinmonument eines Einzelnen oder eines Geschlechtes macht unser Führer Halt und nennt die Namen. Und da ist keiner, der nicht mit Japans Geschichte auf ewig verknüpft wäre, und keiner der großen Söhne Japans fehlt. Die berühmten Daimyo-Clans haben hier ihre steinernen Wahrzeichen; hier ruhen die großen Heerführer und Staatsmänner. Wohl sind nicht alle tatsächlich auf dem Koya beigesetzt, aber alle haben auf ihm ihre Gedenksteine und so ist es, als schlummerte ganz Japan hier … Ich blicke auf die Pilger, die kürzlich noch so leichtsinnig lachten und schwätzten. Jetzt erscheinen sie wie umgewandelt. Ihr Tiefstes, Innerstes ist aufgerührt. Die zierliche Oberfläche durchleuchtet tiefster Ernst.

Heute zum ersten Male habe ich mit Japans Seele Fühlung gewonnen. Sie tritt nicht im Verhältnis des Einzelnen zu Gott zutage, nicht im Glauben an ein Transzendentes, nicht in dessen geistiger oder lebendiger Verwirklichung: sie äußert sich in dem, wie der Japaner zu Japan steht. Patriotismus ist das Tiefste des Japaners. Sein Verhältnis zu seiner Heimat, deren Größe, deren ruhmreichem Fortbestand bedeutet das gleiche, wie dem Inder sein Verhältnis zu Brahman, dem Chinesen seine Gliedschaft im All. Unsereinem fällt es nicht leicht, sich in diese Tiefe hineinzuversetzen: uns ist sie keine mehr. Aber jeder hat doch Augenblicke gekannt, wo aus dunklem Grund uralte Gefühle in sein Bewusstsein übermächtig einströmten, wo ihm Bluts- und Volksgemeinschaft als tiefere Bindungen erschienen, denn das Verhältnis zu Gott oder zum All. In diesen Momenten war er dem Japaner verwandt.

Wer aus der Erfahrung solcher Zustände heraus die Japanerseele zu erfassen sucht, dem stellt diese sich nicht mehr als oberflächlich dar; der erkennt, dass auch aus ihr das Tiefste, Äußerste spricht. Nur redet sie in einer uns fremden Sprache. Wir können kein Konkretum als tiefsten Sinn verehren, uns kann Loyalität kein Äußerstes sein, wir verstehen die metaphysische Einheit von Land, Volk, Staat, Nation, Familie und Herrscherhaus, die dem nicht allzu verwestlichten Japaner noch heute die lebendige Grundvoraussetzung ist, nur mit dem Verstande, und das Gefühl der absoluten moralischen Verpflichtung dem Heimatland als solchem gegenüber, dürfte kein noch so patriotischer moderner Europäer in Friedenszeiten kennen. Das Gefühl, das aus den Versen Takeo Hirose’s, des Helden von Port Arthur, spricht:

Unendlich, wie der Dom des Himmels über uns
Ist, was wir unserem Kaiser schulden;
Unermeßlich, wie die Tiefsee unter uns
Ist, was wir unserer Heimat schulden.
Die Zeit ist nun da, unsere Schuld zu bezahlen,

wird er nur nachempfinden, wenn die Kriegsgefahr zeitweilig sein Bewusstsein umgewandelt, die Monade zur Zelle im Volkskörper umgeschaffen, wenn er zeitweilig aufgehört hat, als autonome Individualität zu existieren. Ihm ist die individuelle Seele das letzte irdische Gewand des Metaphysisch-Wirklichen. Auf sie beziehen sich für ihn alle idealen Forderungen, ihr gegenüber aber erscheint das Vaterland als Oberflächliches. Es ist ein Oberflächliches, vom erkennenden Geiste her gesehen, aber dies bedingt doch nicht, dass die Menschen, die wie die Japaner empfinden, flach wären: ihre Vaterlandsliebe bedeutet ein Allertiefstes. Tief ist jede Lebensäußerung, die im Grunde des Lebens wurzelt. Deswegen sind wohl nur solche Gedanken tief, welche objektiv auf den Grund der Dinge zurückgehen — also wirklich tiefe Gedanken in des Wortes gewöhnlicher Bedeutung — aber in den Sphären des Wollens und des Fühlens ist Tiefe unabhängig von der objektiven Profundität; dort hängt sie ab von dem Grad, in dem die subjektive Erscheinung das subjektive Wesen spiegelt. Nun wird des Japaners Subjektivität durch die vorhin bezeichneten Vorstellungen definiert; für ihn gibt es kein über-sie-hinaus. Folglich sind sie tief in bezug auf ihn. Ein wesentlich oberflächliches Volk hätte weder das Riesenreußenreich geschlagen, noch vor allem den zähen Opfermut gehabt, des es bedurfte, um sich in dreißig Jahren von Grund aus zu reorganisieren.

Im Patriotismus kommt des Japaners Tiefstes zum Ausdruck. Dieses Tiefste ist, vom Geiste her gesehen, allerdings ein Oberflächliches, und insofern bleibt das allgemeine Urteil über ihn, dass er der Tiefe entbehrt, zu Recht bestehen. Überall, wo die Erscheinung auf seinen lebendigen Grund, auf Japan, nicht zurückgeführt werden kann, versagt sein Verständnis, seine Leistungsfähigkeit. Religiös im Sinne des Inders, philosophisch im Sinne des Deutschen, überhaupt tief im Sinn der Spekulation ist er nicht und kann er nicht sein. Aber hier, wenn irgendwo, tritt die Wahrheit zutage, dass jede Erscheinung innerhalb ihrer Grenzen den Atman zum Ausdruck bringen kann. Die Vollendung der Rose bedeutet vor Gott gleiches, wie diejenige Buddhas; jene steht Gott näher als dieser ihm stand, ehe denn er vollendet ward. So ist der vollendete japanische Patriotismus metaphysisch mehr wert als die höhere Einsicht des Westländers, die auf halbem Wege stehen blieb. Und weiter: die Vollendung der Rose ist ein Absolutum; kein Mensch wird diese je erreichen; im Sinn der Rose steht er unter ihr. So sind die individualisierteren und tieferdenkenden Völker, wo sie der Ausnahmezustand des Volkskriegs nicht zurückentwickelt, als Patrioten den Japanern unterlegen. Die Inder sind ganz unpatriotisch, da ihr Bewusstsein die Gestaltung tief unter sich sieht, die Chinesen gleichfalls, weil ihr Ideal von China zu hoch ist, um von den Zufällen der Geschichte tangiert zu werden; wir Weißen aber, einst den Japanern nahe verwandt, werden in deren Sinne fortschreitend unpatriotischer, (trotz des Anscheins vom genauen Gegenteil, hervorgerufen durch die Selbsttätigkeit des bewussten Geists, der durch nationalistische Theorie ihr entsprechende Gefühlsregungen weckt, und die Interessensolidarität aller im modernen Staat), weil die Heimat auch dem vollendet individualisierten, gleichwie dem vollkommen vertieften Menschen, kein Äußerstes bedeuten kann, weil Individualismus notwendig Weltbürgertum erzeugt. — Das ist ein Fortschritt vom Standpunkte der Erkenntnis. Aber er schwächt den physiologischen Zusammenhang. Dem völkischen Idealzustande steht das Japan von gestern näher als unsere Zukunft.

Ich studiere die Gesichter einiger Offiziere, die mit mir durch den Friedhof schreiten; unverkennbar sind sie Samurais. Aus ihren Augen blickt eine Lebensanschauung, die in Europa nur mehr posthume Söhne vergangener Jahrhunderte bekennen. — Ich frage nach einem überaus prächtigen Denkmal, das kürzlich erst errichtet worden ist. Es gilt dem Andenken der im mandschurischen Kriege Gefallenen, so wohl der Russen als der Japaner. — Den Feind zu ehren, ist edelste Ritterart.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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