Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Nara

Nun schwelge ich in religiöser Kunst. Meinem Gefühl nach hat der Buddhismus das Höchste dieser Art auf Erden hervorgebracht, und viele von dessen herrlichsten Denkmälern sind in Japan, in und um Nara und Kyōtō, zu finden. Wie unspirituell wirken neben jenen Gemälden, wo Amida als die Idee des Lichtes selbst das irdische Dunkel verklärt, der Sonne gleich über den Bergen aufgehend, neben jenen sinnenden und segnenden Buddhas, in denen der Frieden der Seele seine vielleicht endgültige Verkörperung erfahren hat, die höchsten Gebilde der christlichen Phantasie! An Empfindungstiefe standen die schlichten Künstler unseres frühen Mittelalters den buddhistischen wahrscheinlich nicht nach, aber ihr Gefühl brach sich an ihrem Verstand. Sie waren dazu erzogen, die Gestaltungen ihres Glaubens entweder wörtlich aufzufassen — als historische, ja naturwissenschaftliche Tatbestände, die als solche ein Letztes bezeichneten, — oder aber sie allegorisch zu interpretieren, und beide Auffassungen machten Unmittelbarkeit unmöglich. In seltenen Fällen hat sich ihr religiöses Gefühl in der Ausführung biblischer Vorwürfe trotzdem unmittelbar geäußert, und die wirken dann desto ergreifender; ihre meisten Werke sind nur mittelbare Ausdrücke. Den Buddhisten, gleich allen Abkömmlingen des Indergeistes, waren Dogmen und Mythen nie mehr als Ausdrucksmittel; nie galten sie ihnen als Substanzen; weswegen buddhistischen Künstlern gelingen konnte, was christlichen niemals gelang.

Wohl alle Grundkonzeptionen der ostasiatischen religiösen Kunst sind indischen oder gräko-indischen Ursprungs, und das, was zu Borobodur Angkor Vat von indischer Arbeit erhalten ist, rechtfertigt die Annahme, dass die Hindus auch als Bildner einstmals groß waren. Immerhin: erhalten ist von ihren Werken fast nichts. Das Bedeutendste, was es an geistlicher Kunst im Osten gibt, ist von chinesischen Meistern geschaffen worden, und ihren fruchtbarsten Boden haben deren Ideen nicht in China sondern in Japan gefunden. Es bedeutet kein Zeichen tiefen Verständnisses, immer wieder auf die Nicht-Bodenständigkeit der japanischen Kunst hinzuweisen: keine Kunst war je absolut autochthon; sowohl die griechische als die indische als die chinesische Plastik war insofern vom Auslande abhängig, als ihre Höchstentwickelung erst einsetzte, nachdem Anregungen von außen den heimischen Genius befruchtet hatten. Allerdings ist die japanische religiöse Kunst bis zum Schluss von ihren Vorbildern abhängig geblieben, hat diese niemals erreicht und nichts Neues aus dem Alten herausgebildet; insofern kann man sie mit der chinesischen wohl nicht vergleichen. Aber echt ist sie trotzdem durchaus, als ein wahrhaftiger Ausdruck des Innerlichen, ja sie ist letzteres in einem weiteren Sinn, als gleiches in China der Fall war. Die Ausdrucksform, die einem am besten entspricht, braucht man nicht notwendig erfunden zu haben; man braucht auch Überkommenes nicht zu ändern, auf dass es der eigenen Persönlichkeit gemäß sei. Fast der ganze Orient zitiert, wenn er einem unmittelbaren persönlichen Erlebnis Ausdruck verleihen will und dies bedeutet bei ihm nicht, wie unter uns, entweder Impotenz oder Geschmacklosigkeit, sondern das Sich-Wieder-Erkennen der Seele in gewissen einfürallemaligen Gestaltungen, gleichwie die Natur sich in gleichbleibenden Formen immerfort in unverminderter Ursprünglichkeit erneut. Die Formenwelt nun der buddhistischen Kunst entspricht der japanisch-buddhistischen Religiosität so vollkommen, wie sie im schon damals durch und durch konfuzianischen China wahrscheinlich nur im Falle weniger Ausnahmeseelen entsprochen hat, — gleichviel ob diese Korrespondenz präexistierte oder umgekehrt a posteriori durch den Einfluss des Buddhismus auf die Japanerpsyche geschaffen ward — so dass sie in Japan überall ein getreues Sinnbild des geistlichen Lebens darstellt. Es ist japanische, nicht chinesische Seelenstimmung, die aus den süßen Kwannonbildnissen spricht, die diskrete und doch reiche Chromatik der Mandaras ist der Abglanz japanischer, nicht chinesischer Innerlichkeit. Man könnte sagen: wenn alle Formen und Farben bis auf die letzte auf dem Kontinent erfunden worden wären, und es hätte keine Japaner gegeben, die sie zu sich hinübernahmen, so wäre der letztmögliche Zusammenhang zwischen Kunst und Leben ungeknüpft geblieben. In Japan ward die buddhistische Kunst zum normalen Ausdruck des religiösen Empfindens; für einen Fra Angelico in Toscana hat es dort hunderte gegeben. Viele Heilige und Kirchenväter waren gleichzeitig Maler und Bildhauer; die Mehrzahl der Statuen und Gemälde, die in den alten Tempeln vorgewiesen werden, sind von Priestern und Mönchen geschaffen worden.

Man wird einwenden: aber die Japaner sind nicht spirituell; wie soll ihnen die spirituellste aller Künste gemäß sein? Hierauf ist zunächst vorbeugend zu erwidern, dass wenn die heutigen Japaner selten spirituell sind, hieraus nicht folgt, dass die Dinge immer so lagen. Der Begriff eines Volkes, einer Rasse entspricht immer nur innerhalb bestimmter Zeitgrenzen einer gegebenen Bestimmung. Die Juden von heute würden keine Bibel erdichten, den amerikanischen Geschäftsleuten des 20. Jahrhunderts ist nicht anzumerken, dass ihre Urahnen aus religiösen Motiven über den Ozean entwichen waren, um ein Reich der Heiligen auf Erden zu begründen. Wohl darf das unvermischte Blut als Konstante in der Gleichung berücksichtigt werden, aber die Veränderlichen sprechen deutlich mit und geben nicht selten den Ausschlag. Die Variable der Christianisierung hat im Lauf der Jahrhunderte, trotz aller vorhandenen Konstanten, die noch so verschiedenen Rassen des Westens psychisch dermaßen vereinheitlicht, dass der Nicht-Europäer sie kaum von einander unterscheiden kann. Ähnliches hat der Buddhismus bewirkt. Zwar hat er, seinem weicheren Charakter gemäß, das äußere Leben auch nicht annähernd so stark beeinflusst. Dafür hat seine größere Spiritualität zu Wirkungen geführt, die das Christentum im gleichen Maße nie erzielt hat: er hat von Hause aus unspirituelle Völker, in einigen ihrer Äußerungen zum mindesten, spirituell gemacht. Die antimetaphysischen Chinesen haben als buddhistische Künstler Höhen metaphysischen Wissens erklommen, wie kaum ein anderes Volk; und die Japaner, deren geistige Rassenkonstante wohl von jeher matter-of-factness war, sind durch das Licht des Mahāyāna auf Jahrhunderte hinaus so sehr erleuchtet worden, dass gerade ihre matter-of-factness zu spirituellen Leistungen führte. Schließlich ist das religiöse Erleben ebenso reine Empirie, wie das des Weltkindes; nur vollzieht es sich in einer anderen Sphäre, zu der aber jedem der Eingang offensteht. Ein Lichtstrahl vom Kleinod auf der Stirn des Buddha hat ihn den Japanern gewiesen. Solang sie sich von ihm erleuchten ließen, haben sie Göttliches schauen und vollbringen können.

Heute, angesichts der Herrlichkeiten Naras, habe ich endlich Klarheit gewonnen über das Problem, das mich seit Koya beschäftigt: wie es nur möglich ist, dass die Japaner, die doch nicht wissen, was sie tun, in vielen Hinsichten als Vollender der indischen Weisen gelten dürfen: es hängt unmittelbar zusammen mit dem anderen, dass die allwissenden Inder sich kaum je vollwertig ausgedrückt haben und Ähnliches von den Deutschen gilt; dass die bisher dauerhaftesten Gestaltungen des europäischen Geists nicht von den tieferen Germanen, sondern Romanen herrühren; und sein Sinn ist der, dass der äußerste Ausdruck eines Spirituellen nie von spiritualistisch, sondern von materialistisch gesinnten Völkern gefunden wird. [Ich verwende hier den Begriff materialistisch natürlich in einem viel weiteren Sinne, als dies üblich ist; als Gesamtbezeichnung für alle der Erscheinung als solcher zugewandte Geistesrichtung.] Zur Herrschaft über die Materie bedarf es der Organe, die ihr vollkommen gewachsen sind, zumal entwickelter Sinne; der Geist als solcher tut es nicht. Da nun ein gleicher Mensch nie gleich vollkommen als Geist und als Sinnenwesen ausgestattet ist, da zwischen beiden Anlagen vielmehr ein antinomisches Verhältnis besteht, so hat der materialistisch Gesinnte in der Erscheinungswelt am meisten Erfolg. Nun ist aber auch der Ausdruck eines Spirituellen unter allen Umständen in der Sphäre der Phänomene belegen; den besten findet nicht der Durchgeistigtste sondern der, welcher den Geist am besten zu materialisieren weiß: und der ist wieder der Materialist. Zwar erkennt er das Spirituelle als solches nie von selbst, aber ward es ihm gezeigt, dann erfasst er es am besten: weswegen die vollendetsten Fassungen geistlicher Wahrheiten von Dichtern, nicht von Heiligen und Philosophen stammen. Nun ist aber der Geist in jedem Einzelnen gegenwärtig, jeder kennt ihn, ob er’s weiß oder nicht. So erklärt es sich, dass materialistische Völker, denen von selbst nie spirituelle Einsichten aufgegangen wären, deren Ausdruck, kaum dass sie mit ihm bekannt wurden, verstanden und gewürdigt haben. Der höhere Buddhismus fand in China und Japan sofort Verständnis, und nicht lange nachher seine sublimsten Ausdrucksformen, weil eben die Völker des Fernen Ostens über ein unvergleichliches Ausdrucksvermögen verfügen und die Grundideen, die sie nie gefunden hätten, vorlagen. Die materialistische Grundanlage der Chinesen und Japaner gibt somit kein Rätsel auf in bezug auf ihre religiöse Kunst, sondern macht diese im Gegenteil begreiflich. — Was nun Japan im besonderen angeht, so steht es zu China im typischen Verhältnis des Schülers, der das Werk seines Meisters vollendet. Der Pionier bricht sich durch die Materie mühsam Bahn; selten lebt er lange genug, um sich ganz auszusprechen, selten liegt ihm auch daran, das Letzte zu sagen. Sein Schüler, dort anhebend, wo jener aufhören musste, führt aus, was er vorgezeichnet hatte. Und ist er subtilen Geistes, mit Verständnis für das eigene Leben der Form, dazu von Geschmack und Sinn für die Nuance, so wird ihm zuteil, die Konzeption seines Meisters, die als solche seine Kräfte weit überstieg, zur äußersten Vollendung zu bringen. Das ist es, was die besten der religiösen Künstler Japans auf dem Gebiet der buddhistischen Formenwelt geleistet haben; ihnen verdankt diese ihren Schmelz, ihre Süße, ihre franziskanische Innigkeit. Tief religiös, wie die Inder, sind die Japaner niemals gewesen; aber innig religiös, gerade im franziskanischen Sinne, waren sie wohl. Der Heilige Geist hat sich ihnen als solcher nie geoffenbart, aber er hat ihr Empfinden verklärt. Und vermittelst dieses verklärten Empfindens Bildnisse geschaffen, die ihm gleichsehen, wie sonst nichts auf dieser Welt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME