Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Nara: Japanischer Buddhismus

Wieder einmal, angesichts der Kunstschätze Naras, übermannt mich der Eindruck der Katholizität des Geistes der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Was war das für eine grandiose Synthese, welche indische Weisheit, griechische Formen, alexandrinische Lehren, christoide Dogmen in sich beschloss! Im Tempel von Horyūji thront ein Buddha aus Korea: die spezifisch ost-asiatische Erscheinung verdichtet in sich gleichwohl allen Sinn, der zwischen Nil und Indus je erfasst ward … Und dabei handelt es sich nirgends um Eklektizismus. Jener wundersame Impuls zur Liebe, der im Westen den Stoiker zum Christen, den Stolzen zum Demütigen umschuf, der im Herzen des Judentums, das nur von Gerechtigkeit wusste, die sublimste Gnadenreligion entstehen ließ, der den selbstgenügsamen Asketen des frühen Buddhismus zum Bodhisattva verwandelte, welcher den Eid schwur, nicht ins Nirwana einzugehen, solang noch eine Menschenseele unerlöst in irdischen Banden schmachtete, hat wirklich verschmolzen, was in der Theorie allenfalls vereinbar schien. Aber wenn ich nun die beiderseitigen Endprodukte dieses Prozesses im Geist vergleiche — das Christentum im Westen und im Fernen Osten den japanischen Buddhismus — dann muss ich mich wieder einmal neigen vor der größeren Erkenntnistiefe und der höheren künstlerischen Ausdrucksfähigkeit des Morgenlandes. Um wie viel wahrer ist die Lehre des Mahāyāna als die so gleichsinnige des Christentums! Wo bei uns bornierte Afrikaner und unphilosophische Römer, günstigstenfalls wortklauberische Griechen die Lehre fortbildeten, haben dies im Osten weise Inder getan; und wo bei uns wörtliche Auffassung und allegorische Ausdeutung des christlichen Mythos dessen Formen zu einer Art Hieroglyphenschrift verballhornte, die außerstande war, ein Gemeintes unmittelbar auszudrücken, hat der künstlerische Feinsinn des Orients aus nahezu identischen Gestaltungen eine Sprache geschaffen, die mit wohl unerreichter Unmittelbarkeit das Ewige als Erscheinung offenbart. Amida ist nichts anderes als unser Erlöser, Kannon nicht verschieden in der Idee von jener Maria, die den weiblichen Aspekt göttlicher Liebe inkarniert; Sukhavati ist identisch mit unserem Himmel. Aber während diese Mythen der Christenheit bis zum heutigen Tag naturwissenschaftliche Tatsachen geblieben sind, oder schlimmer noch, als Allegorien von ihr verstanden werden, hat sie der Osten nie anders als symbolisch aufgefasst. In Indien philosophisch-bewusst, in China halb bewusst, halb instinktiv; in Japan wahrscheinlich ganz unbewusst, mit der kindlichen Naivität des echten Künstlers. Immer wieder komme ich auf das Wort des Gekreuzigten zurück: sie wissen nicht, was sie tun. Die Japaner sind sicher ganz unschuldig am Wunder ihrer geistlichen Kunst; desto unschuldiger, als sie ja wirklich hauptsächlich anderen nachgeahmt haben. Aber ihre Kopien sind spiritueller als unsere Originale.

Im Sinne der Spiritualität ist und bleibt das Maximum die indische Weisheit und deren vollkommenstes Ausdrucksmittel der chinesisch-japanische Künstlersinn. Wie wenig nützt hier Verstandesbegabung! Ich denke zurück an meine Erlebnisse in Adyar und an die Lehren der modernen Theosophie. Die sind beinahe identisch mit denen des Mahāyāna, und dessen intellektuellem Gehalt sind die Theosophen wohl besser gewachsen als die Japaner. Gleichwohl steht der japanische Buddhismus turmhoch über der modernen Theosophie. Die gellt mit den indischen Lehren nicht weiser um als unser Mittelalter mit den griechisch-christlichen: auch sie fasst wörtlich auf oder allegorisiert; auch ihre Synthese ist ein äußerliches Aggregat. Die Rassenanlage scheint doch unüberwindlich; Angelsachsen bleiben Angelsachsen, ein praktisches aber unspirituelles Geschlecht, selbst wo sie sich zum Mahāyāna bekehren. Möchten nun auch die Japaner Ost-Asiaten bleiben, trotz ihres Triebes zur Verwestlichung.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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