Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Nara: Mönche von Nara

Ja, die Rassenanlage ist ein Äußerstes überall, wo Glaubens- und Einbildungskraft nicht außerordentlich groß sind. Bei den Japanern sind beide ausnehmend gering, weshalb das Blut bei ihnen ungewöhnlich viel bedeutet. Es ist nicht wahr, wie oft es behauptet wird, dass sie, als Nachahmer, in hohem Grade verwandelbar wären; zur Verwandlung bedarf es der Phantasie. Sie sind sich vielmehr gleicher geblieben durch allen Wechsel hindurch, als irgendein Volk. Welchem Einfluss sie sich auch hingaben — dem koreanischen, chinesischen oder europäischen — wesentlich verändert hat sie das nicht. Wie dies mit besonderer Anschaulichkeit die Geschichte des japanischen Buddhismus illustriert.

Die Mönche von Nara waren berüchtigt wegen ihres Raubrittertums. Nicht im mindesten hatte die sanfte Weisheit der Inder auf die kriegslustigen Reisigen erschlaffend eingewirkt — jene hatte sich vielmehr deren Gesinnung anbequemt. Beinahe sogleich verschmolz der Buddhismus mit dem eingeborenen Ahnen- und Götterkult, legte sich bald darauf einen richtigen Kriegsgott an, und nicht lange währte es, bis dass die buddhistischen Klöster den Regenten mehr zu schaffen machten als die unruhigsten Vasallen. Nur auf den Teil und die Seiten der Japaner hat die indische Weisheit als solche unmittelbar eingewirkt, denen sie von vornherein entsprach: auf die Frauen und auf den Künstlersinn. Die Japanerin ist geborene Buddhistin, in ihrem sanften Dulden, ihrer selbstlosen Innigkeit; und als Künstler ist der Japaner dem Inder nahe verwandt. Immer deutlicher erkenne ich’s: in bezug auf das japanische Volksleben bedeutet die buddhistische Kirche, soweit sie wirklich buddhistisch ist, nur einen künstlerischen Rahmen, nicht mehr. Aber gerade darum wohl hat sie dem Einzelnen, zumal der Frau, hie und da so sehr Persönliches bedeutet. Die katholische Kirche war vor allem ein Staat; sie hat mehr Völker als Einzelne erzogen, mehr der Menschheit als dem Menschen ein Hort sein wollen. Deshalb fehlen katholischen Heiligen die intimen Züge, welche buddhistische so lieblich erscheinen lassen. Ein einziger unter jenen scheint diesen vergleichbar: der Heilige Franz.

Es ist die Zeit der Wistaria-Blüte. Bis zu den Spitzen der trotzigen Tannen im Park ranken sich die lieblichen Schlinggewächse auf. So haben sich das Rauhe und das Süße in Japan stets wunderbar ergänzt. Dem Weib die Liebe, dem Mann der Kampf; für sie der Buddhismus, für ihn das Shinto. Aber für beide Bushido, der Geist stolzer, aufwärtsstrebender Reinheit: von den möglichen Formeln, die das Widerspruchsvolle zur Einheit versöhnt, scheint mir diese nicht die schlechteste zu sein.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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