Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Etikette

Der Charakter Kyōtōs ist verschieden von dem aller Städte, die ich in Japan bisher besucht: es ist der einer Metropole, die alle Formen des Lebens im weiten Reich zu großartiger Einheit zusammenfasst. Ich besichtige die Sehenswürdigkeiten: die Denkmäler der Hofkultur, prunkhafter Vasallenmacht, eines großartig-verschwenderischen Prälatentums und jenes herben, männlichen Kriegersinnes, der die endgültige Erhebung Japans herbeigeführt hat; und staune über die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen, in denen das Leben sich hier einst geäußert hat. Welche Ähnlichkeit bestand zwischen den exquisit gebildeten Höflingen, mit ihrer femininen Empfindsamkeit, ihrem zartsinnigen Künstlertum und den rauhen, männlichen Samurais? Zwischen den amazonenhaften Kaiserinnen der alten Zeiten, den großen Künstlerdamen des Mittelalters, welchen Japan das beste seiner Literatur verdankt, und den spartanisch gesinnten Rittersfrauen? Jeder dieser Typen kann als besondere Menschengattung gelten, ist auch immer so beurteilt worden. Und vergleiche ich mit dem gegliederten Japan von einst das einförmige von heute und gedenke zugleich der nahen Zukunft, wo die Nivellierung vollendet sein wird, so überkommt mich wieder eine Stimmung der Bitterkeit. Gar zu töricht ist das Missverständnis, dass die Aufhebung der sozialen Abgrenzungen die Differenzierung des Menschen begünstigen soll! Freilich begünstigt sie die individuelle Differenzierung — aber was bedeutet diese im Verhältnis zur typischen, die sie im Keim erstickt? Unter höchstindividualisierten Völkern geschieht es nur ausnahmsweise, dass eine Individualität als solche wertvoll sei; umgekehrt sind die Typen, die aus noch so unpersönlichen auskristallisieren, ohne Ausnahme Träger von Menschheitswerten, welche verloren gehen, wenn die Grenzen zwischen den Typen verschwommen sind. Der Mensch ist nun einmal ein Unterschiedswesen, wird sich seiner Eigenart nur in bezug auf Andersartiges bewusst; aus diesem Grunde blüht höhere Kultur nur in aristokratischen Gemeinwesen. Die Unterschiede zwischen Individuen, die in demokratischen die zwischen den Typen ersetzen, sind zu gering und vor allem zu oberflächlich, um im gleichen Maße anspornend zu wirken. Diese Wahrheiten illustrieren die Japaner wie kein zweites Volk. Sie sind, wie alle Kenner übereinstimmend behaupten, ausgesprochen unpersönlich, haben auffallend wenig Sinn für das Individuelle. Um so mehr verlieren sie, indem sie sich der Möglichkeit typischer Gestaltung begeben. Der Hofmann von einst war raffiniert im Gegensatz zum rauhen Samurai, und dieser männlich und stark im Gegensatz zum verfeinerten Daimyo; die Edelfrau war streng und selbstbeherrscht im Bewusstsein ihrer Überlegenheit über ihre naturwüchsigen Dienerinnen. Heute fühlen alle Japaner sich mehr und mehr als gleich, streben vor allem darnach, moderne Menschen zu sein. Und das macht sie zusehends banaler…

Aber noch herrscht in Kyōtōs die psychische Atmosphäre der alten Zeit, noch dominiert in ihr der Geist der Residenz. Mir wird zu Mut, wie manchmal in Versailles, wenn ich im Lichte der Oktobersonne durch die halbverwilderten Alleen schritt. Ich fühle mich als Hofmann; die Etikette schematisiert meine Impulse; Schein ist mir höchste Wirklichkeit, Formel Wesen. Und diese Verfassung beengt mich nicht: hier bedingt gerade sie größtmögliche innere Freiheit. Im Versailles Ludwig XIV. konnte allein der vollendete Höfling unbefangen sein. Ähnlich war es in Kyōtōs. In dessen verkünstelter Gesellschaft, von Puppenkaisern vorgeblich beherrscht, von Favoritinnen regiert, Intrigen durchsetzt, war nur die Schranze ganz in ihrem Elemente. Aber diese erschien erstaunlich substantiell. Dank der japanischen Anlage, die in so seltsamer Weise Sensitivität, Phantasielosigkeit und Matter-of-factness in sich vereint, konnten die Höflinge hier vollkommen echt sein. Sie waren so echt wie die Pinguine, die auf den Eisfeldern der Süd-Polarregion ihre Tage in Höflichkeitsbezeugungen zubringen.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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