Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Kyoto: Geisha

Daß ein gleichvollendeter Rhythmus, wie auf byzantinischen Mosaiken, von lebendigen Menschen dargestellt werden könnte, hätte ich mir nimmer träumen lassen, bevor ich einem japanischen Tanzfeste beigewohnt. Die Lautenschlägerinnen rechts, die Trommlerinnen links vom Amphitheater aufgereiht, in identischer Stellung dasitzend, identische Bewegungen im Takt vollführend, bildeten zusammen einen lebendigen Fries von vollkommener rhythmischer Einheit. Und die Geishas, die bald auf der Bühne, bald längs dem Zuschauerraum ihre stilvollen Tänze aufführten, wirkten, so viele ihrer waren, wie die Engel auf mittelalterlichen Paradiesesdarstellungen, nur als Wiederholungen eines ewig gleichen Symbols. Mehr als je habe ich’s bei dieser Gelegenheit gespürt: erst in rhythmischer Stilisierung wird die Natur vollkommen sie selbst; erst in der vereinfachenden Kurve erfüllt sich der Reichtum des Lebens. Ich empfand wie ein Weitwerden meiner selbst, wie ein Schwinden aller Hemmungen und Schranken; mir war, als löste sich aller Drang in beseligender Harmonie.

Die begleitende Musik klang Europäerohren nicht schön, aber das Schauspiel selbst war Musik. Hier habe ich’s zum ersten Mal erfahren, dass bewegte Farben und Linien das gleiche zu wirken vermögen, wie die Schwingungen der Töne. Das europäische Ballet ist ein zu Äußerliches, um solche Wirkung hervorzurufen; das Gebärdenspiel unserer Musiktänzerinnen ist Kopie oder Interpretation, kein unmittelbarer Ausdruck. Im Prinzip sollte das, was Jaques-Dalcroze erstrebt, das Ideal verwirklichen können, allein ich fürchte, es wird es nur zur Hälfte tun, weil unsere Tänzerinnen, wie immer sie geschult werden, bewusste Individualitäten bleiben; der Europäer kann nicht vergessen, dass er eine Persönlichkeit ist. In Japan nun wird das Ideal tatsächlich verwirklicht, weil die Darstellerinnen — Geishas sind; Geschöpfe, dazu geboren und erzogen, ohne Selbstbewusstsein Stimmung zu erzeugen; eine Arabeske, eine Begleitung selbstlos darzustellen; nie an sich und für sich zu sein. Es kommt dem, der ihnen zuschaut, nicht in den Sinn, dass sie Einzelseelen besitzen; sie sind, was sie darstellen sollen — angeschlagene Töne auf einer Saite, Farbenflecke, Metopen, Mosaiken; Elemente ohne Eigen-Bedeutung. — Wohl dem Volk, das die Geisha also hinaufhebt! das sie, anstatt sie verachtend auszustoßen oder nur als Genussmittel zu nutzen, zur Priesterin weiht: so schafft das an sich vielleicht Niederste am Höchsten mit. Die Geishas haben das Privileg und die Pflicht, die althergebrachten Formen zu pflegen; damit sind sie die Hüterinnen des Allerheiligsten. Indem sie wieder und immer wieder die Zeremonien und Tänze aufführen, die der vollendete Ausdruck der Seele Alt-Japans sind, erhalten sie diese lebendig durch alle Zeit. Und das vermöchten nur sie, die leichtsinnigen, losen. Nur dieser Menschentypus vermag Element zu sein, wie dies bei Riten und Zeremonien erforderlich ist, denn nur er ist metaphysisch genommen selbstlos; nur Geishas existieren buchstäblich beziehungsweise, sind buchstäblich ohne Persönlichkeit. Daher können sie, was autonomere Typen nicht können: das Überpersönliche im Gleichnis vollendet darstellen.

Vor der Tanzaufführung fand die Teezeremonie statt. Es war ein wunderbares Erlebnis für mich, zu beobachten, welch tiefes Verständnis das einfache Volk dem komplexen Ritual entgegenbrachte. Solange dieser Formensinn lebendig bleibt, wird Japan seine Seele nicht verlieren. Was aber soll werden, wenn es auch hierin dem Beispiel des Westens folgt? In Europa versteht sogar der Papst den tiefen Sinn der Form nicht mehr, von den Königen und Fürsten zu schweigen; einzig die britische Nation stellt bis heute eine rühmliche Ausnahme dar. Bei ihr hat vollendete Klugheit gleiches gezeitigt, wie bei anderen der künstlerische Instinkt: sie weiß, dass die Form Inhalt nicht nur darstellt, sondern schafft, und setzt diese ihre Erkenntnis desto energischer in Praxis um, je mehr die Inhalte an und für sich an Macht verlieren. Heute, wo keiner mehr recht an das Gottesgnadentum der Obrigkeit glaubt, wird deren ursprüngliches Prestige desto stärker im Äußerlichen zum Ausdruck gebracht, denn der Augenschein wirkt zurück auf das Herz. Je loser tatsächlich die Bande zwischen den Teilen des Reiches werden, je mehr die Einzelnen sich individualisieren, desto mehr stellt die Regierung das Symbol in den Vordergrund. So wird der König, tatsächlich nur ein Beamter unter anderen, mit weit geringerer Machtbefugnis ausgestattet, als seine Minister, wo es darauf ankommt, mit einem Schein der Majestät umringt, um den in Schah Dschehan beneiden könnte.

Freilich ist solches Mittel nicht überall mehr wirksam. Die Engländer sind willig, die Form in sich schaffen zu lassen, was die Deutschen z. B. nicht sind. Das beweist nicht, dass der Deutsche freier, sondern dass der Engländer gebildeter ist. Bei allem Innerlichen schafft die Bedeutung allererst den Tatbestand; in der Bedeutung, die einer Form frei zuerkannt wird, offenbart sich eine neue, höhere Sphäre der Wirklichkeit, und die Form ruft deren Bewusstsein auch in den Seelen wach, die sie von sich aus nimmer erschaut hätten. Noch ist diese Wahrheit den Japanern selbstverständlich: wird sie es bleiben? — Ich befürchte das Schlimmste, weil sie sie nicht verstehen; sie handeln ihr gemäß, ohne zu wissen, was sie tun. Stellen sie einmal die Frage nach dem Sinn, wie dies früher oder später sicher geschieht, so scheint gewiss, dass sie sie falsch beantworten werden; als Positivisten werden sie schwerlich gelten lassen, was dem Verstände nicht unmittelbar begreiflich ist, und viel schwerer als wir, die soviel mystischer veranlagten (der Japaner beurteilt den Europäer allgemein als auffallend abergläubisch) den Sinn symbolischer Wahrheiten einsehen.

Um nun noch einmal auf die Institution der Geishas zurückzukommen (sie sind wirklich eine Institution: ihre Meisterschaft in der Etikette wird patentiert, und das System hat die Allerhöchste Sanktion): unsere Sozialreformer entsetzen sich darüber, dass es derartiges heute noch gibt; wenn die Geishas tatsächlich keine Persönlichkeiten sein sollten, so müssten sie zu solchen erzogen werden; es sei eines Menschen unwürdig, nur Element zu sein. Du lieber Gott! Die meisten sind Elemente, können nur als solche ihre Vollendung finden, zumal die Geisha-Naturen. Ich will die altjapanische Gesellschaft nicht als Ideal hinstellen, aber wahr ist gleichwohl, dass deren Prinzip unter den gegebenen empirischen Umständen den Elementen einen weit höheren Grad der Selbstverwirklichung ermöglicht, als das unserige. Hierbei gedenke ich nicht allein der Courtisanen, die in Europa, dank unserem abscheulichen System, soviel tiefer herabgedrückt erscheinen als in Japan: ich gedenke aller Gesellschaftsklassen. Unser Ideal ist die Vollendung des Individuums; vielleicht ist es das höchste. Aber eine andere Frage ist, auf welchem Wege diese Vollendung am besten zu erreichen sei? Die allermeisten, auch im Westen, sind zu wenig individualisiert, als dass sie den eigenen Trieben folgend vollkommen werden könnten; (dies galt sogar vom Italien der Renaissance). Und da der moderne Zeitgeist das Streben nach typischer Vollendung nicht mehr begünstigt, so werden die Individuen zwar selbständiger, aber im gleichen Verhältnis unausgeprägter als sie ehedem waren. Am deutlichsten äußert sich dies bei der Frau. Ihr fällt es, entsprechend ihrer Natur, noch schwerer als dem Mann, ihre Vollendung in und durch sich zu finden; die größten Frauengestalten, die es gegeben, sind durch Hingabe erwachsen — an einen Mann, an Gott, ein Ideal. Nun wollen sogar die niedersten ganz sie selbst sein. Die Betörten begreifen nicht, dass sie in viel höherem Grade sie selbst würden, wenn sie sich stolz zum Typus bekennten, dem sie angehören, und in diesem ihre Vollendung suchten; denn diese Form, durch die Weisheit von Geschichte und Natur zugleich geprägt, würde gerade ihrem Individuum zu stärkerer Verwirklichung verhelfen, als das meist nur undeutlich erschaute und selten mit genügender Konsequenz verfolgte persönliche Ideal. Wie viel niedriger stehen die meisten modernen Frauen als die einer noch nicht fernen Vergangenheit! Den höchsten Typus des heutigen Europa verkörpert die hochgeborene Französin. Sie allein eben wird noch so erzogen, dass sie darstellen soll, bis dass sie ist.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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