Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Tokyo

Die Kaiserstadt … Sie ist ganz seelen- und stillos, trotz der großartigen Anlagen, die aus der Shogunzeit stammen, trotz all’ des Schönen, das sie sonst enthält; Tokyo ist eine moderne Stadt in des Wortes trivialster Bedeutung.

Und dabei ist sie, gerade sie, die Residenz eines mythischen Herrschers, eines Monarchen, dem sein Volk eine höhere Stellung zuerkennt, als die Chinesen dem Himmelssohne; eines Kaisers, dessen Gottesgnadentum recht eigentlich den Sinn der Göttlichkeit hat! Höchst seltsam, dieses Zusammenbestehen des Primordialen mit dem Modernen. Dass die Mikados ihr Prestige durch die Jahrhunderte hindurch bewahrt haben, wo sie fast gar keine Machtbefugnis hatten, wo sie Puppen in den Händen der Hausmeier waren und wie Unterbeamte ein- und abgesetzt wurden, erscheint nicht verwunderlich, wenn man die Bedeutung des Mikadotums in den Augen des Volkes richtig auffasst: sie gehörten einer anderen Daseinsebene an, als ihre Untertanen, so verschlug es nicht viel, was im menschlichen Sinne mit ihnen geschah; sie galten jenen Göttern gleich, die man zerschlägt, wenn sie Missfallen erregen, die aber gleichzeitig höhere Wesen bleiben. Aber dass ihr Prestige noch heute im alten Sinne fortbesteht, wo sie, wie andere Regenten auch, im Staatskörper eine bestimmte Rolle spielen, das ist ein wohl Niedagewesenes.

Japan ist fortgeschritten, weil ein mythischer Herrscher es ihm gebot; bis vor kurzem diktierte der Hof die öffentliche Meinung; die kaiserlichen Edikte noch so trivialen Inhalts wurden mit der Andacht gelesen, die Offenbarungen des Himmels gegenüber anständig ist; die bedeutendsten Staatsmänner alten Schlages empfanden hierin nicht viel anders als das gemeine Volk. Es kann nicht geleugnet werden, dass dieser Zustand Japan zum Heil gereicht hat. Überall, wo die Individuen sich nicht emanzipiert fühlen, wo sie geneigt sind, höhere Mächte in persönlicher Symbolik vorzustellen, wo überdies die Glaubenskraft genügt, bedeutet Selbstherrschertum die beste Regierungsform. Dort verkörpert der Herrscher buchstäblich den Eigenwillen der Nation, dort wird sie sich buchstäblich in ihr ihrer selbst bewusst; dort sind sie und er tatsächlich innerlich eins. Denn dort wächst die Person des Autokraten, dank dem schöpferischen Glauben seiner Untertanen, von selbst über normales Menschenmaß hinaus. Die Weisen Indiens lehren: genau soweit, wie eine Seele zu Gott hinanstrebt, komme dieser ihr entgegen. Eben dieses ist wahr in bezug auf das Verhältnis von Herrscher und Volk: je mehr dieses dem Herrscher zugesteht, desto mehr entwickelt er sich dem Ideale seiner Untertanen entgegen. Die russischen Zaren stellten bis vor nicht gar lange einen höheren Menschentypus dar, als die konstitutionellen Monarchen West-Europas, denn sie wurden von einem gewaltigen Glauben getragen. So hat sich Mutsuhito, von Hause aus eine Durchschnittsnatur, als großer Mann bewährt, weil Göttliches von ihm erwartet wurde.

Wieder einmal gedenke ich dessen, was mehr wert ist, die Monarchie oder die Republik, und wieder einmal sehe ich mich veranlasst, mich zum monarchischen Prinzip zu bekennen. Wie gut bewährt es sich doch, wenn der Mensch seinen Vorgesetzten überschätzt! Gleichviel ob dieser die ihm gezollte Verehrung ursprünglich verdient oder nicht: wenn er nicht gar schlecht ist, so verdient er sie auf die Dauer; jeder wohlgesinnte Monarch ist im Laufe der Zeit zu einem bedeutenderen Menschen herangewachsen, als es neun Zehntel seiner Untertanen sind. Indem diese jedoch ihren Herrscher als Wesen höherer Art verehren, handeln sie besser und werden sie mehr, als sie unter anderen Bedingungen würden: aus Rücksicht auf andere setzt auch der Mittelmäßige sein Äußerstes dran, aus Rücksicht auf sich selbst nur der Höchstgebildete. In der Republik ist ferner jeder im Prinzip souverän, kann jeder zum Ersten im Lande aufrücken: so sieht sich keiner zur Selbstbeschränkung angeleitet; Ehrgeiz, Herrschsucht, Wille zur Macht wuchern über alle Grenzen hinaus, und diese Wucherungen gefährden die Seele. Wie eindeutig alle Tatsachen die Vorurteile unserer Epoche Lügen strafen! Die Japaner vom alten Schlage fühlen sich nicht als Individuen im modernen Sinn, und sind menschlich doch viel wertvoller als die meisten Modernen. Ich gedenke der Verse Laotses:

Der Himmel ist ewig und die Erde dauernd,
Die Ursache der ewigen Dauer von Himmel und Erde ist,
Dass sie nicht sich selber leben.
Darum können sie dauernd Leben geben.

Also auch der Berufene:

Er setzt sein Selbst hintan,
Und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
Und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
Darum wird sein Eigenes vollendet?

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
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