Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Tokyo: Demokratie

Nun habe ich auch Große des Landes kennen gelernt: die sind mit den kleinen Leuten kaum auf einen Nenner zu bringen. Die Besten unter ihnen haben etwas Alt-Römisches, Scharfes, Klares, Selbstverständlich-Überlegenes; alle aber absolut nichts Künstlerhaftes, nichts Süßes, Feinsinniges, Zierliches: sie sind vielmehr hart und könnten grausam sein. Die allgemein-japanischen Eigenschaften der Menschheit, des sicheren Blicks, des schnellen Verstehens alles Handgreiflichen scheinen bei ihnen einem anderen Zusammenhang einverleibt: was sonst den Künstler macht, kommt hier dem Spion zugute, die Fähigkeit Rücksicht zu nehmen, dem Diplomaten, die Geschmeidigkeit dem Reorganisator; hier tritt die Zähigkeit der Rasse als stählerner Wille zutage, während ihre matter-of-factness Realpolitiker so extremen Charakters schafft, wie solche bei uns kein Machiavellismus jemals erzeugt hat. Somit stellt sich das Problem, wie das Japan Lafcadio Hearns so großer politischer Leistungen fähig war, überhaupt nicht; dieses Japan hat die Umwandlung nur mitgemacht; eingeleitet und durchgeführt ist sie durch andere worden, denen weitsichtiges Schaffen ebenso natürlich ist, wie dem kleinen Mann das Zwergen seiner Bäume.

Immerhin sind die Führer in Japan nicht ganz Führer in unserem Sinn, und das ist das Japanische an ihnen: sie sind weniger Faktoren als Exponenten; wie groß ihre individuelle Bedeutung zuweilen sei, ihre Wirkungskraft beruht auf ihrem Vertretertum. Im Fall des Kaisers liegt dieses Verhältnis auf der Hand: nicht nur in Japan, überall auf der Welt, wo diese Stellung noch mit einem mythischen Nimbus umwoben ist, kommt es mehr darauf an, dass einer, als wer der Herrscher ist; als Brennpunkt des Volksglaubens wirkt er auf alle Fälle schöpferisch. Das gleiche gilt von den Staatsmännern, die Japan groß gemacht haben. Höchstwahrscheinlich standen und stehen sie alle als Persönlichkeiten unter dem, was die Qualität ihres Werks voraussetzen lässt; sie konnten es schaffen, weil sie vom Volk getragen wurden. Wo das Bewusstsein des Einzelnen weniger Selbst- als Gruppenzugehörigkeitsbewusstsein ist, dort sieht er in seinen Führern keine Außer-ihm-stehenden, sondern recht eigentlich Organe seiner selbst, und gehorcht ihnen, als ob er sich selbst befehlen würde. So liegt die Gewähr für den Führerberuf in Japan zum allergrößten Teil in der Vollendung der Volksorganisation. Das will sagen: solange diese im Stande ist, werden geborene Führer nicht aussterben. Diese tragen hier denn auch eine Überlegenheit zur Schau, wie sie anderswo heute kaum vorkommt; Graf Okuma ist sich seines Einflusses im selben Sinne bewusst, wie ein Kaiser seines Gottesgnadentums und dieses Bewusstsein als solches wirkt als Kraft.

Was ich hier über das tatsächliche Verhältnis zwischen Führern und Geführten in Japan anführe, klingt wie eine Darstellung des demokratischen Ideals. Ist es nicht bezeichnend, dass dieses noch von keiner Demokratie, wohl aber schon oft von aristokratischen Gemeinwesen verwirklicht worden ist? Solange das Individuum individualistisch denkt — und das ist wohl das Hauptkennzeichen der Demokratie — solange ist eine vollkommene Organisierung der Gesamtheit unmöglich. Freilich ist das Ideal im Prinzip auch dort verwirklichbar, wo die Persönlichkeiten autonom geworden sind; aber dazu müssen diese einen Grad innerer Bildung erreicht haben, von dem bei den heutigen Demokratien noch das leiseste Voranzeichen fehlt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
© 1998- Schule des Rades
HOMEPALME