Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Tokyo: Zen

Einige der führenden Geister des japanischen Buddhismus weilen in Tokyo. Ich habe die Gelegenheit benutzt, meine aus Gesprächen und Lektüre der heiligen Schriften gewonnenen Anschauungen zu berichtigen und zu erweitern, und will nun versuchen, ein zusammenfassendes Urteil über ihn abzugeben.

Je eingehender ich mich mit der Mahāyāna-Lehre befasse, desto mehr beeindruckt mich ihr philosophischer Wert. Gegen den Sinn ihrer Grundlagen wüßte ich gar nichts zu erinnern, wie vieles an der Einzelgestaltung verfehlt und veraltet sei, und in ihrer Entwickelung konvergiert sie so sehr mit dem, was mehr und mehr aus der christlichen Weltanschauung wird, dass man beinahe sagen kann, sie bezeichne den Indifferenzpunkt zwischen östlichem und westlichem Geist. Die Philosophie Açvagoshas verhält sich zur altindischen ungefähr wie diejenige Hegels zu Parmenides oder diejenige Bergsons zu Spinozas; das heißt, in ihr erscheint abstrakter Statismus durch lebendigen Dynamismus ersetzt, und das bedingt einen absoluten Erkenntnisfortschritt. Die alten Inder meinten ja wohl Gleiches wie die Begründer der Mahāyāna-Lehre, allein sie wussten sich nicht entsprechend auszudrücken; dem letzten Sinn des Geschehens zugewandt, sahen sie von diesem ab und gelangten so zu einer Theorie des ewigen Seins, das im Gegensatz zum Fluss des Erscheinenden bestände. Açvagoshas hat dann die gleiche methodologische Tat vollbracht, die später Hegel und Bergson, einen jeden auf seiner historischen Stufe, zu Bahnbrechern gestempelt hat: er hat den Zusammenhang von Sein und Werden wieder hergestellt, den ein vorläufigeres Denken gewaltsam zerrissen hatte. Açvagoshas erkannte, dass Sein und Werden nur verschiedene Aspekte einer identischen absoluten Wirklichkeit bedeuten; dass also das metaphysische Sein und das Werden und Vergehen zusammenfallen und die Dauer in der Zeit insofern ein Absolut-Wirkliches ist. So ist er auch zu eben dem kritischen Ergebnisse gelangt, zu dem eine gleiche prinzipielle Erkenntnis in unseren Tagen Bergson geführt hat: dass der metaphysische Sinn nicht außerhalb des konkreten Werdens zu suchen sei. Bergson ist bisher nicht weiter gegangen; das Reich des Sollens hat er noch nicht berührt. Aber tut er es einmal, dann wird er wohl Gleiches behaupten, wie Açvagoshas vor 1700 Jahren verkündet hat: dass, sintemalen der metaphysische Sinn nicht außerhalb des konkreten Werdens zu suchen ist, auch alle idealen Forderungen innerhalb desselben zu verwirklichen seien. Damit wird Bergson freilich nichts Neues lehren, da eben diese Anschauung das Leitmotiv aller christlichen Weltanschauung ist. Als jener aber ein Gleiches tat, beschrieb er gegenüber der alt-indischen Weltanschauung, so logisch die Entwickelung war, die ihn dahin geführt hatte, eine regelrechte volte-face: die Stimmung der Weltverneinung schlug in eine der Weltbejahung um.

Wenn das Höchste innerhalb des Werdens — gleichviel auf wieviel höheren Stufen, der des Arhat, des Bodhisattva, des Buddha — verwirklicht werden soll, dann ist den Idealen des Yogis, die alle auf den Wunsch, aus der Erscheinung hinauszugelangen, zurückgehen, ihr eigentlicher Seinsgrund genommen; dann erscheint die Färbung des Samsara als keine düstere mehr, ja dann ist der Geschichte ihr Sinn zurückgegeben oder vielmehr ein neuer, höherer Sinn verliehen. Nach der altindischen Weltanschauung fehlte dem Historischen als solchen jeder Sinn, da sie ein Fortschreiten nur im Verstände des Sich-Befreiens aus der Erscheinung würdigte und keinen empirischen Zustand als solchen über einen anderen stellte; dem Gläubigen der Mahāyāna-Lehre stellten sich geschichtliche Aufgaben. So setzte eine Entwickelung ein, die derjenigen des Christentums bis ins Einzelne parallel geht. Der nördliche Buddhismus eroberte unaufhaltsam die Welt; er empfand es als seine Mission, die Menschheit zu bekehren, während der südliche, gleich dem Hinduismus, sich nie solche Aufgabe zugesprochen hat. Dementsprechend passte er seine Lehren und Methoden den gegebenen Verhältnissen an, und der Geist der Menschenkenntnis und der Politik vermählte sich mit dem der Religiosität; dieses führte mit Notwendigkeit zur konfessionellen Organisation und weiter zur Sektenbildung; und je mehr der pragmatische Gesichtspunkt das Erkenntnisstreben überwog, desto ähnlicher wurde die jeweilige Dogmatik der christlichen. Die Lehren des Christentums und der meisten Sekten des höheren Buddhismus sind dermaßen ähnlich, dass die führenden Missionare zur Ansicht neigen, dieser sei tatsächlich Christentum; eine Fortbildung der Lehre Jesu Christi, nicht Gautama Buddhas.1) Bis zu einem gewissen Grade mag sie zutreffen. Aber die erstaunliche Konvergenz innerhalb der Dogmenentwicklung kann sehr wohl auch ohne direkte historische Abhängigkeit zustandegekommen sein: die Geister des Mahāyāna und des Christentums waren nahe verwandt; so kam es unter ähnlichen Verhältnissen notwendig auch zu ähnlichen Bildungen. Immerhin: von Gleichheit beider Religionen kann schon deshalb nicht die Rede sein, weil die konfessionelle Gestaltung im Falle des Buddhismus keine letzte Instanz bedeutet; sie ist ihm, der hierin bis zuletzt echt indisch geblieben, ein Vorläufiges, ein Übersteigbares. Will man durchaus seinen christlichen Charakter betonen, so muss man sagen: die Mahāyāna-Lehre ist das Christentum, wie es sich unter indischen Weisen entwickelt hätte. Philosophisch steht sie turmhoch über dem Westländerglauben; aber an Effikazität hält sie den Vergleich mit ihm nicht aus. Sie ist zu allumfassend, um eindeutig zu wirken. Die Kirche zumal, die auf ihrer Grundlage in Japan besteht, ist gar unsubstantiell, mehr Kunst als Leben, mehr schöne Form als Sinn. Aber an der ist die indische Lehre unschuldig: diese Kirche ist einzig Japans Werk.

Von allen überlieferten Religionen steht der Mahāyāna-Buddhismus in der Idee der Lehre am nächsten, welche die Gottsucher unserer Tage als Religion der Zukunft herbeibeschwören: er ist wesentlich undogmatisch, hat tiefes Verständnis für den Wert des Kults, schließt keinerlei Erkenntnis aus, hat allen Temperamenten etwas zu bieten; er ist weit und tief, wie der Brahmanismus, und zugleich weltkundig und tatkräftig, wie das Christentum. Aber eben weil er vielleicht ein Zukunftsideal verkörpert, ist er dem gegenwärtigen Zustande nur bedingt gemäß; das erkenne ich desto deutlicher, je mehr ich mit Vertretern dieses Glaubens zusammenkomme. Seine Form ist zu weit, zu wenig anliegend, um Durchschnittsmenschen zu formen; er ist kein entsprechendes Gefäß für eine beschränkte Spiritualität, zumal eine so wenig intellektuell geartete, wie die japanische. Ich glaube nicht, dass irgendeiner unter Japanern, weder unter den heutigen noch unter denen von einst, dem philosophischen Gehalt der Mahāyāna-Lehre je gerecht geworden ist. Sie haben diese einst zu sich importiert, wie sie heute unsere Technik bei sich einführen; von je her haben sie das beste auf jedem Gebiete schnell und sicher erkannt und sich nach Möglichkeit zunutze gemacht. Aber assimilieren kann sich der Mensch doch nur das, was seinem eigenen Naturelle gemäß ist, und das tat im Falle des Japaners die indische Mystik nie; nur das Emotionelle und das Praktische der Mahāyāna-Religion sind in Japan zu Lebenskräften geworden. Alle spezifisch japanischen Sekten des Buddhismus sind wesentlich unphilosophisch, und die unter den geistlichen Herren von heute, die sich mit dem spekulativen Elemente in ihm befassen, tun es als reine Gelehrte; das Lebendige in ihm verstehen sie nicht.

Im übrigen aber sind die Japaner nicht wesentlich irreligiöser als wir, denen sie überhaupt viel ähnlicher sehen, als Chinesen und Indern. Die Gebildeten unter ihnen glauben in der Regel an keine bestimmte Religion, wie die meisten Europäer von heute auch, und hier wie dort sind die einfachen Leute köhlergläubig; beide werden, im Gegensatz zu den Indern, meist zu Agnostikern, sobald ihr Denken sich emanzipiert, weil ihnen der Weg zu Gott durch die Erkenntnis hindurch noch nicht gangbar ist und das Denken die Unmittelbarkeit des Erlebens zunächst beeinträchtigt; ganz gleich den japanischen, haben auch unsere religiösen Führer fast ausnahmslos zu den Typen des Emotiven und des Praktikers gehört, und waren mittelmäßige Denker und Erkenner. Nur tritt das für beide Welten Typische in Japan extremer in die Erscheinung. Vielleicht nur einmal, in der Gestalt des Heiligen Franz, hat der Bhakta bei uns eine vollendete Verkörperung erfahren; unter Japanern unzählige Male; ihr zartsinniges, weiblich nuanciertes Empfindungsleben bot der Liebe eine einzigartige Verkörperungsmöglichkeit. Und selten waren unsere religiösen Führer so extreme Praktiker, wie nicht wenige unter denjenigen Japans. Mir ist heute das Glück zuteil geworden, mit dem bedeutendsten Vertreter dieser letzten Gattung bekannt zu werden, dem Abte Soyen Shaku von Kamakura, dem Haupte eines Zweiges der Zen-Sekte.2) Die Zen-Sekte ist die philosophischeste des höheren Buddhismus; sie lehrt unmittelbares Versenken in Gott, unabhängig von Bücherweisheit und Kult; ihre Theorie ist fast identisch mit der Shankaras, ihre Praxis richtige Yoga-Praxis. Diese Lehre, von Bodhidharma in China eingeführt, war ursprünglich die reinst-indische von allen. Aber gerade weil sie Verinnerlichung und nichts anderes lehrt, hat sie bei verschieden beanlagten Nationen grundverschiedene Ergebnisse gezeitigt, wie denn Yoga immer die vorhandenen Anlagen potenziert. Ihre indischen Bekenner machte sie als Erkenner tief. In China bewirkte sie ein einzigartiges Aufleben des Naturgefühls; die größten Meister der Landschaftsmalerei waren Adepten der Zen-Methodik. In Japan ward sie zur Hauptschule des Heroismus. Die Japaner, denen Philosophie wenig sagt, haben früh erkannt, dass nichts die Seelenkräfte mehr steigert und stählt, als solches Training; so gingen gerade die Krieger, die Samurais, besonders gern zu Zen-Mönchen in die Schule. Hōjō Tokimune, der Held, der die Mongolen-Horden Kublai Khans zurückschlug, pflegte Stunden in Meditation zu verbringen. Noch heute gilt gleiches: mehrere der ersten Männer des heutigen Japan sind Schüler Soyen Shakus gewesen. Ich besuchte ihn in seinem Tempel zu Kamakura. Nie habe ich den Eindruck solcher Innerlichkeit gehabt, gepaart mit gleich martialischer Tatkraft; dieser zartgebaute Mönch ist eine durch und durch militärische Erscheinung. Wie muss er die Truppen begeistert haben, die er durch die Mandschurei hindurch begleitete! — Die Art, wie er das Meditieren lehrt, ist hart. Die Schüler sitzen in einem großen leeren Raum in Buddhastellung beisammen; dazwischen promeniert der Abt, einen Stock in der Hand, und schläft einer ein, so setzt es Schläge; ermüdet einer, so darf er nicht etwa vor Ablauf der Stunde rasten, sondern nur ein paar Male mit erhobenen und gefalteten Händen ernst und schweigend in die Runde gehen. Nachher aber stellt der Lehrer in erbarmungslosem Kreuzverhör fest, ob der Schüler sein Thema wirklich gemeistert hat. — Ich sprach mit dem ehrwürdigen Abt über den Sinn dieses Übens. Er ist ein philosophischer Kopf, der die geistige Bedeutung der Zen-Lehre voll versteht. Aber seine Gesinnung ist die eines Praktikers. Nicht das sei das Ziel, im Lichte zu verharren, sondern im Streben nach ihm seine Kräfte so zu stählen, dass sie allen idealen Aufgaben dieses Lebens gewachsen würden. — Wie westlich ist der Geist, der aus ihm sprach! Ich denke an den amerikanischen New thought: nicht viel anders fasst dieser das Christentum auf, wie Soyen Shaku die Lehre Sakyamunis. Und dann gedenke ich lächelnd-resigniert der Relativität des Wertes aller Begriffsbildung …

1 Man lese: Timothy Richard, The new testament of Higher Buddhism (Edinburgh 1910, T. & T. Clark), Arthur Lloyd, The Creed of Half Japan (London 1911, Smith, Eider & Co.) und das schon empfohlene Werk E. A. Gordons World Healers or the Lotus Gospel and its Bodhisatvas compared with early christianity. Von diesen Werken ist das erstgenannte das geistig bedeutendste, während das letzte den Vorzug hat, von einer Frau zu stammen, die sich mit tiefster Sympathie in die japanischen Glaubensvorstellungen hineingelebt hat. Die spezifische Farbe des japanischen Buddhismus wird derjenige, der selbst nie in Japan war, aus ihrem Werke am ehesten herausfühlen.
2 Seine von Suzuki unter dem Titel Sermons of a buddhist abbot ins Englische übertragenen und 1906 in Chicago bei der Open Court Publishing! Company erschienenen Predigten sind überaus lesenswert.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
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