Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VI. Japan

Tokyo: Das Fremdartige

Gestern, meinem vorletzten Tage auf japanischem Boden, hielt ich den Professoren und Studenten der philosophischen Fakultät einen Vortrag über meine Erfahrungen in der indischen Yoga und über die lebendige Bedeutung dieser Kunst. Die Fragestellung kam meinen Zuhörern befremdlich vor; anscheinend war es ihnen bisher nicht eingefallen, die Weisheit der Alten nicht bloß textkritisch, von außen her, sondern von innen her zu studieren. Aber was einer der Herren mir erwiderte, war sehr beachtenswert: sie (die Japaner) wären an die buddhistischen Grundvorstellungen dermaßen gewöhnt, dass sie unwillkürlich über dieselben hinwegläsen. Genau so, in der Tat, geht es vielen unter uns mit den christlichen, und das ist gewiss ein wichtiges Motiv des Interesses, das Europa jüngst den Religionen des Ostens entgegenbringt. Es ist das Christentum überdrüssig geworden, wie solches irgendeinmal allem Vertrauten gegenüber geschieht, vermag seine Tiefen nicht mehr zu würdigen. Nur das Nicht-Gewohnte wirkt anregend; es löst lebendigere Schwingungen aus selbst dann, wenn die Gleichsinnigkeit des Neuen mit Gewohntem zutage liegt, welche Wirkung sogar bestehen bleibt, wenn unverzüglich (wie überaus häufig geschieht) daran gegangen wird, gewohnte Vorstellungen in das Ungewohnte hineinzudeuten. So finden die japanischen Gelehrten mehr Anregung am Christentum als am Buddhismus und überschätzen jenes dementsprechend, während wir heute zum entgegengesetzten Fehler hinneigen. Aber bedeutet dies einen Einwand gegen das Interesse am Fremden? Freilich nicht; am wenigsten im Fall der Religion. Hier kommt es auf Realisieren an, auf das allein, und wenn eine fremde Form hierzu bessere Dienste leistet als die ererbte, so ist sie selbstverständlich zu übernehmen. Meist bedeutet dies Übernehmen ja doch nur einen Umweg zum Alten zurück, wie denn im Westen schon heute ersichtlich ist, dass die Begeisterung für Indien letzthin dem Christentum zugute kommt. (Keine seiner jüngsten und tiefsinnigsten Auffassungen wäre möglich gewesen ohne noch so unbewusste Beeinflussung durch den Geist der indischen Philosophie.) Im übrigen aber beweist dies Phänomen einmal mehr denn Segen der Nicht-Einförmigkeit.

Der Mensch bedarf eines Fremden, das er überschätzen mag, um seiner Eigenart nicht satt zu werden, sie lebendig zu erhalten und am Erstarren zu verhindern, und dieses Wechselspiel bedingt im Großen die Harmonie. Könnten Dichter gedeihen, wenn sie zu Helden nicht aufschauten? und Staatsmänner, wenn sie jene nicht überschätzten? wären die Deutschen, was sie sind, die universellst gebildete Nation, ohne ihren (heute freilich überwundenen!) Fehler, das Fremde dem Eigenen vorzuziehen? Gerade der, dem es um Zusammenarbeiten zu tun ist, hat am wenigsten Ursache, dem Wahnideal der Uniformierung anzuhangen, denn eine lebendige Harmonie ist nur möglich in der Bewegtheit von Satz und Gegensatz. — Mir wurde, um auf meinen Vortrag zurückzukommen, nach dessen Abschluss eingewandt, dass ich die Belehrung, die mir die Brahmanen gaben, auch von den christlichen Mystikern hätte erfahren können. Darin irrten sich nun freilich die Herren. Wie wahr es im allgemeinen auch sei, dass das Fremdartige als solches stimulierend wirkt, wie häufig es vorkommen mag, dass der Vorliebe für das Indische kein tieferes Motiv zugrunde liegt — die christliche Yoga hat nicht die gleiche Bedeutung für uns Moderne wie die indische; und zwar weil jene ausschließlich mit der subjektiv-emotionalen Sphäre operiert, und durch das Gefühl keine Erkenntnis zu gewinnen ist.

Wer sich in Inbrunst nach der Mutter Gottes sehnt, wird sie einmal vielleicht zu sehen bekommen — aber nie wird sich feststellen lassen, ob das Gesicht einer objektiven Wirklichkeit entspricht. Das Wunderbare an der indischen Yoga nun ist die vollendete Rationalität ihrer Methodik. Wohl wissen wir noch nicht, ob sie mit Sicherheit dahinführt, wohin sie führen soll, und ob die Erscheinungen, die mit ihr zusammenhängen, richtig erkannt und gedeutet sind; aber in allen Fällen besteht die prinzipielle Möglichkeit, die Exaktheit der Behauptungen an der Hand der Lehre selbst zu prüfen. Dies sichert den indischen Lehren zur Selbstvervollkommnung gegenüber den gleichsinnigen christlichen den größeren Wert. Die heutige Menschheit ist schon so sehr intellektualisiert, dass nur mehr Verstandenes Aussicht hat, ihr Innerstes zu ergreifen; und die Inder allein haben verstanden, was aller tiefen Menschen einige Erfahrung war.

Wir Europäer sehen dies mehr und mehr ein. Werden die Völker des Ostens, sofern sie ihrem Erbe untreu wurden, Gleiches tun? — Vielleicht nicht; denn das scheinbar bloße Abwechselungsbedürfnis, welches unserer Indomanie und der japanischen Christomanie zugrunde liegt, beruht seinerseits auf einem Tieferen: dem Gesetz, nach dem eine bestimmte Gestaltung einem gleichen Volk nie zweimal zum Gefäß des Höchsten wird. Die griechische Kunst ist noch heute der Welt ein geistiger Sauerteig, aber nicht Griechen sind es, die sie fortpflegen; das gleiche gilt von der Formenwelt der Renaissance, der byzantinischen und buddhistischen Kunst; eben das von Denk- und Glaubensformen. Auch hier gilt jenes Prinzip der Einmaligkeit, welches alles Leben regiert: jedes bestimmte Wesen als solches muss sterben, und sein Unsterbliches beharrt allein in fortwährender Neuverkörperung. So viel ist jedenfalls gewiss, dass unsere Orientalisierung, und die Okzidentalirung des Orients, welche heute im weitesten Sinne vor sich gehen, ein viel Tieferes bedeuten, als bisher erkannt worden ist; sie bedeuten jene Erneuerung der Ausdrucksmittel, die allein Verjüngung möglich macht. Dass aber ein allgemeines Verjüngungsbedürfnis vorliegt, beweist, dass die Welt tatsächlich wieder neu wird; eine Zeit, die bloß fortsetzt oder abschließt, kennt kein Erneuerungsstreben. Weder Buddhisten noch Christen in ihren historischen Formen stellen Schlussstadien dar, Niedagewesenes will entstehen und sucht krampfhaft, gleich der zum Erdenleben wiederkehrenden Seele, nach passenden Eltern. Offenbar stehen wir am Eingang einer ähnlichen Epoche, wie sie die ersten Jahrhunderte nach Christo bezeichneten. Auch damals fand allseitige Wechselwirkung statt, auch damals vermählten sich Ost und West und wie damals so wird auch diesmal der Erfolg eine Erweiterung der Lebensbasis sein. Denn wenn die Gestaltungen, die aus der Verschmelzung hervorgingen, an sich noch so ausschließlich waren — Christentum sowohl als Buddhismus sind, was sie sind, nur als Erben alles des, was ihnen vorausging.

Allein die verschiedenen Entelechien an sich werden ewig verschieden bleiben; die jeweiligen Gründe von Ost und West sind unvertauschbar, unübernehmbar;1) assimilieren wir uns das Wissen jener, so bedeutet das nicht, dass wir uns seine Seele aneignen, sondern dass wir unserer eigenen neue Organe schaffen, und gleiches gilt mutatis mutandis für den Orient. Betrachten wir das Problem der Beeinflussung, wie solche zu kritischen Zeiten stattfindet, hinsichtlich dessen, was sie für eine gegebene Seele bedeutet, so gilt der Satz: fern davon, Wesensveränderung zu bedeuten, stellt Übernahme des Fremden vielmehr den zu gewissen Perioden kürzesten Weg zur Selbstverwirklichung dar. Wir wären nie zu Westländern geworden, wenn die Germanen nicht einst einen syrischen Glauben übernommen hätten; wir werden uns auf unserer Bahn vollenden erst nach Befruchtung und Verjüngung durch den indisch-chinesischen Geist. Hoffentlich liegen die Dinge in Japan ebenso. Die Regeneration, die der fremde Einfluss auf die Dauer bewirkt, wird unabwendbar durch eine Periode scheinbaren Niedergangs eingeleitet; so wird es wohl noch ein Weilchen dauern, bis dass die Japaner mit unseren Mitteln selbständig schaffen werden: heute wirken sie noch unlebendiger als wir. Auch wir sind ja noch Sklaven unserer Erkenntniswerkzeuge. Die spezifisch-europäische Yoga (die Beobachtung der Außenwelt) hat zur Erschaffung eines ungeheueren Apparats geführt, den zu beherrschen es einer gleichwertigen Innerlichkeit bedürfte; und diese fehlt auch uns noch eben deshalb, weil unser Streben bisher nach auswärts gerichtet war; auch wir werden, Goethes Zauberlehrling gleich, von den Geistern geknechtet, die wir erschufen. Dass nun unsere Gebrechen bei den Japanern noch deutlicher zutage treten, ist nur natürlich. Früh oder spät, und wahrscheinlich schneller als man denkt, werden auch sie sich, auf ihre Weise, von Knechten zu Herren hinaufarbeiten.

Für uns nun aber ist gerade die Unzulänglichkeit der Japaner auf unserem Wege interessant; sie ist vielleicht bedeutsamer für die Menschheit überhaupt, als ihre größten Triumphe wären: sie illustriert mit unvergleichlicher Deutlichkeit das Haupt- und Grundgebrechen der Zivilisation, welche heute die Welt erobert. In der Tat, die Enthusiasten des Fortschritts zielen auf eben das, was den modernen Japaner entwertet, als auf einen Idealzustand hin. Was sie überwinden wollen, ist nicht ihre Roheit sondern ihre Menschheit, den ererbten Glauben, dass kein irdischer Gewinn der Seele Schaden aufhebt, wonach sie streben, ist jenes Dasein rein-instrumentalen Charakters, das der verwestlichte Ostasiate verkörpert. Dieser steht heute ohne jeden kulturellen Ballast da; er sieht in seinem Menschen nur ein Mittel, um reich und mächtig zu werden, glaubt schlechterdings nur an den Erfolg. Und hat vollkommen recht damit, sofern seiner Weltanschauung überhaupt Berechtigung zugestanden wird, denn von allen Menschen, die es je gegeben, hat er bei weitem die schnellste Karriere gemacht. Dank absoluter Hingabe an das rein-Äußerliche hat er in einigen dreißig Jahren vollendet, wozu das idealbeschwertere Europa Jahrhunderte benötigt hat: also liegt es in der Natur dieser Zivilisation, dem Seelenlosen am holdesten zu sein.

1 Man vergleiche hiezu meine Rede Über die innere Beziehung zwischen den Kulturproblemen des Orients und Okzidents, Jena 1913, wieder abgedruckt in der Philosophie als Kunst, Darmstadt 1920.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VI. Japan
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