Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Auf dem Stillen Ozean: Tathagata

In der Tat, wer bin ich? — Wieder klingen die alten Probleme an; nur dieses Mal undeutlicher, unbestimmter als sonst, als würden die geistigen Schwingungen von den Schwellungen des Weltmeers gedämpft. — Vom Phänomen her gesehen, bin ich die Vorstellung, die mich jeweilig beherrscht. In metaphysischem Sinne existiere ich, Hermann Keyserling, wohl überhaupt nicht. Es gibt nichts Konkretes in mir, dass nicht in mir entstanden wäre und vergänge, nichts, dem sich nicht entwachsen, das sich nicht ändern ließe, mit dem ich mein Ewiges identifizieren könnte. Alle und jede Erscheinung ist Natur, vom Charakter bis zur Stimmung des Augenblicks; was ich als mich betrachte, ist der Fluss meiner Vorstellungen, wie er sich darstellt in einem gegebenen Augenblick. Diese Vorstellungen nun sind bald inneren, bald äußeren Ursprungs, und welche von ihnen zum Träger meines beharrlichen Ichbewusstseins wird, hängt nicht von ihrer Herkunft ab, sondern davon, mit welcher Intensität ich sie verkörpere; die Verkörperung ist das ausschlaggebende Moment. Darnach bestände, vom Atman her gesehen, zwischen der Originalität des Genies und dem Gehorsam des Kindes kein Unterschied. Nun ist aber keine Verkörperung dauerhaft; das einzig Beständige ist die Richtung, welche die Serie der Inkarnationen einhält. Diese allein also wäre schlechthin inneren Ursprungs, könnte allenfalls als das Selbst gelten; oder dieses Selbst wäre das, was eine Wandlung in bestimmter Richtung bedingt. Allein mit dieser Auffassung sind die Verständnisschwierigkeiten nicht gehoben. Gesetzt, ich wäre die Richtung oder das richtunggebende Moment: dieses Selbst ist dann jedenfalls nichts Persönliches; gleichviel, ob es im letzten Grunde eine Ansicht des Alleins oder eine selbständige Monade sei — hierüber sind alle Auseinandersetzungen müßig — es ist nicht das, was irgendein Mensch als Ich empfinden könnte. Hier setzen denn die Schwierigkeiten des Unsterblichkeitsgedankens ein. Das Problem der Fortdauer ist natürlich ein phänomenologisches, kein metaphysisches Problem, aber gerade als solches spottet es jeder begreifbaren Lösung, weil das, was als persönliches Ich empfunden wird, der Knotenpunkt unendlich vieler Tendenzen ist, von denen das Selbst nur eine bezeichnet, und gerade die unter ihnen, die am meisten persönlich betont erscheinen, so die Meinungen, Gefühle, Gedanken und Willensentschlüsse, nachweislich nicht ins Unendliche auslaufen.

Am einfachsten läge die Frage, wenn ich mich als meine Aufgabe oder mein Ideal oder meinen Weg zu ihm betrachten dürfte: in dem Falle lebte ich buchstäblich fort in der fortschreitenden Wirkung meiner Ideen; in dem Falle fiele die Unsterblichkeit Jesu z. B. mit der Entwicklung des Christentums zusammen. Heute liegt mir diese Auffassung näher als jede andere. Seit meiner frühesten Kindheit diene ich einem Ideal, das ich zwar anfangs nicht bewusst erkannt hatte, das aber doch damals schon meinem Lehen die Richtung gab; von Anbeginn an habe ich das intime Bewusstsein des Sollens gehabt (das sich im Einzelfalle als ein solches des Dürfens oder Nichtdürfens äußerte), und dieses Bewusstsein dominiert so sehr, dass ich noch heute, obgleich sonst durchsetzerisch genug und ohne jede Neigung zur Aufopferung, meine Person unbedenklich hingeben würde, wenn ich einem begegnete, als dessen Diener oder Werkzeug ich die Aufgabe glaubte besser fördern zu können. Meine Aufgabe also wäre mein eigentliches Ich; als die Wirkung, welche die gelöste Aufgabe ihrerseits auslöst, würde ich nach meinem Tode fortdauern. Im Falle ich nun meine Aufgabe nicht ganz erfüllen und mich folglich in meiner Wirkung nicht erschöpfen könnte, wäre das Eintreten einer weiteren Fortlebensmöglichkeit denkbar: mein persönliches Bewusstsein fiele mit der gleichen Aufgabe ein zweites Mal zusammen. Dass es keine solche Wiederverkörperung gibt, kann niemals bewiesen werden, da der Nächste, der die gleiche Aufgabe antritt, wiederum als Ich empfände, und also die Form sowohl als der wesentliche Inhalt des Bewusstseins in beiden Fällen identisch wären — wenn es auch ebenso wenig zu beweisen ist r dass sie tatsächlich stattfindet. Mir persönlich liegt, wie gesagt, keine Auffassung heute näher als die, dass eine objektiv wirkliche Idee durch verschiedene Verkörperungen hindurchschreitet; dass der Mensch genau so unsterblich ist wie sein Ideal und genau so wirklich wie die Kraft, mit der er ihm dient; ich kann nicht glauben, dass Fortdauer unvermeidlich sei. Die Meisten sind nach dem Tode wirklich tot, d. h. sie sind keine Bewusstseinsträger mehr, gleichviel ob sie objektiv fortexistieren; nur wenige überdauern eine begrenzte Geschichtsperiode. Ersteht aber einer der eine grundlegende Weltidee in seiner Person zu verkörpern weiß, wie dies Buddha und Christus vermocht haben, dann lebt er persönlich fort in alle Ewigkeit.

Das sind indoide Gedanken. Nichts ist charakteristischer für eine Weltanschauung, als welchen physischen Hintergrund sie fordert, hervorruft oder verträgt. Ich wollte hier auf dem Ozean mit der Lektüre der Bibel beginnen, um auf diese Weise auch geistig nach dem Okzident zurückzuschwenken; allein aus diesem Plan ist nichts geworden und wird nichts werden, solange mir das Weltmeer gegenwärtig ist. Gegen diese Weite gehalten, wirkt die Zuspitzung, die das Bewusstsein im Christentum erfahren hat, als Beschränkung, die das ganze Ambiente Lügen straft. Ich habe es schon ausgesprochen und wiederhole es hier, dass vom Standpunkte des Handelnden, Schaffenden das Christentum tiefer als der Buddhismus ist, weil jene Lehre den Handelnden tiefer macht; die Gottheit ist auch so zu finden, dass man die Erscheinung zur äußersten Vollendung zu bringen trachtet, ja für jeden Nicht-Kontemplativen ist dies der kürzeste Weg zu Gott. Wer nun auf Leistung bedacht ist, der muss auch auf sich halten, der muss sich sogar überschätzen, da sonst die Tatkraft erlahmt; daher ist es kaum zu vermeiden, dass sich der Karma-Yogi als Individuum überschätzt und missversteht… Aber auf dem Ozean ist die Stimmung des Handelnden nicht lebensfähig; dort zentriert sich das Bewusstsein unwillkürlich im All, wie der Tropfen im Meer, allen Eigenwillen verleugnend. Nicht so zwar, dass es sich über alle Erscheinung hinausschwingt, sondern so, dass es nur bei den ganz großen phänomenalen Zusammenhängen verweilen mag. So entstehen auf dem Weltmeer unwillkürlich buddhistische Gedankengänge: denn keiner hat den Zusammenhang der Erscheinungen tiefer erfasst und eindrucksvoller dargestellt, als der Tathagata.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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