Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

Am Kilauea-Krater

Ein Schauspiel wie dieses mochte der Mond wohl bieten, bevor er erloschen war; auf Erden gibt es nichts Ähnliches. Ein Vulkan, jedoch kein feuerspeiender Berg, sondern ein Feuermeer; ein Meer, wie es manchmal im Norden tobt, wenn die Frühlingsstürme die Eisdecke zerschlagen haben. Ein wildes Gewoge, Geschäume, Gespritze, Gewirbel um die schmelzenden Schollen herum. Und die Lava rauscht und singt, als ob sie die See wäre.

Bei Tage ist das Schauspiel nicht allzu eindrucksvoll; der Kessel ist weit, aber doch begrenzt, das Material wirkt so übermächtig, dass man unwillkürlich an Hochöfen denkt und die aufgestörte Phantasie ihre Steigerung nicht dem Unendlichen zu, sondern nach der Richtung des Begrenzten hin vollendet. Aber seitdem die Sonne sank, wird das Bild von Stunde zu Stunde gewaltiger. Der Kraterrand ist unsichtbar geworden; die Schlacken sind undurchsichtig; es scheint, als hebe das Feuer sich vom unendlichen Welträume ab; man glaubt aus nächster Nähe dem Gesiede der Sonne zuzusehen. Einen Augenblick wird mir unheimlich zumut: solches zu sehen, ist dem Menschen eigentlich versagt; ich sollte beim ersten Hinblicken verzehrt worden sein. Statt dessen liege ich ungefährdet am Rande des Feuerschlundes und sehe gemächlich, wie ein Gott, dem Beginn der Dinge zu.

Jemand spricht von der Hölle. Dies ist ein Gleichnis, das mir hier nie in den Sinn käme. Der Vesuv mag es wohl heraufbeschwören, weil er einer reichen Welt des Lebens mit Verderben droht; dort symbolisiert das Feuer wirklich den Tod. Hier jedoch kann vom Tode nicht die Rede sein, weil Leben noch gar nicht vorhanden ist; hier wohnt man jenen Urereignissen bei, zu deren Zeit es noch keines gab. So empfindet man am Kilauea weder Entsetzen noch Entzücken, keine menschliche Stimmung kann hier bestehen; mir ist zumute, wie dem Urgeist zumut gewesen sein mag, da er über den Wassern schwebte. Ich denke mir: wenn ich mich in dieses Feuer hinabstürzte, unmöglich könnte ich dadurch zu Schaden kommen; denn da ich hier zuschauen kann, so bin ich offenbar ein Geist. Dieses Feuer hat überhaupt nichts Feindliches; kein Urfeuer hat dieses an sich selbst. Wenn alle westliche Mythe das Vulkanische mit der Hölle assoziiert und ihre häßlichsten Ausgeburten dem heiligsten der Elemente zugeteilt hat, so liegt das daran, dass deren Erfinder zum Vulkanischen nie in ein Verhältnis getreten waren; sie kannten es nicht. Wozu später die barbarisch-christliche Gepflogenheit trat, alle Natur nur als Mittel zum Zweck zu deuten, als Werkzeug zur Belohnung oder zur Bestrafung. Die Hawaiianer haben hier besser gedichtet. Der Mythos des Kilauea lautet wie folgt: Pele, eine wunderschöne Maid, hat sich einst in das Feuermeer gestürzt, um einem häßlichen Freier zu entrinnen. Seitdem lebt sie darin als dessen Seele, zugleich als Schutzgöttin des ganzen Archipels. Nie bricht der Kilauea aus ohne triftigen Grund: in Weisheit lenkt Pele des Landes Geschicke. Sie hat Kamehameha auf den Thron gebracht, indem sie dessen Feinde im Schwefeldampf erstickte, und nie tut sie dem Schuldlosen ein Leid. Sie ist eine gütige Göttin; kommt je und je der Augenblick heran, wo sie aus inneren Gründen aufbrausen muss, dann warnt sie ihre Kinder beizeiten. Sogar den Weißen, die doch schlecht mit ihr umgehen und ihr mehr als einmal näher kamen, als Ehrfurcht erlaubt, ist noch nie durch sie ein Unglück widerfahren; mehr als einmal sind verwegene Steiger, die schon im Abstürzen begriffen waren, dem Tode doch noch entronnen, was ohne übernatürlichen Eingriff nie geschehen wäre.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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