Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VII. Nach der neuen Welt

An der Bai von Waikiki

Die Hellenen wiesen den Seligen eine Insel zur Heimstatt an: was bewiese wohl besser ihr naturhaft-sicheres Einbildungsvermögen? — Im menschlichen Sinne möglich ist nur das Vorstellbare; vorstellbar aber erscheint ein Dasein, wie es die Seligen führen sollen, nur auf einsamer Insel im Meer. In vollendeter Abgeschiedenheit sind schweifende Wünsche nicht lebensfähig; dort ereignet sich nichts, was zur Geschichte werden könnte, dort bedeutet die Zeit nichts mehr. Der erdgebundene Mensch, zumal der Grieche mit seinem unbezähmbaren Schaffensdrang, würde seelisch verschmachten an solcher Statt; den Seligen, Wunschlosen, Zeitentrückten bedeutete es das Paradies.

Das Leben auf Hawaii nimmt unwillkürlich den Charakter der Mythe an. Der Europäer, der wesentlich geschichtliche Mensch, wirkt hier wie eine Fliege auf einem Aquarell. Die Hawaiianer jedoch, die im Bilde sind, kommen mir seltsam unwirklich vor; oder wirklich vielmehr im Sinn des Traumerlebnisses. Es besteht kaum ein Unterschied zwischen dem, was ich mit Augen sehe, und dem, was ich in den alten Heldensagen lese. Diese Menschen sind so, wie sie nur im Mythos lebensfähig scheinen: warmherzig und sorglos, leichtsinnig und gut, von Fest zu Fest ihr Leben vertändelnd; dabei aber furchtbar im Krieg, grausam, mitleidslos, wenn er zum Streite kommt. Sie leben einerseits von dem, was Baum und Strauch ihnen gutwillig darbringen, harmlos wie Schmetterlinge, — sind andererseits Menschenfresser, waren es wenigstens vor hundert Jahren noch. So waren auch die olympischen Götter. König Kamehameha, der Alexander der Südsee, dessen Taten tausend Lieder feiern, war ein Herrscher wie Zeus, groß, gewalttätig, grausam, dabei aber auch gut und harmlos, leichten Sinnes, im ganzen unverantwortlich wie ein Kind. Die Kämpfe, die unter seiner Führung stattfanden — Kämpfe blutigster Art, bei denen ganze Stämme zugrunde gingen — waren doch mehr als Turniere gemeint, denn als ernste Schlachten; oder als Schlachten, wie die Götter sie vor Troja untereinander geschlagen haben. Diese Menschen von Fleisch und Blut nahmen den Tod nicht ernster als die Olympier.

So sollen die ersten Menschen gewesen sein nach den gleichlautenden Berichten aller Mythen. Dass sie wirklich so gewesen wären ist wohl auszuschließen, aber höchst bedeutsam scheint mir, dass dies der Charakter ist, den die Dichtung ihnen ausnahmslos beigelegt hat. Die ersten Menschen waren nicht primitiv, sondern Götterkinder, und das heißt: mehr und weniger zugleich als es die Menschen sind. Dass die Götter — oder genauer diese Götter, die Divinitäten vom Schlage der Olympier — sowohl mehr, als auch weniger sind als wir, geht aus allen Mythen gleichsinnig hervor. Aber die Inder allein haben zu zeigen gewusst, worin dies plus und dies minus bestehen: von den drei Elementen, sattwa, rajas und tamas, welche die Welt zusammensetzen sollen, geht das zweite, rajas, die Energie, im Übermaß in den Bestand der Götter ein, während das dritte, die Inertie, ganz fehlt. Sintemalen nun gar keine Trägheit vorhanden ist, die Kraft also gar keinen Widerstand findet, sind die Götter, bei allen Vorzügen, die vollkommene Ungebundenheit gewährt, in zwiefachem Sinne doch beschränkt: sie sind oberflächlich, unverantwortlich, da kein Tun sie innerlich berührt, was immer es in anderen Sphären anrichten mag; und sie sind unfähig über das Göttertum hinauszuwachsen. Während also der Mensch gerade dank dem Geiste der Schwere sich bis zur Erleuchtung (dem Vorherrschen der Sattwa) durchringen kann, gelingt dies dem Gotte nur dann, wenn er als Menschenkind wiedergeboren wird und die Gelegenheiten dieses Standes ausnutzt. Ich wüßte keine bessere Bestimmung dessen zu denken, was dem Begriff eines Naturgottes entspricht; genau im indischen Sinne ist ein solcher wirklich weniger als der Mensch. Und genau in dem Sinne ist der Urmensch, das Götterkind, sowohl mehr als auch weniger denn wir. Uns aber fällt vor allem das mehr in die Augen, wie solches denn immer geschieht, wo ein wirklicher Zustand mit einem bloß vorgestellten verglichen wird, deshalb bedeutet uns der mythische Urzustand ein Ideal. Wir sehnen uns nach Unbeschränktheit, nach Verantwortungslosigkeit, gleichviel welchen Preis wir dafür zu zahlen hätten — eben weil unser Leben ganz Verantwortung ist. So ertappe auch ich mich dabei, dass ich den Hawaiianer bewundere; es dünkt mich bloß übermenschlich, nicht auch untermenschlich, so göttermäßig leben zu können. —

Dieses schreibe ich in tiefer Nacht, von einem hawaiianischen Festmahl eben heimgekehrt. Es war wild und stimmungsvoll zugleich. Mit seltsam ergreifender Stimme trug ein Barde uralte Sagen vor, während wir Gäste, um eine einzige Schüssel geschart, wie Tiere mit den Händen die Fische zerrissen und federngeschmückte Tänzerinnen ihre Unterleiber in wahnsinnigen Kurven einherschwenkten, ohne dass Oberkörper und Kopf nur die leiseste Bewegung dabei verraten hätten.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VII. Nach der neuen Welt
© 1998- Schule des Rades
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