Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

San Francisco

Im Westen zurück. Wie gut, dass ich als Erstes den fernen Westen zu Gesicht bekam! Diese Welt ist so extrem okzidentalisch, dass die innere Umstellung, deren es bedarf, um in sie einzudringen, die Bilder des Orients selbsttätig verdrängt. So sehe ich mich über den unglücklichen Übergangszustand, da das Bewusstsein von Altem und Neuem in unreinem Gemenge übervölkert ist, auf einmal hinausgehoben.

Am ersten Tage nahm ich den Tee, in der Vorstellung, ich müsste noch am- gestern haften, in dem entzückenden japanischen Teehaus, das dem Spaziergänger am goldenen Tore Rast gewährt. Was kam mir da als erstes in den Sinn? dass die gezwergten Bäume sich darnach sehnten, zu Riesen auszuwachsen! Nie kam mir solche Vorstellung in Japan; sie ist dessen Geist zuwider. Also hatte ich schon am ersten Tag das Verhältnis zum Orient verloren. Die Luft Kaliforniens muss eine ungeheure Bildungskraft besitzen. Ich beobachte, was in mir vorgeht: es ist eine richtige Metamorphose. Das Bewusstsein des Seins tritt zurück, es potenziert sich dasjenige des Werdens; und schon treten die Imperative in den Vordergrund, die im Subjektiven überall die objektiven Naturtendenzen spiegeln: man soll werden, soll wachsen, soll fortschreiten; offenbar lag dieses Sollensgefühl meinem Eindruck zugrunde, der vom so ganz unwahrscheinlichen Wachsenwollen der japanischen Zwergpflanzen kündete. Dabei fällt mir ein, dass ich im Osten niemals gesollt habe. Wäre ein Kant, ein Fichte, im Orient möglich gewesen? Ich glaube nicht. Wo das Bewusstsein des Seins überwiegt, dort ist die Not des Entstehenwollens unbekannt; dort können Homunkulusgefühle nicht aufkommen; dort scheint es unnötig zu gebieten: Werde was du bist. Der Tatbestand ist dort wie hier prinzipiell der gleiche, allein der Mensch stellt sich anders zu ihm. Der Missetäter im Osten kennt kein Sündigkeitsgefühl, der Streber hat dort dennoch Geduld; wer sich noch so brünstig nach Vollendung sehnt, sich der Unzulänglichkeit der Gegenwart noch so bewusst ist, verspürt doch selten den inneren Drang, die Entwickelung abzukürzen. Man sagt, der Orientale habe Zeit. Die Wahrheit ist, dass ihm das Zeitbewusstsein fehlt; deshalb stellen sich ihm die Wesensprobleme unabhängig von ihrer temporellen Aktualisierung. Nie würde ein Chelā es aushalten, ein Menschenalter bei seinem Guru abzuwarten, ob er nicht der Erleuchtung teilhaftig würde, wenn die Zeit ihm ein Wirkliches wäre; wo sein Bewusstsein überhaupt an der Erscheinung haftet, also z. B. im Zustand der Verliebtheit, ist der Hindu nicht geduldiger als wir. Das Typische für den Inder ist eben, dass er sich seines eigentlichen Seins als solchen normalerweise bewusst ist, so dass der Sünder sich wesentlich als Heiliger fühlen kann, der Anfänger als Vollendeter, der Narr als Weiser, weshalb es nicht unerlässlich erscheint, das Sein im Werden auszuprägen. So haben weder die indischen, noch die chinesischen Weisen in unserem Sinn Gebote aufgestellt; sie haben gesagt: wenn du das tust, so wirst du vollendet; wenn du so bist, dann hast du es erreicht; wenn du den Fehler begehst, dann wird deine Entwickelung aufgehalten. Nie sagten sie: du sollst das tun. Der Orient kennt kein Sollen, weil er ist; wir, die unaufhaltsam werdenden, sehen das Sein in der Form eines Gesollten vor uns. Wie seltsam, wieder einmal zu sollen!

Nun werden neue Werte zu bestimmenden: die Leistung wird entscheiden über den Wert des Seins, der Erfolg über den des Wollens. Nun erhält die Erscheinung einen absoluten Sinn, da das Absolute in ihr zum Ausdruck kommen soll. Die Zustände des Daseins stellen sich nicht mehr als gleichwertige Gegebenheiten dar: nun ist der Reiche mehr als der Arme, der Starke mehr als der Schwache, der Weise mehr als der Narr. Es gilt nicht mehr, eine gegebene Stellung auszufüllen, sondern die denkbar günstigste zu erringen. Welche Daseinsform ist vorzuziehen, die östliche oder die westliche? Darf ich noch urteilen? schon bin ich nicht mehr unbefangen; schon will ich so stark wieder werden, entstehen, erschaffen, gestalten, vollenden, schon füllt das Wollen als solches so sehr mein Bewusstsein aus, dass ich mich in eine andere Existenzart nur schwer hineinversetzen kann. Aber soviel scheint wohl unbestreitbar: für diese Welt hat der Westen das bessere Teil erwählt. Um das Recht, das ideell ewig gilt, zur Geltung zu bringen, bedarf es der Gewalt, an sich selbst ist es machtlos; zur Darstellung noch so wahrer Ideen sind materielle Mittel nötig. So sehr die östliche Lebensmodalität dem Erkenner frommt, zur Umsetzung des Erkannten in Taten ist die westliche besser. Vom Standpunkte dieser Welt ist es Chimäre, wenn der Sünder sich als Heiliger fühlt — es muss heilig werden, seine Erscheinung ändern, wenn es sein Wesen hier verwirklichen will. Das Werden aber beherrscht nur, wer es ernst nimmt, sich bewusst mit seinen Phasen identifiziert; nur der beschleunigt es, wer seinen Willen fest aufs Ziel richtet, und dies vermag nur, wer es in Form eines irgendwie Gesollten vor sich sieht. Die Inder, in der Ideenwelt zu Hause, haben sich nur treiben lassen vom Strom des Geschehens. Wir wissen ihn zu lenken.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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