Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Im Yosemite-Tal

Wirklich entrückt bin ich dem Orient doch noch nicht: er bildet den Hintergrund meines Abendländer-Erlebens, dank welchem dieses ein Relief erhält, das ihm sonst abging. So finde ich es nicht selbstverständlich, es fällt mir auf, dass mein Selbstgefühl sich mehr und mehr in den Grenzen meiner Person zusammendrängt. Großartig ist die Natur, die mich umgibt; in gleicher Landschaft, in Indien oder in China, hätte ich mein Ich schon längst im All verloren. Mit den Felsen würde ich mich lasten fühlen, die in steiler Mauer das Schwemmland des Yosemite einfassen; ich erlebte mich als Seele der Fälle, deren Wassermassen nach vielhundertfüßigem Sturz das Tal als zartes Nebelbild erreichen; in jeder Tanne strebte ich himmelwärts. Hier bin ich nicht selbstverständlich eins mit dem, was mich umgibt; ich scheide zwischen mir und den Felsen, die Wasserfälle sehe ich außer mir, der Geist der Wälder ist mir ein Du. Und versetze ich mich absichtlich in das hinein, was doch wesentlich zu mir gehört, so ist mir, als eroberte ich es. Mein Weltgefühl äußert sich als Trieb zur empirischen Expansion. Ich kann nicht mehr hinein in die Natur, ohne mein Ich mit hineinzunehmen; dessen Gewebe scheint zu dicht geworden, als dass es sich als Geist in ihr verbreiten könnte.

Dementsprechend gesteigert erscheint mein Daseinsgefühl. Die Kraft, welche jüngst erst den Weltraum ausfüllte, ist nun in den Grenzen meines Individuums zusammengedrängt. Dadurch erhält dessen Energie einen Stärkegrad, wie ich ihn in Indien niemals erlebt habe. Wohl bin ich ursprünglich nicht eins mit der Welt rings um mich her, doch was sollte mich hindern es zu werden? Warum sollte ich den Himmel nicht erstürmen, den Erdkreis nicht einnehmen? Mir ist, als vermöchte ich alles, was ich nur will, und es drängt mich, es zu beweisen. — Dieses also wäre der Sinn des westlichen Eroberertums! Wir stellen das Problem im Rahmen von Raum und Zeit, das der Inder unabhängig davon zu lösen trachtet, aber es ist doch ein gleiches Problem! Ich fühle mich auch nicht oberflächlicher geworden, als ich in östlicher Gestaltung war, wenngleich die bestimmten Aufgaben, die sich mir stellen, allesamt an der Oberfläche der Dinge haften. Wie seltsam, dass ein gleicher innerer Sinn so grundverschiedenen Ausdruck finden kann: dort als mystische Erkenntnis, hier als Trieb zur Eroberung; dort als allverstehendes Genügen, hier als blinder Drang zum Erwerb. Aber der Sinn ist wohl überall Einer, und es hängt von den Umständen ab, ob er als Raubtier oder als Reh, als Selbstlosigkeit oder Begehren, als Verstehen oder Tun zutage tritt.

In Kalifornien wird mir zum erstenmal deutlich bewusst, welcher Art die Verhältnisse sind, die das Phänomen des Westländers ermöglichen, denn hier treten sie in extremer Ausprägung zutage. Diese Luft ist ungeheuer vitalisierend; noch nie habe ich über gleich viel kinetische Energie verfügt. Und fasse ich den Eindruck meines inneren Erlebens mit der Anschauung der Pflanzenwelt zusammen, dieses wahrhaftigsten Ausdrucks der elementaren Lebensbedingungen, so erkenne ich unmittelbar, inwiefern das Vitalisierende dieser Welt anderen Sinnes ist als das der Tropennatur. Nirgends scheinen die äußeren Verhältnisse der Flora günstiger zu sein, als in der Treibhausatmosphäre Ceylons; dennoch bedeuten sie für das Leben, von dessen Standpunkte aus, kein Optimum. Dort ist es niemals stark; das Individuum ist nicht ausgeprägt; unaufhaltsam wuchern die Elemente über den Plan des Ganzen hinaus, das vereinigende Band erschlafft, der Intensitätsfaktor leidet. Bei Gewächs und Mensch tritt Gleiches in die Erscheinung: bei abnormem Ausbreitungsvermögen Konzentrationsmangel. Die Grenze zwischen Individuum und Gattung verschwimmt, das Einzelne verliert sich in der Masse. Gleich den Lianen wuchern die Geschlechter, wie das Unkraut die Gebilde der Phantasie; nur ausnahmsweise kommt es zu scharfumrissenen, innerlich festen, starken und eindeutigen Gestalten. — In Kalifornien drängt alles zur Individualitätenbildung. So günstig die äußeren Umstände seien, das innere Moment dominiert. Der fabelhaft fruchtbare Boden treibt keinen Dschungel, sondern einzelne Baumriesen hervor.

Die größere Individualisiertheit, die den Westen dem Osten gegenüber auszeichnet, bedeutet sonach weniger Beschränkung, als Potenzierung der Lebensmöglichkeiten; oder genauer ausgedrückt: der Verlust an üppigem Reichtum kommt der inneren Spannkraft zugute. Gleichwohl spüre ich es hier mehr denn je, gerade hier, wo sich die Natur dem Westländersinn am holdesten erweist, inwiefern der Orient uns voraus ist. Es fällt mir über die Maßen schwer, ein geistiges Dasein zu führen; nur mit übergroßer Anstrengung kann ich mich hier auf Ewigkeitsprobleme konzentrieren; die große Natur um mich herum findet kaum ein Echo in meiner Seele. Das liegt nur zum geringen Teil daran, dass ich mich in der Wildnis befinde, in einer Welt, in der noch nie gedacht ward; es liegt hauptsächlich an den intimen Vorgängen, die sich in meinem Organismus abspielen und dem Bewusstsein übermächtig aufdrängen. Ich spüre mich wiederum wachsen, als ob ich mein physisch-organisches Leben neu begänne; ich fühle mich in den Zustand zurückversetzt, da meine Lebenskraft mit der Bildung des Körpers vollauf beschäftigt war. Aller Geist scheint im Körperlichen gebannt. Dementsprechend ist alles Streben stoffgebunden; wollte ich jetzt himmelan, ich könnte es nur im Sinn der Tanne tun. — Unsere Welt ist eine Kinderstube verglichen mit der östlichen. Seltsam, dass derartiges einem an Bäumen so deutlich werden kann. Sie sind doch alt genug, diese Riesen, die doppelt und dreimal so hoch, wie in Europa, über den Erdboden hinausragen. Aber sie gehören einer jungen Rasse an. Sie sind ein Urausdruck des Lebens, gleich den vorsintflutlichen Riesentieren. Ich würde mich kaum sonderlich wundern, wenn hier ein Megatherium meinen Weg kreuzte, und kein Schauer der Ehrfurcht vor grauem Altertum überkäme mich dabei, sondern ein Gefühl heiterer Befriedigung darüber, wie jung diese Welt noch ist.

Wir sind mehr materiell als spirituell gesinnt, weil wir aus der Periode physischen Wachstums noch nicht heraus sind; wir sind Materialisten im Sinn von Kindern. Aus eben dem Grunde äußert sich unsere Energie zunächst hauptsächlich in blindem Tätigkeitsdrang. Lebte ich länger in diesem Land, auch ich entwickelte mich wohl zum Unternehmer; mein Geist bildete sich mehr und mehr der Materie ein, und die Idealität des Philosophen verwandelte sich in die des Conquistadors. — Ich kann nicht behaupten, dass diese Welt mir persönlich kongenial wäre. Und doch bin ich mir über Eines klar: ist es das Streben des Geistes, die Erscheinungswelt zu durchdringen, ist es Bestimmung des Menschen, diese Durchgeistigung herbeizuführen, dann hat unser Materialismus mehr Zukunftswert als der Spiritualismus Hindustans. Dieser steht der Natur machtlos gegenüber. Er meistert sie nicht; darum kann er sie nicht spiritualisieren. Uns kann dies gelingen. Nur führt unser Weg zunächst ins Herz der Materie. Wir müssen hinein, hindurch durch alles das, worüber der Osten sich hinausschwang. Wir müssen zeitweilig Materialisten sein.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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