Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Im Yosemite-Tal: Raubwirtschaft

In diesen Wäldern ist kein höherer Menschenschlag denkbar, als derjenige Lederstrumpfs. Prachtvoll heben sich Roughriders, Indianer und Cowboys vom Hintergrund der wilden Landschaft ab, in der alles so groß und so weit und zugleich so einfach ist; geistigere Typen wirken als Kümmerer. Hier gilt es kühn und geschwind, entschlossen und skrupellos sein; die Prospektortugenden sind die Tugenden schlechthin. Wie sehr lebt der Conquistador im modernen Amerikaner fort! Raubwirtschaft treibt dieser mit Wald und Feld, Raubwirtschaft mit den Menschen. Er ist kaum weniger freizügig und ungebändigt, wie einst der Trapper.

Ich versetze mich in jene Knabenjahre zurück, da nichts mich mehr vergnügte, als im Walde zu schweifen, da die Jagdpassion meine stärkste Leidenschaft war und der reisende Abenteurer in fernen Weltteilen mein verstiegenstes Ideal verkörperte. Jeder ordentliche Junge hat diesen Zustand durchgemacht; er bezeichnet den normalen Bewusstseinsexponenten der Periode stärksten Wachstums. Was soll man denn anderes erstreben, wo der Arm täglich länger wird, als täglich weiterzugreifen? und erstrebte man es nicht — wie sollte er genügend erstarken? Allzu früh allzu hohe Ideale zu bekennen, tut nicht gut. — Ja, jugendlich wirkt er, fast primordial, der Mensch des Fernen Westens. Darnach sollten auch die wirklichen Schwächen der Amerikaner beurteilt werden. Allerdings sind sie Barbaren und trotz beneidenswert vorgeschrittener Institutionen höchst gefährlich für den Bestand unserer Kultur: dem Schulbuben sind gewisse Begriffe noch fremd, er kann nichts Schlimmes daran sehen, dass er einen kostbaren Gegenstand zerschlägt. Allerdings wirkt es mitunter recht komisch, wenn eine so unreife Nation die Allüren einer erwachsenen annimmt: aber noch habe ich keinen Bengel gesehen, der sich nicht weiser als seine Eltern gedünkt hätte. Die auswärtige Politik der Vereinigten Staaten ist Schülerpolitik, ihre Poesie Primanerromantik. So soll es im Augenblick auch sein; wer kein richtiger Junge war, reift nie zum Manne heran. Und dann versagen Kinder doch nur dort, wo sie es mit Erwachsenen zu tun haben, diesen unverständlichen und verständnislosen Wesen; wo sie untereinander verhandeln, unter ihren eigenen natürlichen Voraussetzungen, dort machen sie es meistens sehr gut; ihre größere Unbefangenheit lässt sie mitunter sogar als die absolut Weiseren erscheinen. So hat Amerika eine Reihe innerpolitischer Probleme besser als wir gelöst, ist das öffentliche Gewissen dort unbestechlicher. Die Massen urteilen dort eben, wie Knaben in moralischen Fragen urteilen: primitiv, in Bausch und Bogen, von wenigen einfachen Voraussetzungen aus, insofern häufig unweise und meistens grausam, doch dem Sinne nach selten ganz falsch.

Der Europäer kommt sich leicht alt vor, wenn er sich mit dem Amerikaner vergleicht. Er fühlt, wie viel er hinter sich hat, wie sehr seine mögliche Zukunft von der Geschichte vorausbeschränkt ist. Viele naheliegende und in der Theorie leicht durchführbare Verbesserungen in unserem Zustand werden nicht mehr durchzuführen sein, es sei denn durch zerschlagende Gewalt. Wenn dieses Bewusstsein den Europäer niederdrückt, dann gedenke er des Orients und der Art, wie unsere Welt sich diesem darstellt. Er sieht keinen anderen Unterschied zwischen Europäer- und Amerikanertum, als dass ihm dieses typischer erscheint; auch wir muten ihn als ungefüge große Kinder an, die noch viel, viel zu lernen, und viel, viel Zeit vor sich haben. Und er hat Recht. Wir modernen Westländer sind wesentlich jung. Reicht unsere Tradition auch fast so weit zurück, wie diejenige Indiens — heute vertreten wir eine Welt, die erst gestern entstand. Die Weltanschauung des Fortschritts, der Demokratie ist ein vollkommen Neues, steht der, welche sie ablösen kam, kaum näher als der chinesischen; sie aber hat uns geformt. Die letzten hundert Jahre haben die weiße Menschheit wieder jung gemacht. Indem sie den Akzent sozialer Bedeutsamkeit von den Ober- auf die Unterschichten verlegten, die am Erbe der Jahrtausende kaum teil hatten, haben sie Gleichsinniges bewirkt, wie zu Beginn unserer Ära der Barbarenansturm; indem sie das Ideal aus dem Reich des Seins in das des Werdens hiaüberzogen, haben sie auch den ältesten, sofern sie ergriffen sind vom modernen Geist, die Lebensmodalität der Jugend mitgeteilt. Der ganze Westen steht heute in den Flegeljahren. Und ist das nicht erfreulich? — Aus Jugendgebrechen wächst man heraus; das Decendententum, die Neurasthenie unserer Tage sind im ganzen keine Alterserscheinungen, sondern Wachstumskrisen, gleich Bleichsucht und Weltschmerz; was als zunehmende Verrohung beklagt wird, bedeutet in Wahrheit, dass neue, urwüchsige Kräfte ins Dasein treten. Freilich schmerzt der Gedanke, dass die historische Rolle des Bildungsadels Alt-Europas ausgespielt ist; allein irgendwann muss jeder Jüngeren Platz machen. Und dieses Abtreten bedeutet ja nicht den Tod: in edler Muße, unbekümmert um weltliche Ziele, mag das abendländische Kulturmenschentum noch lange fortblühen und dabei eine Abklärung erleben, die es im tätigen Leben nie gefunden hätte. Ja es mag dann erst sein Bedeutsamstes leisten vom Standpunkt der Zukunft: gedenken wir des, wenn uns Wehmut übermannt, dass es Juden und Griechen waren, nicht Goten und Vandalen, denen die germanische Welt ihre richtunggebenden Impulse dankt.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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