Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Am Gran Cañón des Colorado

Vor dem ungeheueren Bilde des Gran Cañón muss ich an Kants Definition des Erhabenen denken: erhaben sei ein Gegenstand, dessen Betrachtung das Gemüt dazu bewegt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu deuten. Hier sind die Ideen, die das anorganische Geschehen regieren, mit einer Klarheit, Großzügigkeit und Kraft zur Darstellung gebracht, wie nirgends sonst. Hier hat ein einziger Strom in rastloser, stetiger Arbeit ein weites Hochplateau so tief und gründlich erodiert, dass der Mensch, der vom Gesimse des Cañóns, vom ursprünglichen Flussbette her, auf das heutige blickt, nach unten zu ein ähnliches Bild gewahrt, wie himmelwärts in den Vorbergen der Himalayas; was er sieht, ist eine Hochgebirgslandschaft in der Unterwelt. Dieses Werk eines ruhig dahingleitenden Flusses wirkt erhabener, als alles, was plutonische Gewalten je vollbracht, weil es ohne außerordentliche Mittel erschaffen ward; hier erkennt man, ehrfürchtig erschauernd, wie allvermögend die Kräfte des Alltags sind. Am Gran Cañón des Colorado treten die Bahnen, die das Geschehen wandelt, mit unvergleichlicher Klarheit an den Tag, denn die entscheidende, bestimmende Kausalreihe wird von anderen kaum durchkreuzt. Hier hat keine Katastrophe vorgearbeitet, kein Leben die Ecken abgerundet und übermalt. Alles erscheint im ganz Großen unternommen und ausgeführt.

Der Colorado hat sämtliche Formationen, von der glazialen bis zur archaischen hinab, durchstochen. Nur seinem Momentum und der Schwerkraft gehorchend, ist er zielbewusst, schlicht und gradaus, vorgegangen, ohne andere Werkzeuge als die er von Natur besaß, ohne kleinliche Rücksicht und ohne Gewaltsamkeit. Wo die Bahn ihm gleichmäßig freilag, hat er sich ausgebreitet, ganze Provinzen flachen Landes dabei zu Gebirgen umwandelnd; wo nur ein Weg in Frage kam, dort hat er seine Kraft zusammengefasst und die Ausdehnung in Spannung umgesetzt; überall aber war das Ergebnis sehr gut. Hier hat wohl die Idee der Wasserkraft, wie Plato sagen würde, ihren vollendeten Ausdruck gefunden. Die Wasserkraft ist leblos: symbolisch-wirkungsvoller könnte dies kaum zum Ausdruck kommen, als hier geschieht, in diesem größten aller geologischen Aufschlüsse, in dem sich der Strom durch das Leben aller Zeiten hindurch seinen Weg gefressen hat. Die anorganischen Kräfte sind abwärts gerichteten Sinns, sie laufen wie ein Uhrwerk ab, unvermögend sich selbst aufs Neue aufzuziehen: in grandiosem Sinnbild stellt dies der Cañón dar, wo das Hochgebirge dem Hades angehört und nicht aufgetürmt, sondern ausgeschnitten erscheint. Hier steckt hinter dem Werk kein lebendiger Geist, hier tritt kein Zweck in ihm zutage. Planlos ist es begonnen, planlos vollendet worden. Und doch ist es ein Denkmal höchster Weisheit. So klug als nur irgendein Techniker hat der Strom alle Hindernisse überwunden, tiefer als jeder Architekt den Eigen-Sinn der Materie verstanden, nicht schlechter als ein größter Landschaftsmaler das Einzelne zum Ganzen in notwendige Beziehung gesetzt. Die Gesetze des berechnenden Verstandes sind eben keine anderen als die Normen der Weltordnung selbst; die Natur handelt immer vernunftgemäß; sie bedarf keiner vernünftigen Leitung. So ist Vollkommenheit ihr Schicksal überall, wo sie Begonnenes ganz durchführen darf.

Der Gran Cañón des Colorado ist nicht allein in diesem Sinne schön: die strengen, von kosmischer Vernunft gezogenen Linien erglänzen in einer Farbenpracht, wie kein Venezianer sie hätte reicher, kein Turner phantastischer erdichten können. Diese tote Welt scheint des ewigen Lebens teilhaftig. Jeden Augenblick drückt sie neue Stimmungen aus, jede Stunde wechselt ihr Charakter. Was unterscheidet die Schönheit, nach der wir streben, von der, die in der toten Natur so herrlich verwirklicht erscheint? — In dieser ist sie ein mechanisches Ergebnis; der Kosmos ist der Endzustand des Chaos, es gibt kein über ihn hinaus. Das Ideal der Schönheit ist eine treibende Kraft, es weist uns himmelwärts. Das letzte Wort der Natur, ihr Vermächtnis gleichsam ist die Zauberformel, die dem Geiste höhere Welten erschließt.

Wie ein Lächeln spielen die zarten, schmelzenden Farben auf dem tiefgefurchten Antlitz des Gran Cañón. Schaut nicht auch manches Menschengesicht im Todesschlaf verklärter aus, als je im Leben? Ich stelle mir vor, dass wie heute wir Menschen ehrfurchtsvoll vor diesem Wunder des Todes stehen, so einst höhere, verklärtere Geister voll Andacht über der Leiche der Erde schweben werden. Unsere mächtigsten Denkmäler werden noch ragen, wenn es längst keine Menschen mehr gibt. Bisweilen werden ihnen die Strahlen der röter gewordenen Sonne den Abglanz des Lebens verleihen. Vielleicht werden die Taten des Geists am erhabensten wirken, wenn ewiger Tod des Lebens Unrast abgelöst haben wird.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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