Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

Vorwort

Vorbemerkung zur ersten Auflage

Vorliegendes Tagebuch bitte ich zu lesen wie einen Roman. Wenngleich es sich zum großen Teil aus Elementen aufbaut, welche die äußeren Anregungen einer Weltreise in mir entstehen ließen und viel objektive Darstellungen und abstrakte Betrachtungen enthält, welche selbständig für sich bestehen können, so stellt es als Ganzes doch eine von innen heraus erschaffene, innerlich zusammenhängende Dichtung dar, und nur wer es als solche auffasst, wird seinen eigentlichen Sinn verstehen. Über diesen will ich nichts vorausbemerken. Er wird sich dem offenbaren, der dein Wanderer willig durch seine vielfachen Stimmungen und Wandlungen hindurch Gefolgschaft leistet, nie vergessend derweil, dass das Faktische mir nirgends Selbstzweck, sondern überall nur ein Ausdrucksmittel ist für einen Sinn, welcher unabhängig von ihm besteht; der sich dementsprechend nicht daran stößt, dass Gedanken über fremde Kulturen mit Selbstbetrachtungen, exakte Darstellungen mit dichterischen Umbildungen abwechseln, dass viele, vielleicht die meisten Schilderungen mehr der Möglichkeit, als der Tatsächlichkeit gerecht werden; der sich vor allem auch durch die Widersprüche nicht beirren lässt, in die mich Standpunkt- und Stimmungswechsel mit Notwendigkeit häufig verstricken, und deren Auflösung ich nicht immer ausdrücklich mitteile. Wer mich in diesem Geiste liest, dem wird, so hoffe ich, noch ehe er ans Ende gelangt, die Ahnung weniger einer theoretisch-möglichen Weltanschauung, als einer praktisch-erreichbaren Bewusstseinslage aufgegangen sein, der so manches verhängnisschwere Problem von Hause aus gelöst erscheint, in der unüberbrückbare Gegensätze verschmelzen und vieles einen neuen, volleren Sinn erhält …

… Dies schrieb ich im Juni 1914; im Herbst jenes Jahres sollte das Werk erscheinen. Da kam die Kriegserklärung; sie unterbrach, bis zur Besetzung Estlands durch deutsche Truppen, jede Verbindung zwischen dem Verlag und mir. In seinen Händen befand sich druckfertig der erste Band, in den meinen verblieben die Korrekturbogen zum zweiten. — Trotz der langen seither verstrichenen Zeit gebe ich mein Reisetagebuch nun in der Hauptmasse nach unveränderter Gestalt heraus; soweit es einer orientalisierenden Einstellung entspringt, gehört es durchaus meiner Schaffensperiode von 1911 bis 1914 an, hätte daher durch Umarbeitung von einem neuen Zustand her allenfalls verlieren können. Nur die beiden letzten Teile — Amerika und Rayküll — habe ich während der Kriegsjahre nicht allein verändert, sondern beinahe vollständig neu verfasst; dies erwies sich als notwendig, um mein Unternehmen wahrhaft zu vollenden. 1914 war ich vom Orient noch so sehr besessen, dass ich mich als Abendländer nicht unbefangen darstellen konnte; den entsprechenden Abschnitten gebrach es daher an Klarheit und Überzeugungskraft. Und um dem Ganzen die Abrundung, den Abschluss zu geben, den seine Idee verlangte, um im Finale das lebendige Fazit meines Umweges um die Welt zu ziehen — dazu fehlte mir damals vollends die Distanz. Heute glaube ich soviel getan zu haben, wie meine Fähigkeiten mir gestatten. Die lange, lastende Schreckenszeit hätte somit einer Geistesschöpfung wenigstens zum Heil gereicht…

Rayküll in Estland, im Frühjahr 1918 Hermann Keyserling
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
Vorwort
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