Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Durch Kalifornien

Indem mich der Zug durch Kaliforniens Obstfelder trägt, muss ich ans Gutachten Mong-Tses zurückdenken: besser, als gute Ackergeräte beschaffen, ist günstiges Wetter abwarten. Hätten die Einwanderer also gedacht, Kalifornien, heute der Garten der Erde, wäre Wüste geblieben; von der Natur ist es zur Wüste bestimmt Die Niederschläge sind dermaßen spärlich, dass nur Wüstengewächse, Yuccas und Zwergkiefern, von selbst gedeihen; der Boden ist von der Sonne ausgedörrt; die Wasser, die im Frühjahr und Herbst von der Sierra Nevada herabstürzen, haben sich längst tiefe Betten ausgegraben und berieseln die weite Fläche nicht mehr. Der Mensch nun hat ihnen neue Wege gewiesen; wo sie nicht ausreichen, pumpt er aus künstlichen Brunnen das nötige Naß herauf; so ist Kalifornien heute die vielleicht fruchtbarste Landschaft der Welt. — Das ist unser, westlicher Natursinn im Gegensatz zum ostasiatischen. Wir fügen uns nicht ein in ihr Bestehendes, wir wandeln sie um. Um dieses jedoch zu erreichen, müssen wir sie tief verstanden haben; nur ihren eigenen Gesetzen gemäß lässt sie sich unterwerfen und regieren. So sind auch wir ihrem Herzen nicht fremd. Nur verhalten wir uns anders zu ihr. Der Ostasiate ist ihr innigster Versteher. Der Chinese behandelt sie wie ein liebender Sohn, der voll Pietät und Aufopferung auch die väterliche Härte gern erträgt, und sich nie eine Kritik gestattet; der Japaner wie eine Freundin die andere; er lässt sie gelten, liebt sie, so wie sie ist, doch er hilft ihr, sich möglichst vorteilhaft darzustellen. Unser Verständnis ist dem des — Schulmeisters vergleichbar. Wir versetzen uns in ihre Eigenart hinein, doch nur zu dem Zweck, sie unseren Idealen entsprechend umzuwandeln. Sie soll anders, besser werden als sie war. Gleich allen Schulmeistern leiden wir an Verständnislosigkeit für das Individuelle. Es gelingt uns wohl allgemeine Typen heranzuzüchten — also Äcker, Wiesen, Wälder als solche, Beamte zu bestimmter Funktion — auch eine durchschnittliche Natur zu ihrer höchsten Vollendung zu bringen (ein fruchtbares Wiesenland ist schöner als ein unfruchtbares), aber eine bestimmte, außerordentliche Natur ihr selbst entsprechend zu behandeln, glückt uns, dem Schulmeisterschicksal entsprechend, schlecht. Überall, wo absolute Zweckmäßigkeit erreicht erscheint, ist Schönheit der unabwendbare Erfolg. Die amerikanischen Kulturländereien sind meistens häßlich, weil hier auf das Eigenartige noch gar keine Rücksicht genommen wird.

Aber das wird kommen. Die Amerikaner sind noch Kinder, große ungefüge Buben, tief drinnen in den Flegeljahren; von ihnen ist nicht zu verlangen, dass sie so rücksichtsvoll wie Ost-Asiaten seien. Sie werden es werden mit der Zeit. Denn das ist ein Missverständnis, dass unser Verhältnis zur Natur diese notwendig verunzieren muss: sie tut es nur deshalb, weil wir unseren Weg noch nicht bis zum Ende durchmessen haben. Die japanische Landwirtschaftskunst entzückt das Auge, weil in ihr das spezifischjapanische Verhältnis zwischen Mensch und Natur seinen vollendeten Ausdruck fand — nicht weil dieses Verhältnis an sich das günstigste wäre. Ob ich mich als ihr bestimmter oder bestimmender Bestandteil verhalte, ist gleichgültig im Prinzip; nur darauf kommt es an, dass ich die harmonische Proportion entdecke. Und das wird uns einmal allgemein gelingen, wie es uns im besonderen schon vielfach gelang. Es ist falsch, die Stellung des wissenschaftlich verstehenden Europäers der des künstlerisch verstehenden Ostasiaten entgegenzustellen: die wissenschaftliche ist die vorläufigere Attitüde. Wenn der Japaner nicht als Forscher scharf beobachtet hätte, nie hätte er es zur Technik gebracht, die ihn heute als Gärtner unvergleichlich macht. Das Wissenschaftliche fällt bei ihm nur weniger auf, weil er weniger weit darin gegangen ist als wir, und sich somit auf einem früheren Stadium der produktiven Synthese zugewandt hat. Wir dringen tiefer ein in die Natur; mit dem schöpferischen Zusammenfassen haben wir noch kaum begonnen. Aber sind wir einmal so weit, sind wir zugleich so weit herangereift, dass Freude an der Natur die Gier überwiegt, dann zweifle ich nicht, dass wir das spezifische Verhältnis, in dem wir zum Nicht-Menschlichen stehen, nicht minder vollkommen darstellen werden, wie die Japaner das ihre.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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