Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Im Yellowstone Park

Ich blicke von einem schimmernden Sinterhügel, den die Geysirn im Lauf der Jahrtausende aufgeschichtet, auf die weite Prairie hinaus. Es ist die Stunde, da die Bisons ihre Abendwanderung antreten. Sie schreiten vereinzelt, jeder für sich, in weiten Abständen voneinander; aber alle halten den gleichen Kurs ein, unbeirrbar, wie wandernde Vögel. Was ist es, dass diese Tiere alle Länderkunde vorwegnehmen lässt? Ich weiß es nicht; keiner weiß es wohl. Denn auch die Menschen, die gleiches vermögen, wissen es nicht.

Vor wenigen Jahrzehnten war eine einzige Herde Büffel nicht selten viele tausend Kopf stark; heute leben keine hundert auf der weiten Fläche des Yellowstone Parks und in ganz Amerika weniger, als vormals eine mittelgroße Herde ausgemacht hätte. Wir haben sie ausgerottet. Und wie ich nun den Letzten dieser Riesen zuschaue, die in die Prärie so wunderbar hineinpassen, da erbebe ich vor Empörung. Was wird die Welt um unsretwillen arm! Wohl umfriedigen wir zum besten der Tiere weite Landstriche, weisen wir den Rothäuten Reservationen an; aber das hält ihren Untergang nicht auf. Die Büffel verkümmern in der Umzäunung, die Indianer entarten, seit sie den Kriegspfad nicht mehr betreten dürfen; beide sterben unaufhaltsam aus. Bald werden alle malerischen Typen der Vorzeit angehören, wird die ganze Erdoberfläche mitteldeutschem Kulturland gleichen — gleichmäßig abgeteilt, schablonenmäßig bebaut, nur von Menschen und Rassevieh bewohnt. Ich weiß: ohne Selbstmord zu begehen, werden wir diese unsere Wirkung nicht hindern. Aber welche Verblendung, solchen Fortschritt erfreulich zu finden! Es ist entsetzlich, dass die Erde von Tag zu Tag einförmiger wird. Denn dies bedeutet ja keine Umsetzung der vorhandenen Energie, sondern absoluten Energieverlust, weil für das, was verloren geht, kein Ersatz an die Stelle tritt. Das Leben ist nicht im selben Sinn verwandelbar, wie die Elektrizität. Jeder Typus bedeutet ein Einziges, verkörpert eine Möglichkeit, die es nur einmal gab, nie wieder geben wird. Mag daher das Geschlecht der Europäer, der Kühe, Pferde und Edelschweine in Zukunft noch so gesegnet werden — damit würde die Lücke nicht ausgefüllt, welche die Ausmerzung der übrigen Gestaltungen in die Schöpfung hineingefressen hat. Die Welt wird mit jedem Tag ärmer. Das dies der eigentliche Sinn des Fortschritts ist, illustriert mit erschreckender Deutlichkeit Amerika, weil hier der Weiße am stärksten im Sinn des Zweckmenschen typisiert erscheint. Nirgends ist die Natur so großartig wie hier; hier scheint alles im großen erschaffen, alles Große lebensfähig, nur das Große den Verhältnissen gemäß; dieses Grundverhältnis hätte, so sollte man glauben, alle geistigen Werte potenzieren müssen: statt dessen sind alle aus dem Auge verloren worden, bis auf den einen, einzigen der Quantität. Nur Größen und Zahlen beeindrucken den Yankee, nur ihnen strebt er nach. Diese Verarmung seiner Psyche ist die notwendige, unabwendbare Folge des ausschließlichen Strebens nach Erfolg. Und was er tut, wird immer mehr auch zum Streben Europas. Schon hat eine vielverbreitete neue Philosophie das ökonomische Prinzip zum Ideal des Denkens ausgerufen — somit das Selbstverständliche zum höchsten Gut. Wir werden immer dürftiger und ärmer und diese Dürftigkeit rottet den Reichtum aus. Jede bestimmte Entwickelungslinie ist ausschließlich, aber unsere wohl die erste, welche die anderen unwillkürlich zerstört. Sie ist mit dem Fluche belastet, über die blinden Kräfte der Natur so große Gewalt zu besitzen, dass sie vernichten muss, sogar wo sie erhalten will. Der moderne Weiße hat mehr bewusste Freude an der Natur als irgendein Mensch, er interessiert sich tiefer als irgendeiner für fremde Eigenart. Trotzdem stirbt das, was er nicht ist oder braucht, wohin er sich wende, unaufhaltsam aus.

Die arisch-europäische Menschheit hat nicht viel weniger Verderben und Mord auf ihrem Gewissen, als die türkisch-mongolische, obgleich nur diese vielleicht Zerstörung als Selbstzweck betrieben hat. Die Römer errichteten ihr Weltreich auf den Trümmern der alten, so eigenartigen Mittelmeerstaaten. Darauf schleiften die Germanen dessen ganzen Bau. Deren Urenkel vernichteten die Kulturschöpfungen der Araber, dann die der Inkas und Azteken. Und wenn seither die Absichten besser wurden, so haben sich die Zerstörungsmittel dermaßen vervollkommnet, ist ferner unsere Zivilisation an sich so todbringend geworden für alle, die nicht in und zu ihr geboren sind, dass vom Erfolg eher das Gegenteil gilt. Hegel lehrt nun, Fortschreiten über Leichen sei eben der Weg, den der objektive Geist zu wandeln habe, um sich vollkommen zu verwirklichen, das jeweils führende Volk, als Träger der Idee, komme allein in Betracht und sei berechtigt alle übrigen zu zwingen oder auszurotten: er hätte Recht, wenn geschichtliche Bedeutsamkeit wirklich alle Werte in sich beschlösse. Allein ganz abgesehen davon, dass diese ohne Vorurteil überhaupt nicht bestimmt werden kann, überdies nur nachträglich und unter der sehr zweifelhaften Voraussetzung, dass, was irgendwie geschah, zum besten geschah und notwendig so kommen musste, welche Voraussetzung ihrerseits impliziert, dass materieller Erfolg ein Gottesurteil zum Ausdruck bringt, darf als gewiss gelten, dass historische Führerschaft in keinerlei notwendiger Beziehung zum spirituell und geistig Bedeutsamen steht. Indien und China, beide von ungeheurer Bedeutung, haben doch in der weltgeschichtlichen Bewegung, wie Hegel sie versteht, keine Rolle gespielt. Dass Christus und Buddha zu historischen Faktoren wurden, erscheint zufällig in bezug auf sie. Der geschichtliche Prozess an sich ist eines Sinnes mit dem biologischen; an diesem Umstand ändert nichts, dass unter Menschen nicht allein physische sondern auch psychische Organismen (Ideale, Glaubensinhalte) sich gegenseitig ergänzen und bekämpfen. Sintemalen der ideelle Prozess, an sich unabhängig vom biologischen, doch vermittelst dieses verläuft, lässt sich a posteriori überall, wo Bewegung statthat, zwischen diesem und jenem eine Beziehung herstellen. Aber wesentlich besteht sie nicht; das Biologische ist nur ein Mittel, und werden dessen Normen zu geistigen Zielen hypostasiert, so wirkt dies Unheil. Dann kommt es zu menschenunwürdigen Anschauungen wie die, dass es nichts Höheres als das Staatswohl gibt, dass Macht Selbstzweck ist, jedes Mittel erlaubt im Völkerverkehr, dass eine bestimmte Rasse das Recht hat, alle anderen zu knechten, und dass der moderne homo technicus, der zum Zweck seiner persönlichen Bereicherung die ganze Schöpfung ruiniert, damit Gottes Willen erfüllt. Fern davon, dass Macht (im Sinn von Zwingenkönnen und -wollen) an sich Gutes bedeute (wie alle Fortschrittsgläubigen stillschweigend annehmen müssen, denn nur dank der materiellen Macht siegt Hegels Idee sowohl als die christliche Zivilisation), ist sie vielmehr, wie dies Jacob Burckhardt bisher am tiefsten begriffen hat, wesentlich böse und macht auch böse. Noch keine irdische Macht ward ohne Verbrechen begründet, noch keine behauptet ohne Gewaltsamkeit in irgendeiner Form; ihr Lebensgesetz ist teuflischer, nicht göttlicher Art. Deshalb will und wird es niemals gelingen, Weltgewaltigkeit zum sittlich und geistlich Guten in naturnotwendige Beziehung zu setzen. Unsere westliche Zivilisation, als die weltgewaltigste von allen, die es je gab, ist von Hause aus nicht gut sondern böse: deshalb bringt sie nicht nur Verderben allen denen, die sich ihr nicht anzupassen wissen — sie verdirbt auch ihre Träger. Diesem typischen Erfolg wird dort gesteuert, wo die Macht geistige und sittliche Ideale zu verwirklichen dient, und hierzu dient sie glücklicherweise immer mehr. Wo sich der Mensch ihrem eigensten Geist verschreibt, wird er zum Teufel.

Nun ist gewiss, dass das Böse seine bestimmte und notwendige Funktion hat in der Weltökonomie. Vernichtung allein bahnt den Weg zu radikaler Erneuerung. Wenn es ernstlich vorwärts gehen soll, muss der Naturprozess des Werdens und Vergehens zuweilen beschleunigt werden. Nur Revolutionen sprengen altersstarre Formen, nur das vorzeitige Ende von Generationen, wie der Krieg es bedingt, zerreißt den Faden bindender Tradition. Weltkulturen wären niemals entstanden, wenn eine Menschenart andere nicht bezwungen und so, aus dem Dschungel wildwachsender Formen, bestimmten zur Herrschaft verholfen hätte. Endlich sind — um das Äußerste nicht ungesagt zu lassen — Tod und Töten normale Naturvorgänge; Raubtiere müssen rauben, und scheinen ebenso daseinsberechtigt wie Pflanzenfresser; die durch Kriege, Katastrophen und Seuchen bedingte Beschleunigung und Vergrößerung des Lebensumsatzes ändert qualitativ gar nichts am Charakter des Geschehens und quantitativ wenig insofern, als sich im Großen das meiste kompensiert; die Ablösung der Faunen und Floren durch die geologischen Epochen hindurch beweist schon allein, dass jede bestimmte Gestaltung irgend einmal notwendig zugrunde geht und ob solches langsam, durch die Macht der sich wandelnden Verhältnisse geschieht oder plötzlich dank dem Einbruch eines Attila, bleibt sich wohl gleich. Die höchsten Ewigkeitswerte sind wesentlich sterblich im Sinne der Zeit. Offenbar steht der indische Mythos, nach welchem Schaffen und Zerstören korrelative Attribute der Gottheit darstellen, der Wahrheit sehr nahe: zu Zeiten ist das Böse gottgewollt. Allein der Mensch soll nie Shiwas Stellung usurpieren; was diesem frommt, darf er nicht wissentlich wollen; die Unabwendbarkeit des Sterbens rechtfertigt den Mörder nicht. Gleichwie Geburt und natürlicher Tod jenseits der Machtsphäre persönlichen Wollens liegen, so übersteigt der Plan, nach dem das Lebensganze fortwird, individuelle Beurteilung. Im Reich der vernunftlosen Geschöpfe gelangt er überall, wo kosmische Zufälle oder menschliche Willkür ihn nicht durchkreuzen, zu vollkommener Verwirklichung; wunderbar weise wirkt die Selbstregulierung der Natur. Unter Menschen ereignete sich Gleiches dann, wenn jeder Einzelne das ihm gemäße täte. Dann wirkte Gott sich mittels freien Menschenwollens aus, es geschähe das von ihm aus erforderliche, kein notwendiger Konflikt, kein Fatum bliebe aus, doch der Einzelne wäre ohne metaphysische Schuld und im Großen diente alles zum Besten. Allein der Mensch tut nur selten, was er sollte, desto seltener, je bewusster er handelt. Und unternimmt er es gar vom Plan des Ganzen aus, den er zu kennen wähnt, das Geschehen zu bestimmen, so beschwört er Unheil. Es kommt zu wahnwitzigen Kriegen, zu allvernichtenden Umwälzungen; die Selbstregulierung der Natur wird zerstört, der Unsinn siegt. In vielen, nur zu vielen Beziehungen hat der weiße Mann also auf Erden gehaust.

Immerhin ist sein Wirken in anderen dennoch gottgewollt. Offenbar hat sich das allgemeine Gleichgewicht der Kräfte soweit verändert, dass wir, sofern wir ja sagen zu uns selber, vorherrschen müssen; offenbar ist vieles Wertvolle, das wir zerstören, in unserer Welt ohnehin nicht lebensfähig, ist eine Zeit gekommen, wo auf Kosten des noch so schönen Alten Neues entsteht und kein Hadern mit dem Schicksal dies aufhalten kann. Dies aber bedeutet, dass es tatsächlich so etwas gibt, was man ein Recht des Stärkeren heißen mag. Um moralisches Recht handelt es sich hier freilich ebensowenig, wie bei irgendeinem materiellen Kräfteausgleich, im Gegenteil: Vergewaltigung, an Lebendigem ausgeübt, ist immer böse, jede Gewalttat schlägt als solche dem Recht ins Gesicht, der gerechteste Strafvollzug verletzt das sittliche Gefühl in irgendeinem Sinn. Aber Kräfte sind eben Wirklichkeiten, die sich auswirken ihren Eigengesetzen gemäß; auf ihrer Daseinsebene gelten ausschließlich diese. Und so oft Böses das Gute bezwingt, Rohes das Vollkommene, so oft das moralische Bewusstsein dadurch verletzt wird und das Denken versagt im Versuch, den Sinn der Ανάγκη zu begreifen — manchmal gelingt es doch, die Heilsamkeit des an sich Bösen nicht allein im Kleinen, wie beim Rechts- und Strafzwang, sondern im ganz Großen einzusehen. So gerade hinsichtlich des Rechts des Stärkeren. Die Geschichte lehrt, dass aus den gewaltigsten Kriegerstämmen oft die idealgesinntesten Kulturvölker werden. Dies aber erklärt sich, wenn ich nicht irre, folgendermaßen: physische Überlegenheit ist nur auf moralischer Basis dauerhaft. Ohne Mut richtet Kraft nichts aus; ohne Opferwillen, Disziplin, Organisiertheit, hilft auch Mut nicht. Handele es sich hier um noch so einseitige Vorzüge — sie grenzen die Naturbasis ab, die einer Fortentwickelung zum Höchsten am fähigsten scheint. Die Germanen, welche die alte Welt zerstörten, waren grausam und roh, aber auch mutig, loyal und opferfreudig; dies befähigte sie, bei vorhandener Geistesbegabung, im Lauf der Jahrhunderte stetig besser zu werden, während Griechen und Römer, verfeinert, aber feige und falsch, an Zersetzung verdarben. Nur der Stolze, der sich selbst achtet, respektiert auch andere; aus den gewalttätigen Angelsachsen hat sich das rechtlich gesinnteste Volk Europas entwickeln können, weil alle Tugend beim Ich anhebt und von ihm aus ihren Kreis erweitert, weil der primitive Glaube an persönliches Vorrecht den Keim enthält einer Anerkennung von Recht überhaupt — während unter den Russen, die von jeher gutherzig waren und sich niemals ein Recht zur Unterdrückung anderer zuerkannten, denen die Weltanschauung des Urchristentums im Blute liegt, noch heute Willkür herrscht. Die Natur des Starken allein gewährt geistigen Mächten ein zukunftsreiches Verkörperungsmittel. Insofern wird es, solange irdische Entwickelung anhält, zumal so oft es neu anzuheben gilt, auch ein Recht des Stärkeren geben.

… So urteilt der Verstand. Doch als ästhetisches Wesen beklage ich es tief, dass der Weltprozess so und nicht anders verläuft. Gern gäbe ich alle technischen Errungenschaften hin dafür, dass ich die Prairie in ihrer alten Herrlichkeit, so wie sie war bevor das Bleichgesicht der Rothaut den Vernichtungskrieg erklärte, auch nur für einen Abend schauen dürfte.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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