Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Im Yellowstone Park: Daseinskampf

Immer mehr, in dieser wilden, vitalisierenden Natur, werde ich mir meines Gewaltmenschentums bewusst. Wir Abendländer sind Kämpfer, wesentlich dies. Während der Chinese an eine prästabilierte Harmonie zwischen Mensch und Kosmos glaubt, die es zu wahren gilt um jeden Preis, während der Inder, was er auch tut, sich selbst zurückbehält und so nicht teilnimmt innerlich am Daseinskampfe, stehen wir überzeugt mitten in ihm. Uns kümmert nicht der Zusammenhang, wir sind Elemente, wollen es sein und uns als solche durchsetzen. Dem Geist des Kampfes entsprießt unser Schlimmstes wie unser Bestes. Ihm entspross unser Eroberer- und Räubertum, ihm die Reformbewegung, die Wissenschaft, die soziale Gesinnung. Weil wir wesentlich Kämpfer sind, bescheiden wir uns bei keiner Autorität, wollen wir frei forschen, jeder für sich entscheiden. Der Krieger kennt keinen Kompromiss, er will siegen oder unterliegen, seine Devise ist: er oder ich.

Solang ich im Orient weilte, erschien unser Kämpfertum mir durchaus in ungünstigem Licht. Wie sollte es nicht? Der Kämpfer ist wesentlich Zerstörer, wesentlich blind, parteiisch, ungerecht, verständnislos. Der Weise — und an ihm ist alles Leben des Ostens orientiert — kämpft nie; er steht über den Parteien, den Zusammenhang aller Gestaltung übersehend, in ihm zentriert, und wäre unwahr gegenüber sich selbst, indem er sich mit irgendeiner identifizierte. Aber woher seine Überlegenheit? — Diese Frage hatte ich mir im Orient niemals gestellt. Beantworte ich sie nun, so erweist es sich, dass ich dem Westen damals Unrecht tat. Nicht der farblose Zweifler ist ja der Weise, nicht der Gleichgültige, der Kalte, der Unentschiedene, im Gegenteil: von allen Wesen steht der leichtfertige Skeptiker dem Weisen am fernsten. Wenn dieser nicht kämpft, so geschieht dies nicht, weil er Streiten von vornherein als zwecklos abwiese, sondern weil er schon ausgekämpft hat, weil er mit sich und der Welt im Reinen ist; der Diskussionsprozess, der sonst draußen verläuft und selten zu einem endgültigen Abschluss führt, hat sich für ihn im Stillen seiner Seele vollendet. Und von dieser Erkenntnis aus erfasse ich erst den ganzen Tiefsinn der indischen Mythe, dass die Vorstufe des Brahmanen der Kshatriya, der Ritter sei: ohne Kampf gibt es keine Erkenntnis; erst wer als Krieger ehrlich gefochten hat, erscheint reif zum Gottesfrieden der Weisheit.

Dies erklärt sich dadurch, dass die Entscheidung eines Streits nicht bloß ein mechanisches Ergebnis ist, sondern zugleich organische Veränderung bedingt. Wenn Überzeugungen im allgemeinen erst nach erfolgter Diskussion klar feststehen, wenn Völker, nachdem die Waffen entschieden, Veränderungen in den Machtverhältnissen willig anerkennen, die sie kurz vorher als unannehmbar abwiesen; wenn der von jeher Starke erst in der Widerwärtigkeit zum Helden erwächst, so beruht dies darauf, dass die Seelen im Kampfe anders werden. Und nur so werden sie es. Bloß theoretische Einsicht beeinflusst das Innere nicht. Man kann noch so deutlich die Notwendigkeit einer Neuordnung einsehen, und doch unfähig erscheinen auf sie in praxi einzugehen; man mag alle Tugend erkennen und doch ein Schurke bleiben. Wahrscheinlich besaßen Christus und Buddha ihre Weisheit mit dem Verstand lange bevor sie erleuchtet wurden; trotzdem datiert ihre Mission erst von dieser Stunde. Sie aber war eine solche des bitteren Kampfs. Vom Bösen versucht, mussten beide ihn erst besiegen: dann erst waren sie frei. Das heißt, dann erst war ihre Menschenseele soweit verwandelt, dass sie dem höchsten Wissen zum Werkzeug dienen konnte.

Nur einem unter Milliarden ist es beschieden, zum Buddha zu werden, in den wenigsten liegt es, über ihren Ausgangsort überhaupt erheblich hinauszukommen; deshalb gewährt eine statische Gesellschaftsordnung, die den natürlichen Rangklassen leidlich Rechnung trägt, für jede Gegenwart das erfreulichste Bild. Der Einzelne, an seinem Typus orientiert, findet leicht seine Vollendung, und im Ganzen herrscht Harmonie. Aber solche Ordnung ermöglicht kein Fortschreiten: nur der geborene Weise wird weise in ihr, jeder verharrt auf der Stufe, auf welche die Natur ihn stellte, die Menschheit bewegt sich gar nicht von der Stelle. In einer Kampfeswelt stehen jedem alle Möglichkeiten offen. Indem jeder für sich, in voller Aufrichtigkeit, dafür eintritt, was er für richtig hält, und das anstrebt, wozu er sich berufen glaubt, erprobt er an der unmittelbaren Erfahrung, was in ihm liegt, jedem Keim volle Entwickelungsgelegenheit bietend. Und indem alle sich auf gleiche Art erproben, findet im Großen eine Auseinandersetzung statt, welche notwendig vorwärts führt. Die Natur der Dinge bedingt, dass jeder Fehler sich irgendeinmal rächt, alles Falsche sich schließlich als falsch erweist, alles Morsche irgend einmal verdirbt, und umgekehrt, dass alles Wertvolle seinen Wert bewährt und jede Wahrheit sich selber beweist — wenn jener Natur nur Gelegenheit geboten wird, sich auszuwirken. Diese aber wird ihr geboten, sobald die Menschen den Mut zum Wagnis haben. Da die besonderen Kämpfer immer blind sind, beweist der Prozess im einzelnen wenig genug. Reaktionäre und Umstürzler, Sozialisten und Individualisten, Altgläubige und Freidenker — wie viele der Faktoren immer seien, deren Widerstreit die Dialektik des modernen Werdens ausmacht — haben sämtlich Recht zu irgendeinem Teil und im Ganzen sämtlich Unrecht. Sie sind jeder nur ein Element eines gewaltigen Prozesses, dessen Plan kein Sterblicher zu übersehen vermag, und keiner erreicht je das, wofür er kämpfte. Aber auch kein Kampf war jemals umsonst. Jeder Idealgesinnte tut in noch so bescheidenem Umfange mit bei der Verbesserung der Welt, jedes Widerstreben dem Übel schwächt dessen Macht, jedes Opfer kommt der Zukunft zugute. Und das Ganze entwickelt sich, stetig trotz aller Reaktionen, in der Richtung aufwärts, die von der Natur der Dinge gewiesen wird, in dem Sinne zwar, dass die Zustandsbesserungen, die zu gegebener Zeit und an gegebenem Orte möglich sind, auch wirklich eintreten. Weder die Männer von 1790, noch die von 1848 haben erreicht, was sie erstrebten, und das war gut, denn sie begehrten vielfach Unsinniges; aber dank ihnen sind wir erheblich weiter als sie waren. Die sozialistische Doktrin als solche ist verfehlt, allein ohne sie wären wir der gerechteren Neuordnung der Verhältnisse, welche möglich scheint, nicht schon so nahe. Fortschritt ist aber nur möglich in einer Kampfeswelt; in einer statisch-friedlichen gibt es keine Evolution.

Jeder Einzelne soll nur aufrichtig sein, den Mut zum Irrtum, zum Wahn, zur Beschränkung, ja zum Verbrechen haben; das Weitere besorgt die Natur der Dinge, oder auf indisch ausgedrückt, das Karma-Gesetz. Der Weg des Kämpfers mutet arg mechanisch an, und ist es auch; der Einzelne figuriert hier nur als Element, ohne Verständnis für das Ziel, und das Heil kommt von außen. Allein der Masse ist ein höherer Weg nicht gangbar; mögen Entwickeltere den der Erkenntnis oder der Liebe wandeln — für jene kommt nur Karma-Yoga in Frage. Nun ist die von uns erdachte und betriebene von allen die tiefsinnigste. Bei ihr handelt es sich nicht um passive Hingabe an vorgesetzte Normen, um die erwartete Rückwirkung von Dogmen, Übungen, Riten, sondern um opferfrohe Initiative. Und keine nur denkbare führte die Menschenmehrheit schneller zum Ziel. Wie prahlerisch die Behauptung im Ganzen sei, dass wir es so herrlich weit gebracht — zugegeben muss werden, dass seitdem unsere beschleunigte Entwickelung begann, unglaublich viel geschehen ist. Man vergegenwärtige sich die Lage der englischen, oder gar der irischen unteren Volksklassen vor hundert Jahren, die der Fabrikarbeiter überall vor noch weit kürzerer Frist, und gedenke dabei vor allem der Rückwirkung, die das Elend auf ihre Seelen ausübte: man wird nicht leugnen können, dass wir heute in einer neuen, besseren Welt leben, einer Welt höheren Wohlstands nicht allein, sondern würdigerer Gesinnung. Diese aber ist erschaffen worden durch Kampf allein, durch durchsetzerischen Egoismus; sie wäre unerschaffen geblieben, wenn chinesische Ordnungsliebe oder urchristliches Nicht-Widerstreben dem Übel die Willen gelenkt hätten. In einer Kampfeswelt führt Egoismus am schnellsten zum Ziel. Wie ist dies möglich, wo er im letzten doch ein Missverständnis bedeutet? Eben darum: die Natur der Dinge erweist ihn als solchen, und bildet ihn um; aus mörderischer Konkurrenz entsteht notwendig, früh oder spät, Kollaboration. Wie schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die sich bekämpfenden Eisenwerke Belgiens und Deutschlands ein Abkommen trafen, welches jedem ein bestimmtes Maß, und nicht mehr, zu produzieren gestattet, so wird es einmal überall kommen in unserer Welt. Gerade deshalb, weil wir geborene Gewaltmenschen sind.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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