Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Salt Lake City

Wie ich im Bureau des Mormonentempels, des Beginns des mittäglichen Orgelkonzertes harrend, in den ausgestellten Büchern und Traktaten blätterte, wandte sich die Verkäuferin zu mir und fragte, ob mir das neue Evangelium schon gepredigt worden sei? — Ich erwiderte, dass mir die Schriften der Mormonen allerdings bekannt seien. — Sind Sie davon schon überzeugt, dass sie Gottes Wort enthalten? Und ohne mir Zeit zur Antwort zu lassen, fuhr sie fort: das eben ist das Wunderbare unserer Religion, dass sich über den göttlichen Ursprung ihrer Offenbarung ohne Umschweif Sicherheit erlangen lässt. Gott hat durch Joseph Smith verheißen, dass Er jedem, der Ihn in Wahrhaftigkeit um Auskunft angeht, unmittelbar Bescheid erteilen wird. Und Er hält Wort: so bin ich bekehrt worden. Ich bin ein Münchener Kind; zufällig gelangte ich dazu, einem Mormonenmissionar zu lauschen; der wies mir den Weg, wie ich mir über den göttlichen Ursprung des Buches Mormon Gewissheit verschaffen könne. So fragte ich Gott — und siehe da: Er antwortete mir sogleich mit einem vernehmlichen Ja. Seitdem bin ich hier und sehr glücklich. — Gerührt sah ich sie an. Sie gehörte dem üblichen Typus der Bekehrten an, wie er gleichsinnig und gleichartig alle Erweckungskirchen füllt; aber so rührend simplistische Vorstellungen hatte ich noch nie mit eigenen Ohren bekennen gehört. In dieser Hinsicht steht die Mormonenkirche ohne Zweifel an der Spitze aller geistlichen Institutionen. Wie pathetisch ist die Geschichte der Mormonenpolygamie! Es war Joseph Smith geoffenbart worden, dass die Familienbande im Himmel fortbeständen; damit war die Vielweiberei insofern als bestehend anerkannt, als der, welcher auf Erden nacheinander mehrere Frauen heiratet, dieselben im Himmel alle auf einmal besitzen werde. So bedeutete die nächstfolgende Offenbarung, dass der Mann auch auf Erden viele Frauen haben solle, dem Sinn nach nur ein Korollar zur vorhergehenden. Gleichwohl wirkte dieses Gebot auf die Gemüter der Frommen niederschmetternd; es widerstritt allen Vorurteilen ihrer biederen Angelsachsenseelen. Allein die Gottesfurcht siegte, und schweren Herzens legten sich alle mehrere Frauen an. Bald setzten die Nachstellungen ein; es begann eine Zeit so erbitterter Verfolgung, dass die Kirche vernichtet zu werden drohte. Da erbarmte sich der Herr; Er offenbarte dem Präsidenten Wilford Woodruff, dass die Vielweiberei nunmehr aufhören dürfe.

So sind die Heiligen der letzten Tage, heißt es in einer kanonischen Schrift1), was die Vielweiberei betrifft, weder für ihre Einführung noch auch für ihre Abstellung verantwortlich. Der Herr hat sie erst geboten, allen menschlichen Vorurteilen zum Trotz; dann, sich der Leiden erbarmend, die der Gehorsam über seine Getreuen brachte, erlaubte Er zur Monogamie zurückzukehren. Es ist Gottes Sache, für die von ihm ausgehenden Befehle einzustehen. —

Ich muss über das Urteil denken, das der Swami Vivekananda über alle ihm bekannten Religionsstifter des Westens fällte: bei ihnen allen sehe man echte Erleuchtung auf seltsame Weise mit possierlichem Aberglauben verquickt; sie seien wohl von Gott inspiriert, aber psychisch zu ungebildet gewesen, um das Geoffenbarte rein aufzufassen und richtig zu verstehen. So ist es. Im Mormonentum tritt in extremer Form zutage, was im Prinzip von aller religiösen Gestaltung der westlichen Menschheit gilt. Unzweifelhaft waren Joseph Smith und Brigham Young ebenso echte Propheten, wie Moses, Wesley, Luther und Calvin; sie waren nur überaus unwissend und ungebildet. Aber wesentlich unterscheiden sie sich darin, darüber sei man sich klar, von unseren Größten nicht. Was soll man z. B. zu Luther sagen, welcher das, was allen tief religiösen Geistern vor ihm das Wesen der Religion verkörperte, als vorübergehende, sekundäre, ja bedenkliche Erscheinung verworfen und eben das, was vor ihm stets als abgeleitete Wirkung ihrer galt, als ihr Wesen beurteilt hat; welcher gelehrt hat, dass Religion nichts anderes sei und nichts Höheres bedeuten könne als blinden Glauben an Gott und Benutzen der Heilsmittel Wort und Sakrament?2) Man kann nur verlegen schweigen ob des Verständnismangels dieses großen Mannes. Herrlich tief war seine persönliche Religiosität, doch seine Gedanken über das Religiöse hafteten sämtlich an der Oberfläche. Und nun Calvin: ist seine Dogmatik nicht ungeheuerlich? Ungeheuerlich fürwahr ist die Idee einer ewigen Verdammnis, die von Ewigkeit her von einem allbarmherzigen Gott zu seiner Ehre über die machtlose Seele verhängt sein soll. Allein Calvin war ein sonst hochgebildeter Mann, und Luther ein Genius: deshalb leuchtet aus ihren noch so flachen Vorstellungen immerhin der Geist der Tiefe hervor, so dass man durch alle Torheit hindurch fühlt: sie wussten’s besser als sie’s aussprechen konnten. Bei den angelsächsischen, zumal den überseeischen Reformern spürt man nichts Ähnliches. Die angelsächsische Rasse, in vielen Hinsichten die entwickelteste der Welt, steht religiös auf einer ganz primitiven Stufe. Sie ist so unphilosophisch, so unpsychologisch, überhaupt so undifferenziert und unreflektiert, was das Leben der Seele betrifft, dass sonst bedeutende Briten sich anstandslos zu Religionsformen bekennen, die unserem Urteil nach kaum mehr Köhlern gemäß sein sollten. Kein angelsächsischer Religionsstifter war je philosophisch urteilsfähig, und gehörte er gar den niederen Volksschichten an, war er überhaupt ungebildet und ungeschult, wie die meisten amerikanischen Reformatoren, dann entstanden Systeme wie das mormonische. Noch einmal: wer da Indien kennt oder sonst weiß, was religiöse Bildung bedeutet, dem stellen sich Auswüchse wie sie in Russland die Duchoborzen, in Norddeutschland die Pietisten und in Amerika die Mormonen verkörpern, als nichts Außerordentliches dar; vielmehr als leidlich typische Ausdrucksformen der religiösen Erfahrung im Westen.

Wir Okzidentalen sind nicht Versteher sondern Täter. Dieselben Mormonen, deren religiöse Vorstellungen so kindisch wirken, haben eine Kulturarbeit geleistet, wie kaum ein Volk; in knapp einem halben Jahrhundert haben sie die Salzwüste in einen Garten umgewandelt. Sie sind ferner ausgezeichnete Staatsbürger, rechtschaffen, ehrlich und fortschrittlich. Solch praktische Vorzüge eignen den Indern nicht, bei all ihrer größeren Einsicht. Offenbar besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem philosophischen Werte einer Idee und ihrer Bedeutung für das Leben, lässt sich von jenem aus über diese nichts präjudizieren. Der Prädestinationsgedanke ist eine Monstrosität: er hat gleichwohl die stärksten Männer der Geschichte gebildet; die ganze Effikazität des modernen Menschen geht auf die Weltanschauung Johann Calvins zurück. Die lutherische Auffassung der Religion ist befremdlich flach: aus ihr oder innerhalb ihrer ist gleichwohl die tiefste Gemütskultur Europas erwachsen, und ihr Geist liegt der Musik Johann Sebastian Bachs sowohl als der großen deutschen Spekulation zugrunde. Die katholische Kirche mit ihrem Gegensatz gegen alle Selbständigkeit, mit ihrer primitiven Mythologie und ihrer Fortschrittsfeindlichkeit bedeutet noch heute die beste psychologische Bildungsanstalt, mithin die beste Schule der Selbsterkenntnis, die wir haben. Und der Brahmanismus, mit seiner wunderbaren Erkenntnistiefe, hat sich als unfähig erwiesen nicht allein das praktische Leben der Masse auch nur annähernd so günstig zu beeinflussen, wie die roheren Religionsformen des Westens, sondern er hat auch die Erkenntnis im ganzen weniger gefördert als das Luthertum. Es geht eben nicht an, bei der Beurteilung einer religiösen Idee von den empirischen Verhältnissen abzusehen, innerhalb derer sie wirken soll. Ihre Wirkungskraft hängt ab von dem Grade, in welchem sie den Willen der Menschen beeinflusst; dieser seinerseits von der prästabilierten Sympathie zwischen den religiösen Vorstellungen und den Neigungen; diese ihrerseits von dem Milieu, in dem sie aufwuchsen, und so fort. Allgemein lässt sich allenfalls das folgende sagen: wo die Geistesbildung gering, die Intensität des Wollens aber groß ist, erweisen sich primitive Vorstellungen als die besten; wo das umgekehrte Verhältnis waltet, dort sind alle Vorstellungen wirkungslos; nur wo beide auf annähernd gleich großer Höhe stehen, entscheidet der geistige Wert mehr oder weniger über die Effikazität. Auf diesem letzten Stadium befindet sich neuerdings ein Teil der europäischen Menschheit. Aber dieser Teil ist geringer, als man denkt; auch unter uns frommen den meisten primitive Vorstellungen am besten.

1 Mormonism, by B. H. Roberts, published by the Church p. 57
2 Vgl. Adolf Harnack Reden und Aufsätze II, S. 300, 302.
Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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