Schule des Rades

Hermann Keyserling

Das Reisetagebuch eines Philosophen

VIII. Amerika

Ostwärts

Nun durchschneide ich den Kontinent in eilendem Zug; in Windeshast fliegt die neue Welt an mir vorüber. Und wieder einmal erfahre ich’s: zur Auffassung des Wesentlichen ist die Zeit uns hinderlich. Die großen Linien treten desto schärfer hervor, je mehr das Einzelne verflimmert und verschwimmt.

Dem Idealzustand, dem unsere jüngste Entwickelung zustrebt, ist Amerika, trotz des vorläufigen Charakters des meisten in ihm, entschieden näher als Europa. Hierbei habe ich selbstverständlich nicht den alleskaufenkönnenden Kulturprotz im Auge, der sich selbst für die Krone der Schöpfung hält — der ist unwesentlich in jeder Hinsicht, kaum echter in seinem Gewand europäischer Bildung, als der anglisierte Hindu; sondern den hartarbeitenden, dem Erfolg im Großen nicht allzunahen kleinen Mann, auf den die demokratische Weltanschauung eigentlich zugeschnitten ist. Der ist seinem transozeanischen Genossen menschlich weit überlegen. In Amerika fehlt eben das Meiste dessen, was den in ungünstiger Lebensstellung geborenen Europäer verbittert und verringert. Hier sind die Verhältnisse so weit, dass jeder Einzelne Aussicht hat, seinen Weg zu machen, und so bestärkt wird in seinem Mut und seiner Aufrichtigkeit; hier bieten sie ihm andrerseits die harte Schule, deren jeder von Hause aus Unmündige bedarf, um das moralische Recht zur Selbstbestimmung zu erringen. Und kommt hier einer aus kleinen Anfängen hoch hinauf, so mag er zu seiner höheren Stellung ebenso reif erscheinen, wie der in ihr Geborene, weil Zurücksetzung und Furcht vor solcher vielfach die Haupthindernisse sind einer sonst naturgemäß der äußeren nachfolgenden Seelenerhebung und, umgekehrt, freudig anerkanntes echtes Verdienst das Selbstbewusstsein ähnlich beeinflusst wie ererbter Adel; denn unzweifelhaft bedeuten Klassenschranken und -vorurteile ein reines Übel überall, wo sie nicht wirklich d. h. physiologisch bestehenden Unterschieden entsprechen. Hier, wenn irgendwo, wird auf demokratischer Basis echte Kultur erblühen.

So gilt in Amerika schon in hohem Maß die Anschauung, die überall wird gelten müssen, wo die moderne Entwickelung ihrer Vollendung naht: dass alle Arbeit gleich ehrenvoll sei. Natürlich beruht dies zunächst auf force majeure, nicht auf höherer Einsicht, weshalb es nicht zu verwundern ist, dass hier andrerseits krassere Kastenvorurteile herrschen, als bei uns; aber die Konstellation der Umstände, dass jeder ganz auf sich selbst gestellt, sein Brot verdienen muss, ferner jeder der höchsten Bildung teilhaftig werden kann und jeder sich selbst als Souverän fühlt, bringt es notwendig mit sich, dass in den Augen des amerikanischen Volks die Ausfüllung einer noch so niederen Stellung das Gentlemansein nicht ausschließt, was seinerseits zur Folge hat, dass alle Arbeit geadelt und das Selbstbewusstsein des Geringsten gehoben erscheint. Damit ist der Weg zu einem Idealzustande betreten: wird er erreicht, so würde damit die Wahrheit, dass alles Äußerliche gleichgültig ist, ihre höchstmögliche Verkörperung finden. Dem Inder ist das Äußerliche in dem Sinn gleichgültig, dass ihm alle Erscheinung als gleich wertlos gilt: ersprießlicher ist unzweifelhaft, alle Erscheinung als gleich wertvoll zu beurteilen, und das ist die Richtung, in welcher die amerikanische Entwickelung sich bewegt. Beide Stellungnahmen bedeuten metaphysisch gleiches, da durch beide die empirischen Rangordnungen aufgehoben werden, aber durch letztere wird die Erscheinung sinnvoll gemacht — das Himmelreich wird auf Erden verwirklicht — während erstere sie vollends aushöhlt. Die orientalische Auffassung der Gleichgültigkeit alles Äußerlichen drückt die, welche gezwungen sind, in äußerlicher Betätigung aufzugehen, also sämtliche arbeitenden Klassen, zu sinnlosen Existenzen herab; die amerikanische ermöglicht es dem geringsten Kuli, sich als Vollmensch zu fühlen und zu betätigen. Hier, im amerikanischen Arbeitertypus, erscheint ein Fortschritt verwirklicht, der mehr als Fortschritt im üblichen Sinne ist: hier handelt es sich um ein Vorwärtsgekommensein nicht bloß im Sinn des Erfolges, sondern vor allem der Vollendungsmöglichkeit. Wenn jeder äußere Rahmen als gleich wertvoll gilt, dann ist der Beweglichkeit ihr Verhängnischarakter genommen; dann mag im Durchschreiten der Lebensordnungen dieselbe innere Bildung gewonnen werden, wie sonst nur durch Verharren in den gegebenen. Und sie wird schon erzielt. So sehr der gebildete Amerikaner noch Barbar ist, so gebildet wirkt das einfache Volk. Die Schaffner, mit denen ich hie und da Unterhaltung pflege, imponieren mir mehr, als mir irgendein Westländer seit Jahren imponiert hat.

Eine weitere Hinsicht, in welcher Amerika uns auf unserer Bahn voraus erscheint ist die, dass hier die Demokratie nicht notwendig Herrschaft der Inkompetenz bedingt. Natürlich strebt sie darnach als nach ihrem Ideal: schon brandmarken die Labour-Unions den, der mehr leistet als seine Mitarbeiter, als unfair, schon werden, wie in Europa, gleichmäßig hohe Löhne unabhängig von der Leistung gefordert, und zeitweilig wohl auch erzielt werden. Aber schwerlich wird es in der neuen Welt zu so trostlosen Dauerzuständen kommen, wie sie uns mit Sicherheit bevorstehen. Das Mächtigerwerden der niederen Volksschichten in Europa ist deshalb so unheilschwanger, weil der noch so selbstbewusst und selbstbestimmt gewordene Proletarier doch an der überkommenen Vorstellung festhält, dass die höheren Schichten verpflichtet seien, für ihn zu sorgen. Diese Vorstellung war berechtigt, solange kein freies Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern bestand, sondern ein patriarchalisches oder sonst bevormundendes; sobald der Arbeiter als selbständiger Kämpfer in die Arena tritt, entbehrt sie der Grundlage und führt, wo sie im Gesellschaftsorganismus dennoch fortbesteht, zu verhängnisvollen Folgen. Bei uns streben die Proletarier nichts Geringeres an als den Ruin aller Wohlhabenden. Offiziell tun sie das in Amerika auch, aber dort werden sie nicht viel Unheil damit anrichten, weil gerade die Vorstellung, die alles Unheil bei uns von innen her bedingt, dort fehlt: es setzt keiner als selbstverständlich voraus, dass die Wohlhabenden für die Ärmeren zu sorgen verpflichtet seien; dort besteht das Vertragsverhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer rein; dort erwartet jeder alles von sich selbst allein, und der scheinbare Klassenkampf ist in Wahrheit ein Kämpfen der Interessen. Amerika hat den ungeheuren Vorteil vor uns, dass dort die Entwickelung von vornherein individualistisch eingesetzt hat, während sie in der alten Welt nur ganz allmählich zu einer solchen wird. Jeder Auswanderer, der sich über den Ozean begab, war mit Überzeugung sich selbst der nächste; er wies es ab, für andere zu schaffen. Aber ebensosehr widerstrebte es seinem Stolz, von anderen Hilfe zu erwarten. In einem armen Lande hätte diese Grundverfassung auf die Dauer wohl zu misstrauischer Verbissenheit geführt; im überreichen Amerika entwickelte sie sich zu immer freimütigerem, optimistischerem Selbstvertrauen, so dass das Gefühl des Neides und des Ressentiments daselbst noch heute zu den Seltenheiten gehört. Der Amerikaner setzt nicht voraus, dass andere für ihn zu sorgen hätten: dieser Satz resümiert den Vorzug, den die neue Welt vor der alten hat. Nur unter dieser Voraussetzung kann freier Wettbewerb zu Gutem führen; auf dieser Grundlage allein kann eine dauerhafte Gesellschaftsordnung aufgebaut werden, in welcher alle gleiche Rechte besitzen. Denn nur, wenn jedem das Recht zugestanden wird, seinen eigenen Vorteil rücksichtslos zu wahren, kann der Herrschaft der Inkompetenz vorgebeugt werden, kann die Idee der Demokratie eine effektive Aristokratie herbeiführen.

Freilich ist das psychologische Moment, mittelst dessen allein die neue Ordnung verwirklicht werden kann, nichts anderes als der Egoismus: das erklärt den Tiefstand alles dessen in Amerika, was das Bewusstsein höherer Synthesen, als es das Individuum ist, voraussetzt. Humanität im tieferen Sinne ist unter Amerikanern selten zu finden, so wohlwollend und gutmütig und sogar hilfsbereit sie meistens sind; selten fühlt sich einer innerlich verpflichtet, einem anderen beizustehen, es sei denn, er sei Humanitätsspezialist; wer nicht zu arbeiten vermag, nun, der mag Hungers sterben. Aber es gilt zu begreifen, dass dieser Mangel die unvermeidliche vorläufige Erscheinungsform einer sich festigenden Selbstbestimmtheit bezeichnet und vom Standpunkt einer besseren Zukunft her betrachtet, menschlich wertvoller ist, als Humanitätsduselei. Eine individualistische Gesellschaftsordnung ist undenkbar auf Grundlage von Mitleidsmoral; nur dort kann sie Gutes bedeuten, wo jeder alles von sich, und nichts von anderen erwartet. Diese Grundverfassung setzt eine völlige Ummodelung der Europäerpsyche voraus und bis sie vollendet ist, werden die Schattenseiten mehr als die Lichtseiten der neuen Lage dem Beobachter auffallen. Aber hie und da ist sie schon vollendet, und dort bietet sich einem ein durchaus erfreuliches Bild. Die Menschen, welche ungebrochen durch die grausame Schule des amerikanischen Daseinskampfs hindurchkommen, sind hart und elastisch wie Stahl; sie sind innerlich gespannt, wie sonst niemand. Aber da sie alles von sich, und nichts von anderen erwarten, so geben sie, wo sie edel sind, desto lieber; so wird Humanität, bisher eine Rückversicherung, zum reinen Geschenk. Es ist nicht unmöglich, dass in Amerika, nachdem die Flegeljahre überstanden, der allzu wildwüchsige Egoismus vom Leben zurechtgestutzt ward, eine vom westlichen Standpunkt höchste Zivilisation erblühen wird, die eben nur unter diesen historischen Voraussetzungen denkbar scheint: eine schlechterdings individualistische Zivilisation, wo keiner etwas vom anderen erwartet, und dennoch alles, was er nur kann, für die Gesamtheit tut.

Hermann Keyserling
Das Reisetagebuch eines Philosophen · 1919
VIII. Amerika
© 1998- Schule des Rades
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